08. September 2016 Patientenverfügung Bedeutung der Patientenverfügung für den Arzt, für die Bevölkerung/den Patienten Symposium Grenzfragen der Intensivmedizin Stadtspital Triemli Zürich Tatjana Weidmann-Hügle, MSc, MA Leiterin Klinische Ethik Kantonsspital Baselland Inhalte 1. Fallbeispiele 2. Grundlagen: Definition, Formales, Bedingungen und mögliche Inhalte 3. Gesetzliche Grundlagen 4. Kritische Aspekte von Patientenverfügungen 5. Möglicher Ausweg: Advance Care Planning 6. Diskussion 2 1
Herr Rossi, 76 Jahre Herr Rossi wird aus dem APH wegen Atemnot aufgrund einer exazerbierten COPD ins Spital überwiesen. Neben der COPD leidet Herr Rossi an einer fortgeschrittenen, vaskulären Demenz. Auf der Intensivstation wird Herr Rossi mit Steroiden behandelt und mit einer NIV-Maske beatmet. Sobald er aus der CO 2 -Narkose erwacht, wehrt er sich gegen die Maske und gegen alle pflegerischen Massnahmen (z.b. Blutentnahme). Das therapeutische Team ist der Meinung, dass Herrn Rossis Prognose sehr schlecht ist und dass man ihn in Ruhe sterben lassen sollte. Seine Kinder wollen vehement, dass Herr Rossi weiter beatmet wird. Auf eine Intubation und Reanimation verzichten sie. Herr Rossi hat keine PV. -> Medizinische Probleme antizipierbar: PV hilfreich? 3 Frau Hasler, 83 Jahre Notfallmässiger Eintritt mit Nausea und diffusen abdominalen Schmerzen. Im durchgeführten CT zeigte sich freier Stuhl und intraabdominelle Luft bei perforiertem Colon sigmoideum. Bei septischem Schock wurde die Patientin zur Kreislaufunterstützung, Intubation und Volumentherapie auf die Intensivstation verlegt und eine antibiotische Therapie mit Tazobac begonnen. Nach erfolgter Laparotomie und Hartmann-OP sowie VAC Anlage besserte sich der Zustand der Patientin und auch die Entzündungswerte waren regredient. Angehörige bringen 2 Tage nach OP die PV der Patientin und verlangen Abbruch aller intensivmedizinischen Massnahmen. PV: Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen in aussichtsloser Situation. Gleichzeitig: Rea ja. 2 Töchter als Stellvertreter aufgeführt. -> PV zwar vorhanden, aber nicht auf die aktuelle Situation anwendbar. Widersprüchlich. -> Mutmasslicher Wille der Patientin durch Töchter widergegeben? 4 2
Vorsorge Welche Möglichkeiten? Selbstvorsorge: Massnahmen, die von der betroffenen Person selbst getroffen werden können (Selbstbestimmung, wenn noch urteilsfähig) Patientenverfügung (Art. 370-373 ZGB) Art. 370 Abs. 1: Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt. Vorsorgeauftrag (Art. 360-369 ZGB) Bezeichnung einer natürlichen Person; in PV oder Vorsorgevollmacht (Art. 370 Abs. 2 ZGB): 5 Definition Eine Patientenverfügung (PV) ist eine einseitige, schriftliche Willensäusserung für zukünftige Situationen, in welcher eine urteilsfähige Person festhält, wie sie medizinisch behandelt werden möchte, wenn sie einmal nicht mehr urteilsfähig sein sollte. -> Kern: Medizinische Massnahmen! -> Zusätzlich: Bezeichnung einer Person, die bei Urteilsunfähigkeit Entscheidungen bzgl. medizinischer Massnahmen anstelle des/der Betroffenen trifft. Die PV richtet sich an diejenigen Personen, welche den/die Patienten/in im Zustand der Urteilsunfähigkeit behandeln und betreuen. Es gibt also keinen konkreten Adressaten für die Patientenverfügung. -> Möglicherweise ein Teil der Problems im Umgang mit PV? 6 3
Grundlagen: - Wichtig: PV kommt nur bei Urteilsunfähigkeit zum Einsatz. Ist jemand urteilsfähig, so gilt der aktuelle Wille! - Eine PV muss freiwillig, d.h. ohne äusseren Druck oder Zwang verfasst werden. -> Keine Bedingung für Aufnahme in eine Langzeitinstitution. - Inhalt einer PV kann aktuell geäussertem Willen widersprechen. - Bei Dringlichkeit entscheidet Ärztin/Arzt nach mutmasslichem Willen und Interesse der urteilsunfähigen Person. 7 Grundlagen: Formales Formale Aspekte a) PV muss schriftlich abgefasst sein, b) Datum und Unterschrift notwendig (keine Beglaubigung nötig), c) Urteilsfähigkeit beim Erstellen muss gegeben sein, Die Möglichkeit eine Patientenverfügung zu verfassen, steht allen urteilsfähigen Personen offen; dies schliesst urteilsfähige Minderjährige mit ein. (SAMW, 2013) d) Verbindlichkeit einer PV ist grundsätzlich nicht befristet. Damit keine Zweifeln aufkommen empfiehlt sich regelmässiges Überprüfen, Datieren und Unterschreiben. 8 4
Grundlagen: Inhalte - Wünsche/Wille bzgl. medizinischer Massnahmen - Bezeichnung einer vertretungsberechtigten Person (Art. 370 Abs. 2 ZGB); mit/ohne spezifische Weisungen - Werthaltungen - Therapieziele - Abhängig von der Lebenssituation: Aussagen zu spezifischen Situationen - Anderes möglich: z.b. Religiöse Begleitung, Organspende, Obduktion Vgl. dazu auch Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen Patientenverfügungen, 2013 9 Gesetzliche Grundlagen: Kindes-und Erwachsenenschutzrecht, 2013 Arzt/Ärztin ist verpflichtet, bei Urteilsunfähigkeit abzuklären, ob PV vorhanden ist. Ist die Patientin oder der Patient urteilsunfähig und ist nicht bekannt, ob eine Patientenverfügung vorliegt, so klärt die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt dies anhand der Versichertenkarte ab. Vorbehalten bleiben dringliche Fälle. (Art. 372, Abs. 1 ZGB) Verbindlichkeit der Patientenverfügung Die Ärztin oder der Arzt entspricht einer Patientenverfügung, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht. (Art. 372 Abs. 2 ZGB) Die Ärztin oder der Arzt hält im Patientendossier fest, aus welchen Gründen der Patientenverfügung nicht entsprochen wird. (Art. 372, Abs. 3 ZGB) 10 5
KESR: Wenn keine PV vorhanden, dann... Falls weder Patientenverfügung noch Vorsorgeauftrag vorhanden: Entscheidungsgewalt über medizinische Massnahmen liegt bei vertretungsberechtigter Person (Art. 377 Abs. 1 ZGB): Befugnis der vertretungsberechtigten Person - Sie ist berechtigt, die urteilsunfähige Person zu vertreten und den vorgesehenen ambulanten oder stationären Massnahmen die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern. (Art. 378 Abs. 1 ZGB) - Fehlen in einer Patientenverfügung Weisungen, so entscheidet die vertretungsberechtigte Person nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person. (Art. 378 Abs. 2 ZGB) => Paradigmenwechsel! Früher lag der Letztentscheid beim behandelnden Arzt oder Ärztin. Mit Inkrafttreten KESR: Letztentscheid bei vertretungsberechtigter Person (im Sinne eines stellvertretenden Informed Consent). 11 Vertreterkaskade Bestimmung der vertretungsberechtigten Person nach Massgabe von Art. 378 Abs. 1 ZGB: 1. In der Patientenverfügung genannte Person 2. Beistand/Beiständin mit medizinischem Vertretungsrecht 3. Ehegatte oder eingetragene/r Partner/in oder eingetragene Partnerin* 4. Person in gemeinsamem Haushalt* 5. Nachkomme* 6. Eltern* 7. Geschwister* * Wenn diese der urteilsunfähigen regelmässigen und persönlichen Beistand leisten 12 6
Möglichkeiten einer PV Möglichkeit, eigenen Willen festzuhalten Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Fragen rund um medizinische Behandlung, Leben, Lebensqualität und Sterben Anlass für Gespräche über Wertvorstellungen und Dinge, die einem wichtig sind (Kommunikationsinstrument) Kann Stellvertreter entlasten. Kann Angst vor allfälligem Kontrollverlust verringern. 13 Artikel in Hastings Center Report, 2004 14 7
Erfahrungen aus den USA - 1991 Patient Self Determination Act -> Verbindlichkeit von PVs geregelt sowie Auflage an Spitäler, nach PV zu Fragen und Patienten zur Ausfüllung aufzufordern. - Trotz dieser Bemühungen -> Ca. Anfang 2000 haben nur 20% der Amerikaner eine PV verfasst. - Gesetzliche Verankerung alleine reicht nicht! - Ohne begleitende Massnahmen sind die informierte Erstellung und die konsequente Umsetzung von Patientenverfügungen in der Praxis ungenügend sicher gestellt. 15 Mögliche Gründe für Failure - In aussichtslosen Situationen - Nicht auf aktuelle Situation anwendbar. - Komplexität der Entscheidungssituation durch PV nicht fassbar. - Inhaltlich nicht konklusiv (Formulare können Widersprüche enthalten). - Medizinisch nicht valide. - Vielfach ohne professionelle Begleitung ausgefüllt. - Nicht auf besten medizinischen Informationen basierend (z.b. über Prognose bzgl. Reanimation). - Nicht mit Angehörigen besprochen; kennen Patientenwillen häufig nicht. - In Notfallsituationen nicht anwendbar. - Nicht auffindbar oder bei Einweisung ins Spital nicht übermittelt. 16 8
Weitere kritische Aspekte - Antizipierbarkeit des eigenen Umgangs mit Krisensituationen? - Wandel von Werten und Werthaltungen möglich - Präferenzen der Patienten sind oft nicht stabil Wenn eine Patientenverfügung als Instrument der Autonomie des Patienten dargestellt wird, so gilt zu bedenken, dass Autonomie nicht etwas ist, was man konservieren kann, um es dann bei Bedarf abzurufen. Giovanni Maio, Für eine andere Kultur des Sterbens Die Patientenverfügung als Voraussetzung für ein gutes Sterben? NZZ, 14.04.2008 17 Möglicher Ausweg: Advance Care Planning (ACP) - Advance Care Planning (ACP) -> gesundheitliche Vorausplanung im Sinne eines kontinuierlichen Entscheidungsprozesses; - Willensbildung durch Fachkraft (Facilitator) unterstützt. - Aufgaben Facilitator: Informationsvermittlung über zu erwartende Krankheitsverläufe und ihre Auswirkungen. Konstanter Dialogpartner für Ausbildung, Ausdifferenzierung und Ausformulierung der Behandlungswünsche -> immer angepasst an Diagnose und jeweiligen Gesundheits-/Krankheitszustand. Dialog ist nicht direktiv, sondern partnerschaftlich. - Wertvorstellungen der Betroffenen sind zentral. 18 9
Advance Care Planning (ACP) - ACP umfasst einen kontinuierlichen Planungs- und Umsetzungsprozess für in der Zukunft liegende gesundheitsbezogene Entscheidungssituationen, in denen Patienten nicht urteilsfähig sind. - ACP ist die dynamische Form einer Patientenverfügung - Setzt auf den Dialog zwischen Patient, Angehörigen und Behandlungsteam und weniger auf einseitige Verordnung -> Nachvollziehbarkeit für Behandlungsteam, Entlastung der Angehörigen. Ziele - Komplexität medizinischer Behandlungsentscheide soll rezipiert werden. - Medizinische Logik soll gewährleistet sein. - Festgeschriebenes soll auf Situation anwendbar sein. - Prozess soll allen Akteuren bekannt sein. 19 HERZLICHEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT! 10