Evolution, Kultur und Kriminalität

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Transkript:

Evolution, Kultur und Kriminalität

Christian Laue Evolution, Kultur und Kriminalität Über den Beitrag der Evolutionstheorie zur Kriminologie 1 3

Christian Laue Universität Heidelberg Institut für Kriminologie Friedrich-Ebert-Anlage 6-10 69117 Heidelberg Deutschland laue@krimi.uni-heidelberg.de Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-642-12688-8 e-isbn 978-3-642-12689-5 DOI 10.1007/978-3-642-12689-5 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

Vorwort Der Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen des Menschen und seinem (abweichenden) Verhalten stößt in der deutschsprachigen Kriminologie auf kein großes Interesse. Bisweilen erscheint eine Beschäftigung mit Biokriminologie immer noch als ein Tabu. Dies ist sogar nachvollziehbar, nachdem der große Missbrauch der Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die starke Betonung der damaligen Kriminalbiologie zurückzuführen ist. Angebliche kriminologische Erkenntnisse dienten dazu, ganze Bevölkerungsgruppen als minderwertig und unverbesserlich zu charakterisieren, und Ziel der so begründeten Kriminalpolitik war es, diese Menschen unschädlich zu machen und auszumerzen. Insbesondere die damals populäre Auffassung vom Darwinismus schien eugenische und rassistische Maßnahmen zu rechtfertigen, ja gerade zu fordern. Aufgrund dieser Erfahrungen ist die deutschsprachige Kriminologie in der Rezeption biowissenschaftlicher Erkenntnisse äußerst zögerlich. Im Ausland legt man sich weniger Zurückhaltung auf und auch die aktuelle deutsche kriminalpolitische Diskussion in der Öffentlichkeit beruft sich auf populärwissenschaftliche Vermutungen der Krankheit und damit Unverbesserlichkeit mancher Personen und rechtfertigt damit etwa eine lebenslange Sicherungsverwahrung. Im vorliegenden Werk soll dem möglichen kriminologischen und kriminalpolitischen Ertrag der Evolutionsbiologie nachgegangen werden. Es zeigt sich dabei, dass die fatalen populärwissenschaftlichen Deutungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachgerade das absolute Gegenteil von dem darstellen, was der aktuelle Erkenntnisstand der Evolutionstheorie nahelegt. Nicht der seine eigene Stärke rücksichtslos durchsetzende Egoist entspricht dem evolutionären Menschenbild, sondern das reziprok handelnde, auf Fairness bedachte Gesellschaftsmitglied. Dies hat tiefgreifende kriminalpolitische Bedeutung, wird so doch beispielsweise der Abschreckungsdoktrin des Strafrechts weitgehend der Boden entzogen. Doktrinäre, offensiv in der Öffentlichkeit verbreitete Erkenntnisse, die bisweilen als Grundlage für frauenfeindliche und rassistische Maßnahmen verwendet werden, liefert die Evolutionspsychologie, die sich anmaßt, menschliches, insbesondere auch kriminelles Verhalten mit Ausschließlichkeitsanspruch zu erklären. Hier lauert sie wieder, die Gefahr einer verzerrten und höchst spekulativen Rezeption v

vi Vorwort der darwinschen Evolutionstheorie. Im letzten Teil der Arbeit wird die Evolutionspsychologie eingehend kritisiert. Ich danke von ganzem Herzen meinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Dieter Dölling für die Geduld, Flexibilität und Ermutigung, mit der er mir die Erstellung dieser Arbeit ermöglicht hat. Besonderen Dank schulde ich auch Prof. Dr. Dieter Hermann, der mir die Grundlagen der empirischen Sozialforschung vermittelt hat und geduldig und offen auf alle meine Fragen eingegangen ist. Allen Beschäftigten am Institut der Kriminologie möchte ich danken für ihren Beitrag zu dem dort herrschenden offenen und freundschaftlichen Klima und zu den zahlreichen Diskussionen, die ich dort führen konnte und die die Arbeit vorangetrieben haben. Besonders danken möchte ich auch Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp für die unglaublich schnelle Erstattung des Zweitgutachtens und für zahlreiche wertvolle Anregungen. Den Mitgliedern der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg möchte ich für die angesichts des Themas nicht selbstverständliche offene und überaus freundliche Annahme als Habilitationsschrift danken. Der VG Wort danke ich für die großzügige Übernahme der Veröffentlichungskosten. Last but definitiv not least möchte ich meinen Eltern sowie Annette, Bettina und Klara danken. Ohne Sie wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Daher ist sie Ihnen gewidmet. im Juli 2010 Heidelberg

Inhalt 1 Einleitung... 1 1.1 Das Verhältnis von Kriminologie und (Evolutions-)Biologie... 2 1.1.1 Die moderne Biokriminologie... 2 1.1.2 Die Bedeutung der Evolutionstheorie... 4 1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität... 5 1.2.1 Kriminologie als Verhaltenswissenschaft... 6 1.2.2 Die Biologie als Einflussfaktor auf das menschliche Verhalten... 6 1.2.3 Der darwinistische Evolutionsmechanismus als biologisches Grundgesetz... 9 1.2.4 Evolution der Kultur... 10 1.3 Evolutionspsychologie... 14 2 Kriminalität und Biologie... 17 2.1 Das Verhältnis der deutschen Kriminologie zur Biologie... 17 2.1.1 Einwände gegen die biokriminologische Rezeption... 19 2.2 Ein Beispiel biokriminologischer Forschung: Testosteron... 28 2.2.1 Untersuchungen... 30 2.2.2 Testosteronforschung als Beispiel... 35 2.3 Die holistisch-evolutionäre Perspektive... 41 2.3.1 Reduktionismus... 41 2.3.2 Ultimate und proximate Gründe... 43 2.3.3 Evolution... 46 2.4 Evolution und Kriminologie... 56 3 Evolution... 59 3.1 Vor Darwins Evolutionstheorie... 62 3.1.1 Vorneuzeitliche Vorstellungen... 63 3.1.2 Naturtheologie... 64 3.1.3 Biologie bis ins 19. Jahrhundert... 66 3.1.4 Form und Funktion... 70 3.1.5 Die transformationelle Evolutionstheorie von Lamarck... 73 vii

viii Inhalt 3.2 Charles Darwin und seine Evolutionstheorie... 79 3.2.1 Charles Darwin... 79 3.2.2 Darwins Evolutionstheorie... 80 3.2.3 Beobachtbare Evolution... 99 3.2.4 Genetische Drift... 101 3.3 Adaptionismus... 102 3.3.1 Anpassung... 104 3.3.2 Funktion... 108 3.3.3 Die Adaptionismus-Debatte... 113 3.3.4 Form und Funktion nach Darwin... 124 3.4 Die Einheit der Selektion... 132 3.4.1 Individualselektion... 132 3.4.2 Genselektion... 133 3.4.3 Gruppenselektion... 142 3.5 Sexuelle Selektion... 148 3.5.1 Sexuelle Fortpflanzung... 148 3.5.2 Sexuelle Selektion... 150 4 Die Evolution der Kooperation... 157 4.1 Altruismus und soziale Kooperation als Problem der Evolution... 157 4.1.1 Altruismus und verwandte Erscheinungen... 158 4.1.2 Die genetische Problematik... 162 4.2 Verwandtenselektion... 165 4.2.1 Hamiltons Regel... 165 4.2.2 Kritik an Hamiltons Regel... 168 4.3 Reziproker Altruismus... 172 4.3.1 Grundidee... 172 4.3.2 Reziproker Altruismus bei Menschen... 176 4.4 Spieltheoretische Erklärungen für die Entstehung sozialen Verhaltens... 181 4.4.1 Die Grundidee der Spieltheorie... 181 4.4.2 Evolutionäre Spieltheorie... 182 4.4.3 Die evolutionär stabile Strategie (ESS)... 186 4.4.4 Falken Tauben... 187 4.4.5 Das erweiterte Falke-Taube-Spiel... 191 4.4.6 Asymmetrische Spiele... 192 4.4.7 Das Gefangenendilemma... 195 4.4.8 Axelrods Spiele... 199 4.4.9 Fazit der biologischen Erklärungsmodelle... 207 4.5 Anregungen aus den experimentellen Wirtschaftswissenschaften... 208 4.5.1 Der rationale Akteur... 210 4.5.2 Spieltheorie Indirekte Reziprozität... 212 4.5.3 Experimente Strenge Reziprozität... 217 4.5.4 Public Goods-Experimente... 220

Inhalt ix 4.5.5 Schädliche Wirkungen der Strafe... 226 4.5.6 Verdrängungseffekte... 229 4.5.7 Evolutionäre Grundlagen... 237 4.6 Fazit... 242 4.6.1 Altruismus... 242 4.6.2 Die besondere Evolution des Menschen... 243 4.6.3 Konventionelle vs. reziproke Theorie... 247 4.7 Reziprozität, Kriminologie und Strafrecht... 250 4.7.1 Das evolutionär begründete Menschenbild und die Kriminologie... 250 4.7.2 Prävention... 258 4.7.3 Kommunale Kriminalprävention als Alternative... 273 4.7.4 Strafe... 278 4.7.5 Wirtschaftsstrafrecht/Wirtschaftskriminologie... 281 4.7.6 Fazit... 301 4.8 Die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Frauen und Männern... 302 4.8.1 Männer- und Frauenkriminalität aus kriminologischer Sicht... 303 4.8.2 Die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung aus evolutionsbiologischer Sicht... 314 5 Evolutionspsychologie... 323 5.1 Die Wissenschaften vom Verhalten... 324 5.1.1 Humanverhaltenswissenschaften bis 1975... 324 5.1.2 Soziobiologie... 327 5.2 Evolutionspsychologie... 332 5.2.1 Begriff und Bedeutung... 332 5.2.2 Allgemeiner Rahmen... 334 5.3 Evolutionspsychologische Thesen zu ausgewählten Themen... 359 5.3.1 Gewalt allgemein... 360 5.3.2 Tötungskriminalität Männer gegen Männer... 362 5.3.3 Tötungskriminalität Gewalt von Männern gegen Frauen... 369 5.3.4 Vergewaltigung, sexuelle Gewalt... 377 5.4 Kritische Würdigung der Evolutionspsychologie... 396 5.4.1 Die empirische Basis... 396 5.4.2 Die Haltung gegenüber den Sozialwissenschaften... 399 5.4.3 Strikte Modularität des Geistes?... 402 5.4.4 Super-Adaptionismus... 412 5.5 Rassismus und Stigmatisierung... 425 5.5.1 Evolution und Rassismus... 425 5.5.2 Kriminalanthropologie Cesare Lombroso... 431 5.5.3 Evolutionspsychologie und Rassismus... 436

x Inhalt 6 Schlussbetrachtung... 451 Liste der Universalien der Menschheit... 457 Glossar... 467 Literatur... 471

Kapitel 1 Einleitung Gegensätzlicher hätte die Entwicklung nicht sein können: Während im 20. Jahrhundert die Naturwissenschaften und insbesondere die Biowissenschaften einen enormen Erkenntnisgewinn erlebten, hat sich die vor allem deutschsprachige Kriminologie von diesen Wissenschaften in einem Befreiungsakt bewusst abgesondert. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre war Kriminologie vor allem Kriminalbiologie. Dann fand die konsequente Loslösung von den Biowissenschaften statt. Gerade zu dieser Zeit, in der Mitte des Jahrhunderts, begann aber eine rasante Entwicklung der Biowissenschaften; viele der neu gewonnenen Erkenntnisse können auch ein neues Licht auf das Verhalten des Menschen werfen, auch auf sein abweichendes Verhalten: die Synthese zwischen Evolutionsbiologie und Populationsgenetik, die Entdeckung der DNA als Träger der biologischen Information, die enormen Fortschritte der Molekularbiologie und der Entwicklungsbiologie und die Aufschlüsselung des menschlichen Genoms. Technischer Fortschritt hat neue Verfahren ermöglicht, die die Vorgänge im Innern des lebenden Organismus beobachtbar machen und so einen Eindruck vermitteln zum Beispiel von der Arbeitsweise des Gehirns als der Schaltzentrale für alles menschliche Verhalten. Die Diskussion um die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen ist dadurch neu entflammt. Evolutionsbiologie, Paläoanthropologie sowie Soziobiologie und zuletzt Evolutionspsychologie stellen den Menschen in den großen Zusammenhang der Evolution aller Organismen und versuchen, Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung menschlichen Verhaltens zu formulieren. Parallel zu dieser Erfolgsgeschichte der Biowissenschaften hat die Kriminologie versucht, alles Biologische aus ihrem Lehrgebäude zu eliminieren. Es herrscht von den späten 1950er Jahren bis heute bei zahlreichen einflussreichen Kriminologen eine dezidiert antibiologistische Grundstimmung vor. Nicht nur wurden neue biowissenschaftliche Befunde nicht zur Kenntnis genommen oder gar mit den gesicherten kriminalsoziologischen Erkenntnissen in Einklang zu bringen versucht. Darüber hinaus wurde die Biologie als Bedrohung für die Kriminologie angesehen. Der Missbrauch der aus heutiger Sicht primitiv anmutenden Kriminalbiologie vor 1945 Verbrechen als Schicksal, Unschädlichmachung, Eugenik, Rassismus wird nicht selten als logische und unausweichliche Folge der biologisch orientierten C. Laue, Evolution, Kultur und Kriminalität, DOI 10.1007/978-3-642-12689-5_1, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 1

2 1 Einleitung Beschäftigung mit Kriminalität interpretiert. Das schreckt viele Kriminologen von der Rezeption biologischer Ansätze zur Erklärung abweichenden Verhaltens ab. Eine solche forschungsethisch begründete Zurückhaltung wäre nicht zu kritisieren, wenn sie nicht Anderen das Feld überließe. Insbesondere die Evolutionspsychologie attackiert offensiv das sozialwissenschaftliche Deutungsvorrecht für Kriminalität und behauptet, Mord, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und Betrug seien genetische Überreste unserer prä- und frühmenschlichen Zeit. In der Sprache der Wissenschaft wird die Existenz eines Mördergens oder einer Vergewaltigungsadaption begründet. Die Überzeugung, kriminelles Verhalten habe biologische Ursachen, es sei daher determiniert und unabänderlich die Prämissen der alten Kriminalbiologie, scheint auch in der Öffentlichkeit noch immer weitgehend akzeptiert. Nicht selten werden die Täter besonders spektakulärer Straftaten als krank und unverbesserlich bezeichnet, und das lebenslange Wegsperren aus Sicherungsgründen ist die logische kriminalpolitische Konsequenz. Diese Schatten aus der Vergangenheit Zerrbilder eines Zusammenhangs von Biologie und Kriminalität können nur da in reale Kriminalpolitik umgesetzt werden, wo die Kriminologie ihrer Beratungsfunktion nicht nachkommen kann, weil sie sich für diese Thematik nicht interessiert. Die Zurückhaltung der Kriminologie bewirkt somit möglicherweise genau das Gegenteil des Gewollten: Statt dem Missbrauch biologischer Fehldeutungen entgegenzuwirken, schottet sie sich ab. Dadurch kann sie eine potenziell inhumane Kriminalpolitik nicht verhindern. Die vorliegende Arbeit basiert auf der Überzeugung, dass die Kriminologie die neueren Erkenntnisse der Biowissenschaften zur Kenntnis nehmen und darüber hinaus in der Lage sein muss, diese kritisch zu hinterfragen. 1.1 Das Verhältnis von Kriminologie und (Evolutions-)Biologie Einer wesentlichen Unterscheidung innerhalb der Biowissenschaften folgend kann man auch eine biowissenschaftlich orientierte Kriminologie in zwei große Forschungspfade unterteilen: den einen Pfad den der funktionalen Biologie beschreitet die mittlerweile in einer kriminologischen Nische relativ gut fundierte moderne Biokriminologie, den anderen Pfad eine vom biologischen Grundgesetz, der darwinistischen Evolutionstheorie, geleitete, bisher nur vereinzelt von der Kriminologie rezipierte Forschungsrichtung. Dieser zweite Pfad steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. 1.1.1 Die moderne Biokriminologie Insbesondere im angloamerikanischen Raum und in Skandinavien werden die Zusammenhänge zwischen bestimmten körperlichen Merkmalen und abweichendem Verhalten systematisch erforscht. Im Zentrum des Interesses stehen dabei Hormone

1.1 Das Verhältnis von Kriminologie und (Evolutions-)Biologie 3 wie Testosteron, Neurotransmitter wie Serotonin und Dopamin, psychophysiologische Besonderheiten wie eine erhöhte Reizschwelle oder neurobiologische Auffälligkeiten. Die Designs einer solchen biokriminologischen Forschung folgen überwiegend dem gleichen Muster: Die unabhängige Variable bilden biologisch-organische Merkmale wie etwa der Testosteronspiegel im Körper der Probanden. Als abhängige Variable dient deren Verhalten, insbesondere Gewalt und Kriminalität. Es werden statistische Zusammenhänge gesucht, die mutmaßliche kausale Wirkungszusammenhänge belegen sollen. Beim Testosteron zum Beispiel vermutet man einen Zusammenhang mit Gewalt und Aggression, denn erstens zeigen Tiere, denen man versuchsweise höhere Dosen dieses Hormons verabreicht, eine deutlich erhöhte Aggression, 1 und zweitens produzieren Männer sehr viel mehr Testosteron als Frauen und erweisen sich gleichzeitig als das deutlich mehr zu Kriminalität und insbesondere Gewaltkriminalität neigende Geschlecht. So liegt die Vermutung nahe, Testosteron fördere Gewalt und damit auch Kriminalität. Am Ende des wissenschaftlichen Untersuchungsprozesses der modernen Biokriminologie soll die Erkenntnis liegen, dass bestimmte Varianzen eines körperlichen Merkmals mit entsprechenden Varianzen in der Gewalt- oder Kriminalitätsneigung korrespondieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind bisher uneinheitlich: Es wird immer deutlicher, dass es keine so einfachen Wirkungszusammenhänge zwischen biologischen Merkmalen und menschlichem Verhalten gibt, wie es zu Anfang vermutet wurde. Ein erhöhter Testosteronspiegel korreliert nicht immer und unabhängig von den herrschenden Umweltbedingungen mit einer erhöhten Gewaltneigung. 2 Die Zusammenhänge erweisen sich als komplizierter und bedürfen in jedem Bereich noch weiterer Forschung. Diese Forschung muss von biowissenschaftlichen Spezialisten durchgeführt werden; die (ganz überwiegend nicht biowissenschaftlich ausgebildeten) Kriminologen können nur anregend oder beratend tätig werden, die Ergebnisse rezipieren und in das Erkenntnisgebäude der bisherigen, und das heißt: sozialwissenschaftlich orientierten, Kriminologie einbauen. 3 Dies wird in letzter Zeit durch eine steigende Zahl biokriminologischer Gesamtdarstellungen erleichtert. 4 1 Siehe bereits Beeman, 1947. 2 Siehe dazu unten Kap. 2.2. 3 Die Notwendigkeit der Rezeption moderner biokriminologischer Erkenntnisse ergibt sich bereits daraus, dass mutmaßliche und später möglicherweise belegte Zusammenhänge zwischen körperlichen Merkmalen und einer (kriminellen) Verhaltensdisposition zu bestimmten kriminalpolitischen Präventions- und Kontrollmaßnahmen verlocken: Es liegt nahe, Menschen mit als kriminogen erkannten körperlichen Merkmalen unter verstärkte Beobachtung zu stellen. So wurde zum Beispiel in den 1960er Jahren vermutet, dass ein zusätzliches Y-Chromosom bei Männern zu einer erhöhten Gewaltneigung führe, siehe Jarvik et al. 1973, S. 679 ff. Dieser heute als falsch erkannte Zusammenhang brachte in den 1970er Jahren Bostoner Ärzte dazu, neugeborene Jungen auf das Vorliegen dieser Chromosomenaberration zu untersuchen und ihre Entwicklung in einer Längsschnittstudie zu verfolgen. Diese Stigmatisierung dürfte durch den Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wohl tatsächlich zu Verhaltensauffälligkeiten der erfassten Jungen geführt haben, siehe Gould, 1988, S. 153 f. 4 Siehe zum Beispiel die bisher einzige deutschsprachige Gesamtdarstellung von Hohlfeld, 2002, bzw. die englischsprachigen Rowe, 2002, und Raine, 1993.

4 1 Einleitung 1.1.2 Die Bedeutung der Evolutionstheorie Grundsätzlich lassen sich in den Biowissenschaften zwei verschiedene Wirkungsbeziehungen zwischen organischen Zuständen und Lebensäußerungen herstellen: zum einen die Wirkung proximater Ursachen, zum anderen die der ultimaten Ursachen. 5 In den Biowissenschaften fragt die funktionale Biologie nach den proximaten Ursachen mit der Frage Wie?. Man kann um das gewählte Beispiel weiter zu verfolgen fragen: Wie beeinflusst Testosteron das menschliche Verhalten? Wie erzeugt es etwa Gewalt? Proximate Ursachen bezeichnen unmittelbar wirkende Aktionssequenzen zwischen einem bestimmten körperlichen Zustand einem erhöhten Testosteronspiegel und einer bestimmten Lebensäußerung einem erhöhten Gewaltniveau. Die proximaten Wirkungszusammenhänge werden, wie erwähnt, in der modernen Biokriminologie intensiv erforscht. Die Biowissenschaften ermöglichen aber noch eine andere Kategorie von Fragen, die Suche nach ganz anderen, so genannten ultimaten Ursachen: Warum produzieren Männer mehr Testosteron als Frauen? Oder mit kriminologischem Bezug : Warum neigen Männer mehr zu Gewalt und Kriminalität als Frauen? Die Frage nach den ultimaten Ursachen lautet somit stets: Warum?. Ziel der Forschung ist es hierbei herauszufinden, wie sich ein biologisches Merkmal entwickeln konnte. Grundsätzlich ist in der Tierwelt jedes Verhalten naturgemäß ein biologisches Merkmal. Wenn man auch menschliches Verhalten, zum Beispiel Kriminalität, als ein von der Biologie zumindest mitgeprägtes Merkmal ansieht, 6 dann drängt sich auch in diesem Bereich die Frage nach den ultimaten Ursachen auf: Warum bestehlen sich Menschen gegenseitig, warum verletzen und töten sie sich? Welche biologischen Faktoren können das Vorkommen dieser Verhaltensweisen erklären? Ziel der Erforschung von ultimaten Ursachen ist die Rekonstruktion historischer Prozesse und funktionaler Zusammenhänge. Gefragt wird, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck sich ein biologisches Merkmal gebildet hat. Die Beantwortung dieser Fragen nach den ultimaten Ursachen ist grundsätzlich die Domäne der Evolutionsbiologie. Sie sieht jedes nicht krankhafte Merkmal eines Lebewesens als das Resultat eines sehr langen Entwicklungsprozesses, der von den Mechanismen der darwinistischen Evolution bestimmt wurde. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den ultimaten Ursachen der Kriminalität bzw. ganz allgemein mit der Frage, ob die moderne Evolutionstheorie überhaupt etwas zur Kriminologie beitragen kann. Dies geschieht aus mehreren Gründen: Zum einen wird der derzeitigen deutschsprachigen Kriminologie die Rezeption der in letzter Zeit stark anwachsenden Forschungsergebnisse über die ultimaten biologischen Ursachen von Kriminalität nur ganz vereinzelt 7 und noch nie im Zusammenhang ermöglicht. Während die Befunde der modernen Biokrimi- 5 Siehe dazu Mayr, 1961. 6 Diese Prämisse wird in der modernen Kriminologie gerade zum Teil vehement abgelehnt, s. etwa Kunz, 2004, 18 Rn. 23 f., Albrecht, 2005, 7C.I sowie auch Kap. 2.1. 7 Siehe etwa Fetchenhauer, 2006; Ellis u. Walsh, 1997; Daly u. Wilson, 1997.

1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität 5 nologie die Erforschung der proximaten Ursachen von Kriminalität allmählich wieder Zugang in die Lehrbücher der Kriminologie finden, fehlt eine kritische Darstellung zu den möglichen ultimaten Ursachen bisher völlig. Zum anderen werden, insbesondere durch die neu entstandene Evolutionspsychologie, ultimate Ursachen für einzelne kriminelle Verhaltensweisen benannt und daraus auch weitreichende kriminalpolitische Schlussfolgerungen gezogen. So behaupten einige Evolutionspsychologen etwa, Vergewaltigung sei eine evolutionsbedingte Anpassung mancher Männer; ihr sei zum einen dadurch zu begegnen, dass diese Männer entweder kastriert oder konsequent weggesperrt werden, zum anderen dadurch, dass jüngere Frauen darüber aufgeklärt werden, dass attraktive Kleidung die Gefahr eines gewaltsamen Sexualdelikts erhöhe. 8 Solche Schlussfolgerungen stehen im Gegensatz zu den Präventionsvorschlägen der sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie, und die Argumentationen erinnern an die kriminalpolitischen Maßnahmen, die von der erstmaligen Berücksichtigung (verzerrter sozial)darwinistischer Gedanken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gefördert wurden. Dabei sind die historischen Erfahrungen durchaus ernst zu nehmen. Ein gewichtiges Argument gegen die Beschäftigung mit der Verbindung Darwinismus/Kriminalität ist deren Missbrauch. Dieser Missbrauch äußerte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Integration offen eugenischer und rassistischer Gedanken und in der Abstempelung von Menschen als minderwertig und unverbesserlich. Die Konsequenz war eine Kriminalpolitik, die auf Ausmerzung basierte. Die Verletzung von Menschenrechten zum vermeintlichen Wohle des Volksganzen wurde mit dem angeblich auch in und zwischen den Gesellschaften tobenden Kampf ums Dasein legitimiert, dem sich auch das Strafrecht und die Kriminologie unterzuordnen hatten. 9 Es bleibt zu fragen, ob Darwinismus und Kriminologie überhaupt zu vereinbaren sind, ohne diese Assoziationen zu wecken. Ein Anliegen dieser Arbeit ist es auch zu untersuchen, ob die enormen Fortschritte der Evolutionstheorie in den letzten Jahrzehnten das schlechte Ansehen des Darwinismus innerhalb der Kriminologie revidieren können und ob man aus diesen Fortschritten überhaupt einen Nutzen für die wissenschaftliche Behandlung der Kriminalität ziehen kann. 1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität Notwendig ist dazu das Einnehmen der evolutionär-darwinistischen Perspektive bei der Betrachtung der Kriminalität. Diese Perspektive erscheint für die Kriminologie nur dann ertragreich, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind: 8 Siehe Thornhill u. Palmer, 2000, S. 164 ff., 180 f. 9 Exemplarisch Mezger, 1942, S. 78, 115 f., 240.

6 1 Einleitung 1. Der Gegenstand der Kriminologie ist (auch) menschliches Verhalten. 2. Menschliches Verhalten, somit auch kriminelles oder normtreues Verhalten, ist nicht nur ein Kulturprodukt, sondern auch von biologischen Faktoren beeinflusst. 3. Die Evolutionstheorie benennt das grundlegende Gesetz der Durchsetzung und Erhaltung biologischer Merkmale, also auch des menschlichen Verhaltens einschließlich Kriminalität, so man sie als biologische Merkmale versteht. 4. Die Evolution hat noch immer Einfluss auf menschliche Verhaltensmerkmale, ist also nicht vollständig von Kultur überdeckt bzw. die menschliche Kultur ist selbst durch die biologische Evolution beeinflusst. 1.2.1 Kriminologie als Verhaltenswissenschaft Voraussetzung für die Untersuchung der Kriminalität unter dem Blickwinkel der Biologie ist zunächst, dass man Kriminalität als objektiv erkennbares menschliches Verhalten ansieht. Dies ist in der Kriminologie keineswegs unumstritten. Der sog. interaktionistische Ansatz oder labeling approach verweist darauf, dass menschliches Handeln nicht von sich aus kriminell sei, sondern dass diese Deutung erst durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle in einem Zuschreibungsprozess geschehe. 10 Wenn ein Mensch einem anderen eine Sache wegnimmt, so ist dies erst dann ein Diebstahl, wenn Gesetze und Justiz dieses Verhalten als kriminell etikettieren. Das Kriminelle einer Handlung liege somit nicht in dieser selbst, sondern in einer Bewertung durch Kontrollinstanzen. Wenn man Kriminalität erforsche, müsse man daher nicht das Verhalten von Menschen untersuchen und zu erklären versuchen, sondern das Wirken der Instanzen der formellen Sozialkontrolle. Eine ätiologische, das heißt eine nach objektiven Ursachen für das menschliche Verhalten forschende Kriminologie wird von diesem Ansatz abgelehnt. Doch ist dieser Standpunkt in der aktuellen Kriminologie nicht herrschend. Kriminalität wird überwiegend als menschliches Verhalten angesehen, für das es objektive Ursachen gibt. Kriminologie ist nach dieser Sichtweise vor allem eine Verhaltenswissenschaft. 11 1.2.2 Die Biologie als Einflussfaktor auf das menschliche Verhalten Für die Erklärung menschlichen Verhaltens gibt es grundsätzlich drei Kausalfaktoren: Kultur, Gene und Umwelt. Verschiedene Verhaltenswissenschaften 10 So etwa Sack, 1978, S. 267 ff.; Albrecht, 2005, 3 III 7. 11 Siehe nur Kaiser, 1996, 1 Rn. 1.

1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität 7 stellen jeweils unterschiedliche Faktoren in den Mittelpunkt. Kulturanthropologie und Soziologie und damit auch die heute sozialwissenschaftlich dominierte Kriminologie betonen den Primat der kulturell tradierten Strukturen. Dabei werden auch die aktuellen Umweltbedingungen als Konstrukt der Kultur interpretiert und die genetischen Anlagen gelten als durch Kultur überschrieben oder von ihr abgelöst. 12 Das menschliche Verhalten und somit auch die Kriminalität sind nach dieser Sicht vor allem ein Kulturprodukt; den biologisch-genetischen Faktoren kommt dabei kaum Bedeutung zu. Die angemessene Methodik zur Erklärung menschlicher Verhaltensphänomene bilden daher alleine die Regeln der Kultur- bzw. Sozialwissenschaften. Der Biologie wird die Deutungsrelevanz abgestritten. 13 Im Gegenteil besteht sogar eine Tendenz, auch die Biologie des Menschen als ein weitgehend sozial konstruiertes Phänomen anzusehen. 14 Die Evolutionsbiologie nimmt den Gegenstandpunkt dazu ein. Für sie, als Naturwissenschaft, ist die Welt ein physikalisches Phänomen, das sich nur mit den Naturgesetzen erklären lässt. Dies gilt auch für alle Lebensäußerungen und damit für das menschliche Verhalten, einschließlich der Kriminalität. Sie geht davon aus, dass sich das Leben auf der Erde vor knapp 4 Milliarden Jahren in der Form sich selbst reproduzierender Moleküle gebildet hat. Ab diesem Zeitpunkt galt der darwinistische Evolutionsmechanismus als biologisches Grundgesetz. Alles, was daraus entstanden ist, Pflanzen, Tiere und auch der Mensch, ist auf diesen Evolutionsmechanismus zurückzuführen. Es gab nach dieser Ansicht keinen göttlichen Schöpfungsakt, der außerhalb der naturgesetzlichen Wirkungen steht. 15 Es gab und gibt auch keine menschliche Kultur, die außerhalb der physikalischen Realität steht. Stattdessen ist auch das, was wir als Kultur bezeichnen, ein Produkt der Biologie und letztlich des Evolutionsgesetzes. Kultur gilt als eine emergente Wirkung der 12 Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350. 13 Siehe für die Kriminologie z. B. Albrecht, 2005, 7 C.I; Kunz, 2004, 18 Rn. 23 f.; Sack, 1978, S. 207. 14 So, wenn betont wird, dass z. B. die frühkindliche neuronale Verschaltung des Gehirns von den Lebens- und Erfahrungsumständen einer jeden Person abhängig und damit kulturell geprägt ist. Dies bezeichnet die Soziologisierung des Biologischen, siehe dazu Kreissl, 2005, S. 308 ff. 15 Dies bedeutet nicht, dass Evolutionsforscher oder Naturwissenschaftler Atheisten sein müssen. Ein Beispiel für die Synthese von Evolution und christlichem Glauben bietet der Paläontologe und Evolutionsforscher Simon Conway Morris, der sich gegen das Regieren des Zufalls in der Evolution und insbesondere bei der Entwicklung des Menschen richtet, siehe Conway Morris, DIE ZEIT 2004, http://www.zeit.de/2004/35/morris-interview?page=all. Nach seiner Vorstellung ist die darwinistische Evolution der Mechanismus, mit dem eine schon im Urknall angelegte, planvolle Entwicklung des Lebens abläuft. Grundlegend anders freilich Dawkins, 2007. Zum Verhältnis von christlichem Glauben und Evolutionstheorie siehe Kutschera, 2006, S. 262 ff.

8 1 Einleitung natürlichen Sozialität der Spezies Mensch 16 und damit als ein Umweltfaktor neben anderen. 17 Zwischen diesen Extremstandpunkten stehen die Ökonomie und der rational choice-ansatz. Sie betonen die Wichtigkeit der jeweils herrschenden Umweltbedingungen und sehen darin den Menschen als rational und selbstbezogen handelndes Wesen agieren. Diese idealtypisch menschlichen Eigenschaften werden dabei durchaus als Resultat der evolutionären Entwicklung angesehen: 18 Der darwinistische Mechanismus des survival of the fittest begünstigt Organismen, die ihre Fitness im Kampf ums Dasein maximieren können, und so ist es nur konsequent, dass die genetischen Anlagen des heutigen Menschen als Produkte eines viele Millionen Jahre dauernden Evolutionsprozesses auf Fitnessmaximierungsprogramme 19 reduziert werden. Dies bedeutet, dass das Idealbild des homo oeconomicus durchaus biologisch geprägt ist. Auch hier stellt sich Kultur als ein Umweltfaktor der relevanten Entscheidungssituation neben anderen dar. Diese drei Sichtweisen des Kulturalismus, Biologismus und Rationalismus stellen idealtypische Extremstandpunkte dar, die in keinem dieser Wissenschaftsbereiche in reiner Form vertreten werden. Die Soziologie leugnet nicht, dass viele menschliche Verhaltensweisen der biologischen Ausstattung des Menschen geschuldet sind, eine evolutionsbiologisch geprägte Verhaltenswissenschaft wie die Soziobiologie verkennt nicht, dass menschliches Verhalten von kulturell geprägten Umweltfaktoren abhängig ist, und der homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften stellt ein idealtypisches Menschenmodell dar, das in der Realität kaum anzutreffen ist. Doch liegt allen drei verhaltenswissenschaftlichen Bereichen ein bestimmtes Menschenbild zu Grunde, von dem nur in Teilbereichen abgewichen wird und das Methodologie und Interessenschwerpunkte der einzelnen Disziplinen prägt. Ein grundsätzlich darwinistischer Standpunkt sagt noch nichts darüber aus, in welchem Maße ein bestimmtes Verhalten als evolutionsbedingtes Naturprodukt oder aber als Produkt der menschlichen Kultur angesehen wird. Jeder Darwinist 16 Das Konzept der Emergenz geht nach Mayr, 2000, S. 42 ff., davon aus, dass in einem strukturierten System auf höheren Integrationsebenen neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Kenntnis der Bestandteile niedrigerer Ebenen ableiten lassen. Dieses Konzept spielt in zahlreichen Wissenschaften eine wichtige Rolle und ist am leichtesten zugänglich in der Chemie: Wasser, das als H 2 O aus den Atomen Wasserstoff und Sauerstoff besteht, hat ganz andere Eigenschaften als die beiden Ausgangsstoffe und auch andere, als sich aus der Kombination der beiden Stoffe vorhersagen ließe. Das System entwickelt eine Eigendynamik. Dies gilt auch für Systembildungen in der Soziologie, bei der die Addition der Eigenschaften der Mikroebene (Individuum) nicht identisch ist mit den Eigenschaften der Makroebene (Gesellschaft). Für die Kultur bedeutet dies, dass sie andere Eigenschaften und Entwicklungsrichtungen generiert als sich aus den Eigenschaften der die Kultur bildenden Individuen voraussagen ließe. 17 Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350. 18 Siehe dazu Güth u. Kliemt, 2006, S. 71 ff. Die Übertragung eines der biologischen Evolution nachgebildeten Selektionsmechanismus auf die Konkurrenz von Wirtschaftsunternehmen geht zurück auf Alchian, 1950, S. 213 ff. Dabei setzen sich nur die Unternehmen durch, die sich optimal verhalten. 19 Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350.

1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität 9 weiß, dass es kulturabhängiges Verhalten gibt, genau so wie jeder Sozialwissenschaftler weiß, dass es biologisch geprägtes Verhalten gibt. In beiden Gruppen gibt es ein gewisses Spektrum bei der Verteilung der Einflussfaktoren. Beide Gruppen unterscheiden sich aber in der Schwerpunktsetzung und der Bedeutungszuteilung. So wird in der sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie Vergewaltigung ganz überwiegend als eine von sozialen Faktoren abhängige Verhaltensweise angesehen, 20 von den meisten Evolutionspsychologen dagegen als biologisches Verhalten. 21 Auf den ersten Blick gilt ein Verhalten immer dann als kulturell geprägt, wenn es in verschiedenen Gesellschaften oder Epochen variiert: Das Zusammenleben von Mann und Frau dürfte in jeder Gesellschaft zu finden sein; es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um ein biologisch geprägtes Phänomen handelt. Eheformen dagegen unterscheiden sich etwa noch heute in verschiedenen Rechtssystemen; daraus ist zu schließen, dass die Form des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau kulturabhängig ist. Diese Unterscheidung gilt grundsätzlich auch für kriminelle Handlungen. Dabei muss allerdings auch noch die soziale Bewertung berücksichtigt werden. Mord dürfte in allen Gesellschaften als verwerflich eingestuft werden, ebenso Körperverletzung, Vergewaltigung, Brandstiftung und Diebstahl und ähnliche Delikte des Kernstrafrechts. Allgemein beschäftigen sich evolutionstheoretische Verhaltenswissenschaftler überwiegend mit Phänomenen, die als menschliche Universalien bezeichnet werden können. Handlungsweisen und auch Bewertungen, die bei allen Menschen in übereinstimmender Form zu finden sind, sind eher der evolutionsbedingten Natur des Menschen zuzuschreiben als einer kulturellen Prägung. Dies ist allerdings nicht mehr als eine erste Faustregel, wie später noch ausführlich zu behandeln sein wird. 22 1.2.3 Der darwinistische Evolutionsmechanismus als biologisches Grundgesetz Die Evolutionstheorie, die 1859 von Charles Darwin formuliert wurde, gilt als das biologische Grundgesetz. Der viel zitierte Satz von Dobzhansky: Nichts in der 20 Siehe etwa die Typisierung und Definition bei Kaiser, 1996, 64 Rn. 2, wonach sich Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in die Grundform der Sexualdelikte des unangepassten Handlungsmodus fassen lassen: Hierher gehören die Vergewaltigung und die sexuelle Nötigung, bei denen weder im Triebziel noch im Triebobjekt von sozial anerkannten Verhaltensmustern abgewichen wird, bei welchen vielmehr die gesellschaftlich normierten Grenzen der Zielverfolgung überschritten werden. 21 Thornhill u. Palmer, 2000, S. 165 f.: Rape, like any other behavior of living things, is biological. 22 Siehe auch Dennett, 1997, S. 683 ff.

10 1 Einleitung Biologie macht Sinn, außer im Lichte der Evolution 23 drückt die überragende Bedeutung des Darwinismus für jede biowissenschaftliche Forschung aus: Jedes biologische Phänomen muss mit den Vorgaben der Evolutionstheorie vereinbar sein. Dies gilt auch für die Beurteilung menschlichen Verhaltens. Wenn ein bestimmtes Verhaltensmerkmal ein biologisches Phänomen ist, dann muss es auch durch den Mechanismus der darwinistischen Evolution erklärbar sein. Wenn es das nicht ist, haben die Sozialwissenschaften mit dem Paradigma der sozio-kulturellen Deutung menschlichen Sozialverhaltens die besseren Argumente. So kann man zwar, um das bereits angeführte Beispiel nochmals aufzunehmen, die Tatsache des Zusammenlebens von Mann und Frau nach den Regeln der darwinistischen Evolution nachvollziehen und somit als biologisch bedingt interpretieren, nicht aber die unterschiedlichen Eheformen in den verschiedenen Gesellschaften und Zeitepochen. Dass Mann und Frau eine Gemeinschaft bilden, ist daher mit biologischen Faktoren zu erklären; warum diese Gemeinschaft aber ganz unterschiedliche Formen annehmen kann, fällt, wie bereits erwähnt, in die Domäne der Kulturwissenschaften. 1.2.4 Evolution der Kultur 1.2.4.1 Kriminalität Dieses letztgenannte Beispiel ist so offensichtlich, dass es sowohl bei Sozial- als auch bei Biowissenschaftlern kaum umstritten sein dürfte. Sehr viel schwieriger ist die Einschätzung der Kriminalität. Hier eröffnet sich ein grundlegendes und in letzter Zeit die evolutionstheoretischen Diskussionen dominierendes Problem. Denn ob Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung oder Diebstahl der biologisch oder der sozio-kulturell geprägten Sphäre zuzuordnen sind, scheint nach einer geistesgeschichtlichen Tradition und vor allem nach einem ersten Blick auf den darwinistischen Evolutionsentwurf klar. Die geistesgeschichtliche Tradition meint die Entwürfe eines Menschenbildes, die die echte Menschwerdung in einer Befreiung aus einem vorgeschichtlichen Naturzustand sehen. Am deutlichsten bei Thomas Hobbes (1588 1679) war der Mensch in seinem Urzustand ein ungezügeltes, egoistisches Wesen. 24 Der Blick auf die darwinistische Evolutionstheorie scheint dieses Bild zu bestätigen: Tiere und Pflanzen stehen in einem permanenten (natürlich unbewussten) Kampf auf Leben und Tod. Wer seinen Konkurrenten aussticht, überlebt und pflanzt sich fort, wobei die dafür notwendige egoistische Rücksichtslosigkeit an die Nachkommen übertragen wird. Dieses Verhalten scheint genau dem zu entsprechen, was wir heute nach einem groben Raster als kriminell bezeichnen: sozialschädlicher Eigennutz. Und wenn es nur die Grundregel der biologischen Evolution, die natürliche Selektion, 23 Dobzhansky, 1973. 24 Siehe dazu Dennett, 1997, S. 635 ff.

1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität 11 gäbe, gäbe es, nach dieser Auffassung, auf Dauer nur rücksichtslose Egoisten, die einer Raubtier-Ethik 25 folgen (müssen). Diese geistesgeschichtliche Tradition folgert daraus: Erst die Erfindung der spezifisch menschlichen Kultur und Moral haben es uns ermöglicht, diesen Zustand des permanenten Kampfes Aller gegen Alle zu überwinden. Der Mensch konnte sich von den Zwängen der Natur und damit den Vorgaben des darwinistischen Evolutionsgesetzes befreien, indem er den Naturzustand verließ. Dies bestätigt das im Abendland dominierende Bild: Der Mensch ist zwar auch ein biologischer Organismus, das spezifisch Menschliche, das ihn von allen anderen Organismusformen unterscheidet, ist aber die menschliche Kultur. Über etwas Vergleichbares verfügt keine andere Spezies. Man kann daher einen Trennungsstrich ziehen: dort das von der Biologie geprägte Tier, hier der von der Kultur geprägte Mensch. Bei dieser Sicht ist das Verhalten des Menschen zum allergrößten Teil kulturabhängig und durch die Kulturwissenschaften zu deuten. Im scharfen Gegensatz dazu steht das biologisch geprägte Verhalten der Tiere, das folgerichtig die Domäne der Biowissenschaften darstellt. Eine biowissenschaftliche Kriminologie wäre unter diesem Blickwinkel sinnlos. Doch stellt sich dann die Frage: Woher kommt die Kultur? Wenn bis kurz vor deren Entwicklung die Lebewesen noch als biologisch geprägt angesehen werden müssen und damit den Gesetzen der Biologie und der Evolution gehorchen, so erscheint es rätselhaft, wie und woraus sich die spezifisch menschliche Kultur, Moral und auch das Recht entwickelt haben könnten, die ja als Befreiung von den biologischen Zwängen gelten. Ist die Kultur eine Schöpfung aus dem Nichts? Eine traditionelle Antwort darauf wäre, dass das Überwinden des tierischen Naturzustandes eine von Gott ermöglichte Leistung des Menschen darstellt. Doch ist dies eine Glaubensaussage und nicht wissenschaftlich überprüfbar. Eine andere Möglichkeit wäre die spezifisch menschliche Vernunft, die es etwa nach Hobbes Vermutung den Menschen ermöglicht hat, Gesellschaftsverträge abzuschließen. Doch woher kommt die Vernunft? Wie konnte sie sich aus den wissenschaftlich unbestreitbaren tierischen Vorfahren entwickeln? 26 Es ist dies die in den letzten Jahrzehnten drängendste Frage der Evolutionstheorie geworden: Wie konnte sich die Kultur, speziell das menschliche Sozialverhalten, aus den tierischen Vorfahren entwickeln? Warum dominieren unter den Menschen nicht Mord und Totschlag und damit, wie bei den Tieren, zumeist rücksichtloser Eigennutz, sondern zumindest ganz überwiegend Kooperation, Moral und Recht? Unter diesem Blickwinkel ist die Beweislast gerade umgekehrt: Um Aussagen über das menschliche Sozialverhalten und dabei auch die Kriminalität machen zu können, muss die Evolutionstheorie deutlich machen, dass dieses Sozialverhalten überhaupt noch unter dem Einfluss biologischer Faktoren steht. Die Evolution muss die überwiegende Nicht-Kriminalität des Menschen erklären können, um den Erklärungsanspruch für die vereinzelte Abweichung aufrecht erhalten zu können. 25 Kutschera, 2006, S. 265. 26 Siehe Mayr, 2000, S. 321 ff., 331 ff.

12 1 Einleitung Wenn dies nicht gelingt, kann man davon ausgehen, dass Kriminalität ein Kulturphänomen ist, das von den Kulturwissenschaften zu deuten ist. Dies auch dann, wenn sich in diesem Bereich zahlreiche menschliche Universalien erkennen lassen: Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, Brandstiftung, Diebstahl bilden in praktisch allen Gesellschaften den Kern der verpönten Taten; Männer begehen weltweit mehr Straftaten als Frauen; Sexualdelikte werden überwiegend von Männern gegen Frauen begangen. Die Ubiquität dieser Handlungen und die Gleichartigkeit der qualitativen Bewertung als verpönt deuten auf den ersten Blick darauf hin, dass diese Phänomene eine in der biologischen Natur des Menschen wurzelnde (ultimate) Ursache haben. Eine gleich laufende kulturelle Bewertung in allen Gesellschaften und Epochen erscheint zunächst unwahrscheinlich. Dagegen stehen die Analogie der Kriminalität mit der Natur und die Gleichsetzung des menschlichen Sozialverhaltens mit der Kultur als der Überwindung der Natur. 27 1.2.4.2 Altruismus, Kooperation, Sozialität Die Evolutionstheorie muss also einen Weg finden, wie menschliches Sozialverhalten, Kultur und Moral sich aus den biologischen Grundlagen entwickelt haben, um zu beweisen, dass der Faden der Entwicklung von unserer biologischen Herkunft zu unserem aktuellen gesellschaftlichen Verhalten nicht abgerissen ist. 28 Wenn er abgerissen ist, so muss man daraus schließen, dass das Sozialverhalten, normtreues wie abweichendes, kein biologisches Phänomen ist, denn dann können keine ultimaten Gründe dafür benannt werden. Zu seiner Erklärung kann die Biologie dann nichts Wesentliches beitragen. 29 Um also zu klären, ob die Biologie überhaupt irgendeine Deutungsrelevanz für Kriminalität haben kann, muss zunächst festgestellt werden, ob das menschliche Sozialverhalten zumindest in seinen groben Zügen biologisch erklärt werden kann. Erst bei einer bejahenden Antwort kann der Versuch unternommen werden, Abweichungen von der Norm des Sozialverhaltens im Detail zu untersuchen. 27 Dies erinnert an Lombrosos Auffassung vom Rückfall des geborenen Verbrechers auf frühere Stufen der Evolution, siehe Lombroso, 1876, S. 2, 10, 96. Nach dieser Sicht wäre Kriminalität ein Durchbruch der biologischen Seite des Menschen und damit ein Versagen der die Natur des Menschen klein haltenden Kultur. Siehe dazu Kap. 5.5.2. 28 Dies entspricht der herrschenden Grundauffassung der modernen Darwinisten, die davon ausgehen, dass die Entwicklung aller Arten und ihrer Merkmale, und damit auch das Erreichen der menschlichen Kultur, sich kontinuierlich, das heißt ohne größere und damit unerklärbare Sprünge, vollzogen hat. Es herrscht Gradualismus, kein Saltationismus, siehe Mayr, 2000, S. 321 f. Es gibt keine, vom amerikanischen Philosophen Daniel Dennett so genannten, Himmelshaken ( sky hooks), an denen sich die Entwicklung hoch oder weiterziehen kann, siehe Dennett, 1997, S. 108. 29 Es bleibt nur der Bereich des pathologischen Verhaltens, der etwa durch die 20, 21 StGB abgesteckt wird, und in dem organisch bedingte Abweichungen von der Norm durch Mediziner und Psychiater zu analysieren und zu behandeln sind.

1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität 13 Anknüpfungspunkt für diesen Versuch ist die Beobachtung, dass es auch im Tierreich, ja sogar unter Pflanzen und Einzellern, bestimmte Formen eines primitiven Sozialverhaltens gibt. Aus evolutionstheoretischer Sicht ist dabei besonders der Aspekt relevant, dass soziales Verhalten und das heißt hier nicht mehr als: nicht rücksichtslos egoistisches Verhalten stets den Verzicht auf Fitnessmaximierung bedeutet. Wie kann sich aber in einem Prozess, der auf dem survival of the fittest beruht, ein Organismus durchsetzen, der naturgemäß unbewusst auf einen Fitnessvorteil verzichtet und diesen einem potenziellen Konkurrenten überlässt? Schon Darwin beunruhigte dieser so genannte Altruismus, denn er war mit seiner Theorie, so schien es, nicht zu vereinbaren. Tatsächlich konnten Evolutionstheoretiker bis in die 1960er Jahre Altruismus, Kooperation und Sozialverhalten nicht befriedigend erklären. Menschliche Kultur schien damit eine Sphäre zu sein, die außerhalb der biologischen Gesetzmäßigkeiten entstanden und somit von den Biowissenschaften nicht deutbar ist. Somit oblag die Deutungshoheit ganz den Kulturwissenschaften wie Soziologie und Anthropologie. Doch hat sich seitdem das Bild sehr stark gewandelt. Unterdessen wurden Theorien entwickelt, mit denen Altruismus und Kooperation aus Sicht der Evolutionstheorie nachvollziehbar wurden. Es zeigte sich, dass Eigennutz und Rücksichtslosigkeit auch in der Natur häufig nicht die lohnendsten Strategien sind. Verwandtenselektion, das heißt die altruistische Bevorzugung von genetisch nahe stehenden Individuen, kann sich bereits in der Tierwelt genauso durchsetzen wie reziproker Altruismus, also der Aufbau längerfristiger wechselseitiger Austauschbeziehungen unter Nichtverwandten. All dies lässt sich mit den Mechanismen der darwinistischen Evolutionstheorie und der Populationsgenetik begründen. Was für Tiere und Pflanzen gilt, gilt noch viel mehr für den Menschen mit seinen herausragenden kognitiven, sprachlichen und emotionalen Fertigkeiten. Aufgrund ihrer Gehirnentwicklung konnte die Spezies Mensch die soziale Komplexität bewältigen, die unsere heutigen Gesellschaften ausmacht. So gibt es weitere evolutionstheoretische Modelle, die auf den besonderen menschlichen Fähigkeiten aufbauen und humanen Altruismus und Kooperation auch außerhalb der Verwandtschaft und außerhalb längerer Austauschbeziehungen mit den Mitteln der Evolutionstheorie erklärbar machen. Dabei bedient man sich moderner evolutionärer Spieltheorie und in allerletzter Zeit zunehmend aufwändiger Computersimulationen. Diese Modelle sollen in der vorliegenden Arbeit dargestellt werden. Doch was bedeutet dies für die Erforschung der Kriminalität? Es zeigt sich zunächst, dass menschliches Sozialverhalten nicht nur der Deutungshoheit der Sozialwissenschaften unterliegen muss, sondern auch als biologisches Phänomen mit Hilfe der Biowissenschaften analysiert werden kann. Ein scharfer Trennungsstrich zwischen Biologie und Sozialverhalten lässt sich nicht ziehen. Dies lässt sich beispielsweise an einer evolutionstheoretischen Erklärung für die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Frauen und Männern zeigen. Das weltweit beobachtbare Phänomen, dass Männer zu mehr Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität neigen, lässt sich mit sozio-kulturellen Ansätzen nicht befriedigend erklären. Eine evolutionstheoretische Deutung ist mit den vorliegenden empirischen Daten vereinbar.

14 1 Einleitung Darüber hinaus kann die Evolutionstheorie wichtige Beiträge zur Erklärung des Entstehens menschlichen Sozialverhaltens erbringen. Im Gegensatz zu einer landläufigen Sicht ist die evolutionär gewachsene menschliche Natur gerade nicht auf Egoismus und Eigennutz ausgelegt, sondern auf Gemeinschaft. Diese Erkenntnis und ihre Verwertbarkeit für die Kriminologie werden den Hauptteil dieser Arbeit in Anspruch nehmen. 1.3 Evolutionspsychologie Sehr detaillierte Antworten auf spezifische kriminologische Probleme gibt die Evolutionspsychologie. Sie ist als Nachfolgedisziplin der Soziobiologie anzusehen. Während die Soziobiologie den Schwerpunkt auf die Erklärung tierischer Verhaltensweisen aus darwinistischer Sicht legte, beschäftigt sich die Evolutionspsychologie allein mit menschlichem Verhalten. Sie ist eine relativ junge, aber sehr forsch auftretende Wissenschaftsdisziplin. Das aktuell dominierende Problem der Evolutionstheorie das Verhältnis zwischen evolvierter Biologie des Menschen und seiner Kultur wischt die Evolutionspsychologie zur Seite: Die spezifisch menschliche Kultur wird als weitgehend irrelevant angesehen. Der Mensch ist nach dem sog. Integrierten Kausalmodell fast ausschließlich aus seiner evolutionären Entwicklung zu deuten. Es herrscht die Vorstellung, der menschliche Geist bestehe aus einer Vielzahl einzelner Module, die jeweils evolvierte und adaptive Antworten auf einzelne Probleme der Vor- und Frühmenschen darstellen. 30 Diese Relikte aus unserer Art- und Frühentwicklung dominierten immer noch unser Handeln, obwohl sich die Lebensumstände und damit auch die Anforderungen an uns radikal verändert haben. 31 Auch und gerade Verhaltensweisen, die heute als kriminell bewertet werden, haben sich, nach einigen Evolutionspsychologen, so entwickelt und verursachen heute Kriminalität. Dies gilt etwa für Tötungs- und Sexualdelikte. So behauptet die Evolutionspsychologie, sie könne die Sozialwissenschaften, insbesondere auch bei der Erklärung von kriminellem menschlichen Verhalten, ersetzen und tritt äußerst offensiv gegenüber der herkömmlichen Kriminologie auf. Es werden evolutionäre Szenarien entworfen, die darauf hinauslaufen, dass menschliche Kriminalität in vielen Punkten als evolutionsbedingte Anpassung gesehen werden kann. Unterdessen werden diese Thesen nicht nur in kriminologischen und juristischen Publikationsorganen, 32 sondern auch in der Öffentlichkeit vehement 30 Diese Sichtweise wurde begründet von Tooby u. Cosmides, 1992. 31 Das bekannteste Beispiel: Vor einigen Hunderttausend Jahren sei es sinnvoll gewesen, möglichst viel Fett zu sich zu nehmen, um den Nährstoffbedarf angesichts knapper Ressourcen zu decken. Heute hätten wir immer noch ein evolviertes und daher schwer zu bändigendes Verlangen nach fettreicher Nahrung, das uns angesichts des Überangebots an Nahrungsmitteln mit Übergewicht und Herzproblemen zu schaffen macht. 32 Siehe jeweils nur Ellis u. Walsh, 1997, und Jones, 1999.