ICHELANGELO
Übersetzung: Sandra Schlaher Sirrocco, London (deutsche Fassung) Confidential Concepts, worldwide, USA ISBN : 978-1-78042-625-9 Weltweit alle Rechte vorbehalten Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.
Michelangelo
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Michelangelo Wenn man den Namen Michelangelo hört, denkt man sofort an künstlerisches Genie. Das ist einerseits auf die vielen verschiedenen Bereiche zurückzuführen, auf denen er sich betätigte: Skulptur, Malerei, Architektur und sogar Poesie. In ihm vereinen sich die Künste, ästhetische Konzeption und Philosophie. Andererseits liegt es daran, dass er der Künstler ist, in dem der Humanismus seinen Höhepunkt erreicht. In der Renaissance ist der Humanismus keine rein philosophische Lehre, sondern vielmehr eine Geisteshaltung, eine Denkweise. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Denkens und nicht abstrakte Begriffe oder Gedanken. Die großen Fragen der Zeit sind: Woher kommt der Mensch? Welche Stellung hat der Mensch im Universum? Was ist der Mensch? Ist Perfektion auf dieser Welt möglich? Die Antworten sind nie endgültig oder dogmatisch. Sie werden analysiert, diskutiert, unter die Lupe genommen. Der Humanismus ist vielförmig und kann daher christlich, laizistisch oder heidnisch sein Der Humanismus fasst zunächst in Florenz Fuß mit großen Denkern wie Marsilio Ficino, Pico de La Mirandola, Leonardo da Vinci Von dort breitet er sich in Europa aus. Die schöpferische Kraft und Ausdrucksstärke der Werke von Michelangelo sowie ihre charakteristische Intensität illustrieren dieses humanistische Weltbild. Aber um seine Kunst besser zu verstehen, sollten wir uns sein Leben anschauen. Kindheit und Jugend Am Ende des 15. Jahrhunderts bricht eine neue Ära an. Nach Jahrzehnten voller Kriege, Hungersnöten und Epidemien ist Europa im Umbruch begriffen. Die Lebenseinstellung der Menschen verändert sich drastisch. Sie kehren sich von den Werten des Mittelalters ab und stützen sich auf eine florierende Wirtschaft, auf neue technische Errungenschaften und vor allem auf den tiefsitzenden Wunsch, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Große Männer wie Lorenzo de Medici oder Franz I. von Frankreich beschäftigen sich genauso mit Kunst wie mit Kriegsführung. Und schließlich bekommen dank des Buchdrucks immer mehr Menschen Zugang zur Kultur. In dieser Zeit des Umbruchs wird ein kleiner, aus dem niederen Florentiner Adel stammender Beamter zum Podestat (Gouverneur) der Diözese von Arezzo ernannt. Lodovico di Leonardo Buonarroti Simoni, so heisst der Mann, lässt sich mit seiner Familie in der Stadt Caprese nieder. Sein zweiter Sohn, Michelangelo, wird an einem Sonntag, dem 6. März 1475 dort geboren. Am Ende seiner Amtszeit als Podestat kehrt Lodovico in seine Heimatstadt Settignano zurück, wo er ein Anwesen besitzt, das seiner Familie würdig ist. Unglücklicherweise stirbt seine Frau 1492 und lässt ihn mit seinen fünf Kindern alleine zurück. 1. Selbstportrait mit Turban. Feder, 36,5 x 25 cm. Louvre, Paris. 5
Michelangelo ist gerade sechs Jahre alt. Ohne die Zuwendung seiner Mutter wird er ein schwieriges, schweigsames, mürrisches und ungezogenes Kind. Er wird zur Pflege in eine Steinmetzfamilie gegeben und lernt dort, gegen die Traurigkeit anzukämpfen, indem er mit den Kindern des Steinmetzes im nahegelegenen Steinbruch Steinblöcke haut. Mit ihnen zusammen erwirbt er die Kenntnisse und lernt den Umgang mit den Werkzeugen, mit denen er später seine schönsten Meisterwerke schaffen wird. Wenn ich etwas Gutes im Sinn habe, vertraute er eines Tages seinem Freund Vasari an, dann kommt dies daher, dass ich in der feinen Luft unseres Landes von Arezzo geboren wurde und dass ich mit der Milch meiner Amme die Meißel und die Masse aufgesogen habe, mit denen ich meine Statuen mache. berichtet R. Coughlan. Später wird Michelangelo in dieser Erfahrung den Ursprung seiner Kunst sehen. Michelangelo beschreitet einen ganz anderen Weg als seine Brüder, die in den Seidenhandel gehen. Er zeichnet sich durch große Intelligenz und außergewöhnliche Empfindsamkeit aus. Daher beschließt sein Vater, ihn zum Studium der Grammatik zu Francesco d Urbino zu schicken. Als feingeistiger Grammatikschüler öffnet er sich gegenüber der Schönheit der Renaissance-Künste. Der gebürtige Capreser war schon immer mehr dem Zeichnen zugeneigt als dem Latein und Griechisch-Studium. Er schließt schon bald Freundschaft mit seinem Mitschüler Francesco Granacci, der sich ebenfalls bei Domenico Ghirlandaio zum Maler ausbilden lässt. Überwältigt von der Leidenschaft Michelangelos, drängt Granacci ihn dazu, den Beruf des Malers zu wählen, und er hilft ihm sogar, den Vater Buonarroti zu überzeugen. Letzterer war bis dahin entschieden dagegen, dass sein Sohn Künstler wird, da dieser Beruf einem Handwerk viel zu nahe kommt und somit nicht vornehm genug ist für den Sohn eines Beamten der Medici. Michelangelo gibt nicht nach, und da sein Vater keine andere Wahl hat, vertraut er ihn Ghirlandaio als Lehrling oder Diener an. Der junge Mann ist aufgebracht ob dieser Worte, da er den Eindruck hat, zum Hausangestellten des Malers zu werden, dessen Schüler er war. Aber er schluckt seinen Zorn hinunter. Am 1. April 1488, mit dreizehn Jahren, tritt Michelangelo in die Werkstatt von Ghirlandaio ein. Dies ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des größten italienischen Künstlers der Renaissance. Erste künstlerische Einflüsse bei den Medici Domenico Ghirlandaio arbeitet ausschließlich für die reichen Familien von Florenz. Er hat ein großes Talent für Fresken und ist einer der ersten, dessen Malerei von der aufkeimenden Renaissance beeinflusst wird. Er arbeitet zusammen mit Botticelli, Pinturicchio, Rosselli und 6
natürlich Perugino, der die Arbeiten an der Sixtinischen Kapelle leitete. Er ist ebenfalls einer der Dekorateure von Lorenzo de Medici. Bei ihm lernt der junge Michelangelo Zeichnen und Malerei. Er ist sehr begabt und hebt sich schnell von den anderen Schülern ab. Er kopiert von sich aus unglaublich geschickt ein Werk von Schoen und koloriert es. Ghirlandaio erkennt in diesem jungen Mann bald ein aufkeimendes Genie. Man lässt ihn Masaccio, Giotto und San Spirito studieren. Michelangelo verbringt drei Jahre in der Werkstatt des Meisters. Er fertigt Kopien von Donatello und von Jacopo della Quercia an. Mit jeder Studie und mit jeder Kopie wird sein Auge schärfer. Dort entdeckt er seine zahlreichen Talente (scharfer Blick, feine Analyse, Gespür für Bewegung, sehr sichere Farbwahl ) und macht sich gleichzeitig Feinde, die überwiegend aus Neidern bestehen. Seine Nase wird von der Faust Torrigianis, eines eifersüchtigen und gewalttätigen Bildhauers, dem wir die gleichnamige römische Villa verdanken, gezeichnet bleiben. Michelangelo wird sich Zeit seines langen Lebens weigern, zuzugeben, in der Werkstatt von Ghirlandaio irgendetwas gelernt zu haben, oder dass seine Zeit dort auch nur den geringsten Einfluss auf ihn gehabt habe, obwohl er letzterem seine Bekanntschaft mit Lorenzo de Medici verdankt. Aus Ehrgeiz, aber vor allem, weil er sich seiner Begabung sicher ist, zieht Michelangelo es vor, seinen Erfolg ausschließlich seinem eigenen Genie zuzuschreiben. Zum Glück ist es eine gute Zeit für Künstler. Lorenzo de Medici, der große Mäzen, liebt die Künste und Wissenschaften und richtet in seinem Palast eine Schule unter der Leitung von Bertoldo ein, der selbst ein Schüler von Donatello ist. Letzterer ist zu dieser Zeit in Florenz sehr beliebt. Die begabtesten jungen Künstler werden dort hingeschickt, um Skulptur zu studieren. So kommt Michelangelo in den Dienst der Medici. Diese Schule ist ein wichtiger Schritt in der künstlerischen Entwicklung des jungen Lehrlings. Er entdeckt die hervorragende Sammlung antiker Statuen der Medici, die ihn tief beeindrucken wird. Er, der mit seinen neuartigen Schöpfungen, die sich von den Künstlern vor ihm abheben, die Renaissance symbolisieren wird, sieht in dieser antiken Kunst eine unvergleichliche Quelle der Inspiration. Michelangelo hat sein Medium gefunden: Er wird Bildhauer! Der Künstler hebt sich sehr schnell durch die Qualität seiner Arbeit ab und zieht die Gunst des Hausherrn, Lorenzo de Medici, auf sich. Er wird von diesem geschätzt und zu sämtlichen Empfängen eingeladen, und so lernt Michelangelo die bedeutenden Mäzene, Künstler, Politiker und Humanisten kennen, die sich am Florentiner Hof drängen. Unter seinen neuen Bekanntschaften sind zwei Personen sehr wichtig: Giovanni und Giulio, die Söhne von Lorenzo de Medici. Mit ihnen teilt er Unterricht und viel Freizeit. Sie werden später unter den Namen Leo X. und Klemens VII. Päpste und geben seine schönsten Werke in Auftrag. 7
Zurück bei seinem Vater und Zeit der Reisen Michelangelo ist jetzt sechzehn Jahre alt. Er hat bereits zahlreiche Werke geschaffen, darunter die Schlacht der Zentauren und Lapithen, die auf die Sarkophage der Spätantike Bezug nimmt, und eine Madonna mit dem Titel Madonna della Scala (Madonna an der Treppe): zwei Flachreliefs, die heute in der Casa Buonarroti in Florenz aufbewahrt werden. Leider ist 1492 ein Jahr großer Umwälzungen im Leben des jungen Michelangelo. Lorenzo de Medici stirbt und seine Erben darunter der unfähige Pietro de Medici - werden von dem Prediger Savonarola aus Florenz vertrieben. Michelangelo verlässt den Palast und kehrt nach Settignano zu seinem Vater zurück. Michelangelo hat weder seine Maler- noch seine Bildhauerausbildung richtig abgeschlossen. Dennoch zeigt sein Werk bereits großes Können und eine unerschöpfliche Kreativität. Sein Charakter ist außergewöhnlich. Er ist ein junger Mann, der als stolz, wenig umgänglich, schweigsam, aufbrausend, anspruchsvoll und stürmisch gilt, und gleichzeitig ist sich Michelangelo seines Genies sicher. Er sieht sich weniger als Lehrling denn als eigenständiger Künstler. Bei seinem Vater schafft er sein inzwischen verlorenes Werk Hercules, das zunächst den Strozzi gehört und dann Franz I. Anschließend geht Michelangelo auf Reisen. Er begibt sich nach Venedig, wo er die so dringend gesuchte Inspiration nicht findet. In Bologna steht er unter dem Schutz von Francesco Aldobrandi und schafft mehrere Skulpturen für die Arca der Kirche S. Domenico, ein Werk, das von Nicola Pisano begonnen wurde. Sein Gönner, der zu dieser Zeit dem Rat der Stadt Bologna angehört, ist vor allem ein treuer Freund von Lorenzo de Medici. Und so gibt er Michelangelo seinen ersten Auftrag: die Vollendung der Statue des Heiligen Petronius mit einem Modell der Stadt in seinen Händen, die Schaffung des Heiligen Proculus und vor allem des Leuchtertragenden Engels, deren Volumen sich vom übrigen Werk abheben. Der Engel mit den hervorstehenden Muskeln, dem fein modellierten Gesicht und der großzügigen Drapierung, deren Falten mit kräftigen Meißelschlägen Bewegung suggerieren, zeigt bereits die technische und ästhetische Qualität des jungen Michelangelo. Um 1495 kehrt Michelangelo nach Florenz zurück. Nachdem Pietro de Medici vertrieben worden war, herrscht dort nun die Republik. Auf Anraten von Lorenzo di Pier Francesco, einem Medici der republikanischen Linie, meißelt er den Schlafenden Cupido, der vielleicht derselbe ist, den man heute in der Akademie der Künste in Mantua sehen kann. Er verkauft ihn an den Kardinal Riario di San Giorgio, nachdem er ihn zunächst gealtert hat, damit er antik aussieht. Obwohl er dahinter kommt, dass er getäuscht wurde, ist der Kardinal voller Bewunderung für den Künstler und überredet ihn, sich in Rom niederzulassen. Und damit bricht die Zeit seines ersten Aufenthalts in Rom an. Michelangelo stürzt sich noch tiefer in die Pracht der Antike, die er bereits bei den Medici entdeckt hatte. Diese erste Offenbarung bestätigt sich. Dies ist sein ästhetischer Stil. Er schafft sein erstes großes Werk: den Bacchus, die erste und eine von nur wenigen rein heidnisch inspirierten Schöpfungen in seinem Gesamtwerk. In der Tat kommen die meisten Aufträge, die er anschließend bekommt, von der Kirche, die zu dieser Zeit in Italien und in Europa allmächtig ist. 1497 schafft Michelangelo eines seiner schönsten Werke: seine Pietà. Der französische Kardinal Jean de Villiers de Lagraulas, Abt von Saint-Denis und Botschafter des Königs Karl VIII. beim Papst, gibt ihm den Auftrag dazu. Sie ist als Schmuck für sein Grab gedacht. Die heute im Petersdom in Rom ausgestellte Statue ist die perfekte Darstellung von Gottes Opfer und der inneren Schönheit. Michelangelo ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. Man sieht, dass seine Jugend nicht nur aus Ausbildung und Proben besteht, sondern bereits ein Stück ästhetischer Bravour und eine Zeit großer Schöpfungen ist. 8