Buddhistische Denker in kommentierter Selbstdarstellung

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Buddhistische Denker in kommentierter Selbstdarstellung Von Michael Gerhard Siddhārtha Gautama Śākyamuni, der Buddha (ca. 6./5. Jh.v.Zw.) Die historischen Anfänge Buddha im Dharma-Mati-Zentrum: Foto Thubten Kway Innerhalb des Vinayapiṭaka 1 kommt in der Abteilung der khaṇḍaka (den Abschnitten, welche Regeln außerhalb der Bekenntnislitanei beinhalten) dem mahāvagga (der Großen Abteilung ) eine ganz besondere Bedeutung zu, weil es die sogenannte Rede von Benares mit den Vier Edlen Wahrheiten und die Lehre vom buddhistischen Achtgliedrigen Pfad enthält. Mit dem Verkünden dieser Vier Edlen Wahrheiten setzt der historische Buddha das Rad der Lehre in Bewegung: Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Leiden 2 : Alter, Krankheit, Sterben u.a. sind Leiden; [...] was man verlangt und was man nicht erlangt ist Leiden; kurz: die Fünf Daseinsfaktoren des Auf-sich- Beziehens. 3 Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Entstehen des Leidens: Es ist dieses Verlangen-nach, das zu immer neuem Dasein führt, verbunden mit Attraktion und Aversion, ein sinnliches Verlangen-nach Dasein und Nicht-Dasein. Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist eben diese totale Annullierung und Auflösung des Verlangens-nach, dessen Aufgabe, dessen Entäußerung, die Loslösung hiervon, das nicht länger Verlangen. Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad: Es ist nämlich dieser Edle Achtgliedrige Pfad [...]. Dies ist die Edle Wahrheit vom Leiden: [...] Diese Edle Wahrheit vom Leiden ist zu verstehen und ich habe sie verstanden [...] Dies ist die Edle Wahrheit vom Entstehen des Leidens: [...] Diese Edle Wahrheit vom Entstehen des Leidens ist anzuwenden und ich habe sie angewendet [...] Dies ist die Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: [...] Diese Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens ist zu erkennen und ich habe sie erkannt [...] Dies ist die Edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad: [...] Diese Edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad ist umzusetzen und ich habe sie umgesetzt [...]. Und mir ging die Klarheit des Wissens auf: Gewissheit durchdringt mein Bewusstsein. Dies ist die letzte Geburt. Und nicht mehr gibt es Dasein. 4 Die Vier Edlen Wahrheiten beinhalten die Erkenntnis, dass alles dukkha, grundsätzliches Leiden ist. Der Ausweg aus diesem dukkha eröffnet sich dem Menschen durch das Begehen des Achtgliedrigen Pfades. Dieser verkörpert nun einerseits selbst eine Edle Wahrheit und hat andererseits solche zum Inhalt. Seine Stufen müssen nicht zwingend hierarchisch durchlaufen werden; die Beendigung der verlangenden Handlungsverstrickungen (Pāḷi, saṃsāra) und damit der Kreislauf von dukkha kann auf jeder Stufe grundsätzlich vollzogen werden. Zwei Extreme gilt es, ihr Mönche, [...] zu vermeiden. 5 [...] Bei den sinnlichen Phänomen die generelle Attraktion, [...] und die spezielle am eigenen Selbst, [...] Diese beiden Extreme vermeidend, [...] dies sehend und wissend [...] führt zum nibbāna. Und was ist dieses mittlere

Vorgehen? Es ist der Edle Achtgliedrige Pfad, nämlich Rechte Erkenntnis [der Vier Edlen Wahrheiten; M.G.], Rechte Gesinnung [entsagende, aversionsfreie, friedfertige; M.G.], Rechte Rede [keine Lügen, Verleumdungen, Heimlichkeiten usf.; M.G.], Rechtes Handeln [nicht Töten, Stehlen, Ehebrechen usf ; M.G.], Rechter Lebenserwerb [keinen andere Wesen schädigenden Beruf ausüben; M.G.], Rechte Anstrengung [Leid bringende/fördernde Handlungen vermeiden, Leid reduzierende Handlungen fördern; M.G.], Rechte Achtsamkeit [hinsichtlich Gestalt, Empfindung, (unterscheidender) Wahrnehmung, Gewohnheiten/Willensäußerungen und Geist/Bewusstsein; M.G.], Rechte Sammlung [Bewusstheit des Geistes/Bewusstsein; M.G.]. 6 Der Achtgliedrige Pfad stellt so eine Art Heilung des Menschen dar, welche sein ethisch-integres Handeln motiviert und ihn über die Rechte Anstrengung zur Rechten Sammlung führen soll. Er repräsentiert den Weg von der Diagnose der Vier Edlen Wahrheiten zur Therapie des Pfades selbst. Die Krankheit des Menschen wird (1) an ihren Symptomen, den Fünf Kategorien von Daseinsfaktoren des Auf-sich- Beziehens, erkannt; (2) wird als ihre Ursache das Verlangen-nach lokalisiert, (3) gilt die Erkenntnis: Ist das Verlangen-nach beseitigt, so ist die Krankheit geheilt, (4) schließlich wird über den Achtgliedrigen Pfad das Verlangen-nach aufgehoben. Die Krankheit des Menschen heißt Leiden, als ihre Ursache gilt das Verlangen-nach, gleichwohl es nicht mit dem Leiden selbst verwechselt werden darf. Denn das grundsätzliche Leiden repräsentieren die Fünf Kategorien von Daseinsfaktoren des Auf-sich-Beziehens, der Attraktion, die den Menschen und alle Lebewesen mit Bewusstsein konstituieren. Ein folgenreicher Schluss aus dem Dargelegten lautet nun, dass hinter diese Konstituenten nicht mehr zurückgegangen werden kann und muss, dass sich kein individuelles Selbst, kein Subjekt dahinter finden lässt. Alle Entitäten existieren nur als Zusammengesetzte in Raum und Zeit und nicht aus sich heraus, sind somit non-inhärent. 7 Ihre Konstituierung ist ein höchst dynamischer Prozess und erfolgt beständig. Der vordergründig sinnliche und intellektuelle Eindruck von Konstanz respektive Permanenz trügt, spiegelt dem Menschen ein falsches Verständnis des eigentlichen Sachverhaltes aus seiner eigenen Unkenntnis und Unwissenheit um diesen heraus vor und verursacht in seiner Konsequenz dukkha, grundsätzliches Leid. In diesem Sinne zeigt der Buddha die Lebenssituation von Lebewesen (Defizienz), deren Ursache (Aversion, Attraktion, Unwissenheit), ihre Wandlung (Einüben ethisch-integre Handlungsweisen) und das Resultat dieser Wandlung (nibbāna) auf und forciert so die Kultivierung einer Haltungswandlung vom Hineindenken in eine Lebensweise zum Hineinleben in eine Denkweise. Da nun wusste die Nonne Vajirā, dass er Māra, der Versucher, ist, und erwiderte Māra, dem Üblen, die Verse: Warum hängst du so am Wort Lebewesen? Das ist nur deine Irrlehre Māra. Wo nur eine Anhäufung von bloßen Gestaltungen ist, da nimmt man keine Lebewesen wahr. Denn wie bei der Ansammlung der Bestandteile das Wort Wagen entsteht; so entsteht, wenn die Daseinsfaktoren vorhanden sind, der Ausdruck Lebewesen. Aber nur das Leiden entsteht da, Leiden ist vorhanden und vergeht. Nichts außer dem Leiden entsteht, nichts anderes als das Leiden wird aufgehoben. 8 Als leer betrachte die Welt, Mogharāja, sei immer besonnen, rotte die Anschauung des Ich aus; so wirst du den Tod überwinden. Wer die Welt so betrachtet, den sieht der Todesfürst nicht. 9

Das Majjhimaninikāya, die Sammlung mittellanger Reden, ist Bestandteil des Suttapiṭaka, des zweiten Korbes, und befasst sich u.a. mit der Lehre vom abhängigen Entstehen (Pāḷi, paṭiccasamuppāda), welche nun das Wissen um die Daseinsfaktoren und die Vier Edlen Wahrheiten zur Voraussetzung hat. Liegt bei diesen der Schwerpunkt auf einer Anleitung zur Leidensfreiheit, gleichwohl diese ebenfalls eine Analyse des menschlichen Daseins darstellen, so erläutert die Lehre des abhängigen Entstehens akzentverschoben das ursächlich, besser konditional bedingte Entstehen von Leiden. Sie liefert in der Formel vom abhängigen Entstehen die Antwort auf die Frage nach dem Warum?. Die Ursache von Leiden wird hier nicht mehr primär im Verlangen-nach gesucht, sondern in einer grundsätzlichen Unwissenheit über den beschriebenen Sachverhalt gefunden. Wenn dieses ist, ist jenes, infolge dieses [Prozesses; M.G.] entsteht jener [Prozess; M.G.]; wenn dieses nicht ist, ist jenes nicht, infolge der Aufhebung diese [Prozesses; M.G.] wird jener [Prozess; M.G.] aufgehoben; das will sagen: Wenn Unwissenheit ist, sind Prozesse [des Gestaltens und des Gestaltetseins; M.G.]; [...] ist Bewusstsein; [...] ist die physisch-mentale Gestalt; [...] sind die Sechs Grundlagen [der mentalen Vorgänge: fünf Sinnesorgane und Bewusstsein; M.G.]; [...] ist Gewohnheit/Willensäußerung; [...] ist Empfindung; [...] ist Verlangen-nach, [...] ist Anhaften [-an ]; [...] ist Werden; [...] ist [Wieder-] Geburt; [...] stellen sich Alter und Tod [...] ein. Solcherart ist der Ursprung dieser gesamten Leidensmasse. Auf der vollumfänglichen Annullierung der Unwissenheit beruht deren Überwindung [...]. Dergestalt ist die Annullierung der gesamten Leidensmasse. 10 Die Lehre vom abhängigen Entstehen spiegelt in der Abfolge ihrer Glieder das Entstehen und das Beendigen von Leiden wieder. Sie beschreibt, wie eine Position innerhalb des Prozesses konditional die nächste Position bedingt und dabei die vermeintlichen (Folge-) Positionen selbst wieder Prozesse darstellen. Hierbei darf diese Lehre vom abhängigen Entstehen jedoch nicht mit einer reinen Kausalkette verwechselt werden: Sie verkörpert eine Abfolge von Konditionen, von sich wechselseitig bedingenden Verhältnissen. Die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtgliedrige Pfad liegen ihr zugrunde. Im Majjhimaninikāya fällt die starke antimythische Tendenz des Buddha auf. Der eigentliche Ursprung der buddhistischen Dialektik ist Foto: Ani Lodrö Palmo dessen Schweigen, welches in Äußerungen zum Tragen kommt wie: Darum, Māluṇkyāputta, was von mir hier nicht erklärt worden ist, das lasset nur unerklärt bleiben, und was von mir erklärt worden ist, das möget ihr als erklärt festhalten. 11 Das Eigentliche ist dem Denken sowohl transzendent wie auch transzendental. Dies Schweigen des Buddha deutet auf eine Zurückweisung der verschiedenen Standpunkte innerhalb der phänomenalen Welt des Denkens hin. Die Geburt des dialektischen Bewusstseins erlaubt kein Festhalten an einem bestimmten Standpunkt, weil gerade dies den Streit unter den Standpunkten verursacht. 12 Dies Schweigen muss interpretiert werden als das klare nicht-sprachliche Bewusstsein von der Unmöglichkeit, das nicht zu Benennende beschreiben zu können. Der Buddha sieht, dass Dialektik als Widerstreit in der Vernunft durch diese nicht aufzuheben ist. Eine unter Identitätszwang arbeitende vereinheitlichende Vernunft schadet sich selbst und ist zum Scheitern verurteilt. Es ist die Aufgabe des Denkens, die eigenen Grenzen einzusehen, das Terrain aber auch auszuloten, und dennoch nicht mit Gewalt das Undenkbare denken zu wollen. Ein derartiges Denken ist leidhafte Handlung (neben physischen und verbalen Handlungen) und zum Scheitern verurteilt. Die Lehre vom abhängigen Entstehen stellt die Phänomene der Welt als sich gegenseitig (konditional) bedingende dar und es ist letztlich keine aus sich heraus bestehende Entität,

keine Inhärenz, weder Anfang noch Ende auszumachen. Der Prozess des Bedingens ist in sich geschlossen. Fragt die Vernunft nun nach den Eckpunkten dieses Bedingens, dieses in sich geschlossenen Verhaltens-zu, nach dem Sein des Etwas eines sich Verhaltens, so antwortet der Buddha: So ist es auch [...] wenn da einer spricht: Nicht eher will ich beim Erhabenen ein Asketenleben führen, bis mir der Erhabene mitgeteilt haben wird, ob die Welt ewig oder vergänglich ist, [...] ; nicht genug könnte der Vollendete [...] einem solchem mitteilen, denn er stürbe zuvor. [...] Was aber [...] habe ich mitgeteilt? Das ist das Leiden [...] Das ist die Entstehung des Leidens [...] Das ist die Aufhebung des Leidens [...] Das ist der zur Aufhebung des Leidens führende Achtgliedrige Pfad. Und warum [...] habe ich das mitgeteilt? Weil es [...] heilsam [...] ist, weil es zur Abkehr, Wendung, Auflösung, Aufhebung, Einsicht, Erkenntnis, zur Annullierung führt; darum habe ich das mitgeteilt. 13 Phänomene existieren und nicht-existieren und existieren-und-nicht-existieren nicht und weder-existieren-noch-nicht-existieren und kein (scheinbarerer) Verfasstheitsaspekt besitzt hier den Vorrang. 14 Die Praxis einer auf Identität pochenden Vernunft besteht gerade darin, dies, was über das Denken hinausgeht, gewaltsam wieder hereinzuholen. Schweigen dagegen ist die Erfahrung des Scheiterns der intelligiblen Vernunft. Im Abhidhammapiṭaka wird nun u.a. die folgenschwere Frage abgehandelt, welche sich die Mönche kurz vor dem Tode des Buddha stellten: Wer tritt die Nachfolge dieser Autorität an? In der Beantwortung spricht sich der Buddha gegen eine Folgeautorität aus und verweist die Mönche auf ihre eigene Person und auf den dhamma, die Lehre selber: Da sprach der Erhabene zum Ehrwürdigen Ānanda: Es könnte sein, Ānanda, daß euch der Gedanke käme: Das Wort hat seinen Lehrer verloren, wir haben keinen Lehrer mehr. So, Ānanda, sollt ihr es nicht auffassen. Der dhamma und die Disziplin, Ānanda, die euch von mir gelehrt und verkündet worden sind, diese sollen nach meinem Tode euer Lehrer sein. 15 Ich habe, Kālāmer, gesagt: Geht nicht, Kālāmer, nach Hörensagen, nicht nach dem, was traditionsgebunden einer dem anderen nachredet, nicht nach Gerüchten, nicht nach der Überlieferung etwaiger heiliger Schriften, [...] 16 Ich lehre den Pfad zur Befreiung. Die Befreiung selbst aber hängt von dir ab. 17 Der Buddha betont an diesen und vielen anderen Textstellen nicht, dass wir frei sind für, er ordnet die menschliche Freiheit keinem Zweck unter. Er stellt sie nicht in den Dienst eines höheren Ideals, welches die Freiheit augenblicklich unterdrücken würde. Der dhamma des Buddha macht frei von allem: frei von Autoritäten, einem verdinglichten Gott, von einer idealisierten Menschheit, frei von einer programmatischen Gesellschaft frei vom Defizienten, vom Leiden. Wie soll nun aber jener, welcher um den dhamma weiß, sein Leben gestalten? Den Mittleren Weg soll er beschreiten. Er soll extreme Übungen, extreme Askese, überhaupt soll er Extreme vermeiden, will er als Erkennender anderer Vorbild sein: Das Erkennbare, Bruder, kann man durch das Auge der Weisheit begreifen. Und die Weisheit, Bruder, wozu dient sie? Die Weisheit, Bruder, dient zum Durchschauen, dient zum Durchdringen, dient zur Sinnenerlösung. Welche Bedingungen liegen nun, o Bruder, dem Erkennenden zugrunde? Zwei Bedingungen, o Bruder, liegen dem Erkennenden zugrunde: die Stimme eines anderen [Erkennenden, d.i. Erkannt-habenden; M.G.] und tiefes Nachdenken. Das sind die zwei Bedingungen, o Bruder, welche dem Erkennenden zugrunde liegen. Was für Eigenschaften muss aber, Bruder, der Erkennende besitzen, um die Frucht der Sinnenerlösung zu bringen und den Gewinn dieser Frucht, um die Frucht der Weisheitserlösung zu bringen und den Gewinn dieser Frucht? Fünf Eigenschaften, Bruder,

muss der Erkennende besitzen, um die Frucht der Sinnenerlösung zu bringen und den Gewinn dieser Frucht, um die Frucht der Weisheitserlösung zu bringen und den Gewinn dieser Frucht: da besitzt, o Bruder, der Erkennende die Eigenschaft des ethisch-integren Verhaltens, die Eigenschaft der lebenspraktisch umgesetzten Erfahrung derselben, die Eigenschaft des Mitteilens [verbal und physisch; M.G.], die Eigenschaft der Ruhe und die Eigenschaft der Klarsicht. Diese fünf Eigenschaften, Bruder, muss der Erkennenden besitzen, soll er die Frucht der Sinnenerlösung bringen und den Gewinn dieser Frucht, soll er die Frucht der Weisheitserlösung bringen und den Gewinn dieser Frucht. 18 Die Mittlere Lehre, den Mittleren Weg geht der Erkennende und meidet hermeneutische, anthropologische, ethische und ontologische Extreme: Phänomene sind, insofern sie von anderen Phänomenen bedingt sind. In diesem Sinne ist nibbāna keine differente Wirklichkeit, könnte keine differente sein, ohne die gesamte Grundlage des dhamma zu zerstören. nibbāna ist nicht die vermeintlich wahre(re) Wirklichkeit. Es gibt nibbāna nicht im ontologischen Sinne. Die phänomenale Welt, saṃsāra, ist vollkommen wahr, nur wird sie unwissend nicht so wahrgenommen, eben non-inhärent. saṃsāra ist nibbāna, ein gegenseitiges sich Aufeinander-Beziehen von Leerstellen der Inhärenz, dies gilt es zu erkennen, dies gilt es zu leben, dies bedeutete letztlich Leidensfreiheit. Literatur: Aṅguttaranikāya, Dīghanikāya, Majjhimaninikāya, Samyuttanikāya, Samyuttanikāya, Suttapāta, Udāna. In: Sayagyi Dr. S.N. Goenka: Chaṭṭha Saṅgāyana CD-Rom Version 3. Vipassana Research Institute. Dhammagiri 1999. Nāgārjuna: Mūlamādhyamakakārikā. In: Ders.: Mulamadhyamakakarikas de Nagarjuna avec la Prasannapada Commentaire de Candrakirti. Louis de la Poussin (Edt.) (Bibliotheca Buddhica IV). Osnabrück 1970. Udānavarga. Eine Sammlung buddhistischer Sprüche in tibetischer Sprache; Nach dem Kanjur und Tanjur mit Anmerkungen. Hg.v. H. Beckh. Berlin 1911. 19 1 Der Textkorpus des sog. Pāḷi-Kanons, der tipiṭaka (Pāḷi, Dreikorb), beinhaltet in einem Korb Texte der Ordensdisziplin im weitesten Sinne, dem Vinayapiṭaka, in einem zweiten Korb die Lehrreden des Buddha in fünf Sammlungen (Nikāya), dem Suttapiṭaka, und in einem dritten Korb Texte der buddhistischen Scholastik, dem Abhidhammapiṭaka. 2 Gemeint ist Pāḷi: dukkha, eine grundsätzliche Defizienz, welche im Zusammenspiel mit Pāḷi: anicca, Non-Permanenz, und Pāḷi: anatta, Non-Inhärenz, die Beschaffenheit der weltlichen Phänomene ausmacht. In seiner anthropologisch-ethischen Engführung ist dukkha mit Leiden wiederzugegeben. 3 Das Auf-sich-Beziehen von (phänomenaler) Gestalt, Empfindung, (unterscheidender) Wahrnehmung, Gewohnheiten/Willensäußerungen und Geist/Bewusstsein. 4 Samyuttanikāya, CVI,11. 5 Die Nichtselbsthaftigkeit (Pāḷi, nerāttehi dvividhaṃ) ist zweifach: Nichtselbsthaftigkeit der Lebewesen/Personen (Pāḷi, puggalanerāttehi) und Nichtselbsthaftigkeit der Phänomene/Non-Inhärenz (Pāḷi, dhammanerāttehi). 6 Samyuttanikāya, CVI,11. 7 Inhärenz (lat. inhaerere, in etwas hängen) bezeichnet das Verhältnis der Eigenschaften zu einem Träger der Eigenschaften. Ähnlich wie suñña (Pāḷi, leer von) meint hier Non-Inhärenz das frei sein der konventionellen und konzeptionellen Eigenschaften von einem Träger derselben. Die Eigenschaften rechtfertigen sich in einem Interdependenzzusammenhang ohne eines inhärenten Wesenskernes zu bedürfen. Des Weiteren meint Non-Inhärenz (Pāḷi suññatā) auch, frei von Inhärenz im Sinne von Attraktion zu einem Träger derselben zu sein. 8 Samyuttanikāya, V,10. 9 Suttapāta, V,16. 10 Udāna, I,3. 11 Majjhimaninikāya, 63. 12 Nāgārjuna: Mūlamādhyamakakārikā, XXV und XXVII. 13 Majjhimaninikāya, 63. 14 Ebd. 15 Dīghanikāya, XVI,6,1-3. 16 Aṅguttaranikāya, III,65. 17 Udānavarga, 29. 18 Majjhimaninikāya, 43.