MERKBLATT FÜR NOTARZT/WEITERBEHANDELNDEN ARZT NACH VERÄTZUNG MIT FLUSSSÄURE Fluorwasserstoffsäure ERSTE HILFE und ÄRZTL. ERSTVERSORGUNG WIRKUNGSWEISEN Hauptwirkungsweisen akut konzentrationsabhängig stark reizende/ätzende Wirkung auf Schleimhäute und Haut Störungen von Stoffwechsel, Herz-Kreislauf- und Nervensystem Akute Toxizität Flusssäure bewirkt schon in geringer Konzentration tiefreichende Schädigungen an allen direkt kontaktierten Geweben. Hautschädigungen nach Flusssäure-Kontakt manifestieren sich in Abhängigkeit von der Konzentration und Einwirkungszeit oft erst nach Latenz. Bei unter 20%iger Flusssäure (F.) kann die Kontaktstelle zunächst relativ unauffällig bleiben und evtl. erst nach 24h deutliche Schädigungen zeigen. Auch F.-Dämpfe können schwere Verätzungen bewirken (hämorrhagisches Lungenödem, Atelektasen und Blutungen in den Atemwegen). Neben der lokalen Wirkung ist bei Hautkontakt auch mit schweren, lebensbedrohlichen Intoxikationen zu rechnen. (70%ige und höher konzentrierte F. löste schwere, oft letale Vergiftungen aus, wenn 2,5-8 % der Hautoberfläche benetzt wurden.) Hinzu kommen systemische, Fluorid-spezifische Effekte. Diese können schwere Störungen im Stoffwechsel, im Herz-, Kreislauf-, Muskel- u. Nervensystem umfassen. HINWEISE FÜR DEN ARZT F. wirkt lokal reizend/ätzend und systemisch stark toxisch. Die Effekte zeigen sich zum Teil erst nach Latenz, was zur Unterschätzung der Gefährdung führen kann. Jeder Kontakt mit F. erfordert sorgfältige Dekontamination/Behandlung. Symptomatik der akuten Vergiftung: Augen: -> Gefahr irreversibler Augenschäden Haut: progressive Verätzung (schon durch gering konz. F. oder auch Dämpfe), betroffene Areale anfangs evtl. noch unauffällig (Erythem/Aufhellung), dennoch kann F. schon tief penetriert sein (-> Schädigung von Gefäßen, Muskeln, Knochen); typisch ist Tiefenschmerz (bei schnellem Einsetzen immer sehr ernste Prognose!)
Inhalation: durch Dämpfe Reizung/Verätzung der Schleimhäute Resorption: Stoffwechselstörungen (Hypocalcämie, Hypomagnesiämie, Hyperkaliämie), Störungen der Herzfunktion (Tachykardie, Kammerflimmern, Blutdruckabfall), des Muskel- und Nervensystems (Bewusstlosigkeit/Koma, Tremor, tetaniforme Krämpfe, Atemlähmung); Nierenfunktionsstörung. HINWEISE FÜR DIE ERSTE ÄRZTLICHE HILFE Nach Augenkontakt nochmals gründlich mit Wasser oderphys. Kochsalzlösung spülen. Anschließend Corticosteroid-Augentropfen applizieren, notwendigenfalls Lokalanästhesie mit 1%iger Lidocain-Lösung. Schnellstmöglich Weiterbehandlung durch einen Augenarzt. Betroffene Haut weitflächig mit Calciumgluconat (-Kompressen) abdecken. Zwischendurch mit Wasser abwaschen und durch neue Kompressen ersetzen. Nach erreichter Schmerzfreiheit weitere 15 min fortführen. Bei Verätzungen 2./3. Grades (zu erwarten bei >20%iger F.) sollten mit Calciumgluconat unterspritzt werden: Empfohlen werden Injektionen mit 10%igem Calciumgluconat oder mit Gemisch von 5 ml Calciumgluconat, 10%ig, und 5 ml Lidocain, 2%ig, in Dosierungen von 0,5 ml/cm2 Haut im Randbereich des geschädigten Areals (bis zu 3mal/d bzw. abhängig von der Schmerzstärke). Im Hand- und Fußbereich (speziell an Fingern/Zehen) ist das Unterspritzen problematisch; es kann eine intraarterielle Calciumgluconatgabe erforderlich werden (s. unten). Vorhandene Blasen sollten eröffnet und mit Umschlägen mit 10%iger Calciumgluconat-Lsg. behandelt werden. Tetanusprophylaxe und großzügige Gabe von Analgetika. Bei Verätzungen 3. Grades ab Handtellergröße ist Ca- und Mg-Substitution indiziert (Calciumgluconat, 10%ig, sehr langsam infundieren; Magnesiumsulfat nicht gleichzeitig injizieren). Weitere intensivmedizinische Überwachung/Behandlung (Schockbekämpfung; Behandlung systemischer Intoxikation). Nach Inhalation von Dämpfen möglichst sofortige Gabe von angefeuchtetem Sauerstoff über Maske/Intubation. Applikation von Glucocorticoiden (inhalativ/i.v.) und alle weiteren Maßnahmen der Lungenödemprophylaxe. Bei ersten Anzeichen wird PEEP-Beatmung angeraten. Bald auch Pneumonieprophylaxe. Nach massiver Inhalation auch Ca-/Mg-Substitution (s.o). Stets intensivmedizinische Überwachung/Therapie. Als Erstmaßnahmen nach oraler Aufnahme verdünnter F., die jedoch situationsbezogen anzuwenden sind, werden empfohlen: Vorsichtige endoskopische Untersuchung und schnellstmögliche Magenentleerung; Magenspülung mit 1%iger Calciumgluconatlsg. und anschließende Instillation von 40 g Calciumgluconat. In jedem Fall, nach Sicherung vitaler Funktionen, umgehender Transport zur Klinik.
Zur Behandlung von Hautverätzungen in der Klinik werden einige spezielle Empfehlungen gegeben: Bei Schädigung subungualen Gewebes ist Nagelentfernung erforderlich. Exzision des verätzten Gewebes (mit Ausnahme nekrotischer Areale) wird nicht empfohlen. Eine intraarterielle Calciumgluconatperfusion ist nur nach kritischer Indikationsstellung und ausschließlich in der Klinik vorzunehmen (von Ärzten mit Erfahrung in intraarterieller Infusionstechnik): Punktion der zentral der Läsion gelegenen Arterie, Legen eines arteriellen Katheters, intraarterielle Perfusion über 4h mit einer heparinhaltigen (200 IE/kg KG) Lösung aus 10 ml Calciumgluconat, 20%ig, in 80ml phys. Kochsalzlsg. bzw. in 40mg Glucoselsg, 5%ig. MÖGLICHE AUFNAHMEWEGE Hauptaufnahmewege Hauptaufnahmewege für Fluorwasserstoffsäure (F.) bzw. ihre Dämpfe (wässrige HF- Aerosole) verlaufen über den Atemtrakt und über die Haut. Atemwege Aufgrund des für wäßrige HF-Systeme existierenden azeotropen Mischungsverhältnisses 38% HF : 62% H2O raucht konzentrierte F. an feuchter Luft. Andererseits geht aus < 38%iger F. in offenen Systemen sehr viel mehr Wasser als HF in die Dampfphase über. Ein hohes inhalatives Risiko soll angeblich nur bei unvorsichtiger Handhabung von >60%iger F. bestehen. Dies trifft natürlich keineswegs zu, wenn verdünntere F. auch nur auf 60 Grad C erwärmt wird (z.b. weist dann 10%ige F. einen Partialdruck von ca. 2 hpa auf) oder wenn technologiebedingt Aerosole entstehen können. Aus kinetischen inhalativen Experimenten an Freiwilligen (bis 6 ppm) wurde eine vollständige Resorbierbarkeit größtenteils schon im oberen Atemtrakt abgeleitet. Haut Eine Resorption über die Haut ist durch Unfälle, in denen nach Hautkontakt ein Anstieg der Fluorid-Konzentrationen im Blut und systemische Effekte bemerkbar wurden, belegt. Mit einer Resorption (in unbekanntem Ausmaß) muss auch gerechnet werden, wenn die Haut nach Einwirkung gering konzentrierter F. anfangs noch intakt erscheint. In Experimenten mit bis zu 2 %iger F. an Kaninchen wurde 1 Stunde nach okklusiver Applikation ein starker Anstieg der Fluorid-Konzentration im Serum verzeichnet. Höher konzentrierte F. führt schnell zur Gewebszerstörung, so dass während der Einwirkungszeit eine nahezu unbegrenzte Resorption anzunehmen ist. Verdauungstrakt Für F. ist eine schnelle und weitgehend vollständige Resorption im Verdauungstrakt vorauszusetzen. Allerdings kann die Anwesenheit hoher Konzentrationen von Fluoridbindenden Ionen (insbesondere von Calcium und Aluminium) im Magen-Darm-Trakt die Resorption begrenzen. (Zusammengefasst von IBG, April 2010; überarbeitet im Sept 2015)