- 1 - Die Zeit Bühnenbild: Eine Bank, auf der ein Blinder sitzt, dessen Blindheit dadurch erkannt wird, weil er beide Augen verbunden hat. Der Blinde hält ein Buch in der Hand und blättert jede zwei Minuten eine Seite weiter. Im Hintergrund steht eine große Wanduhr. Den Weg deutet eine Laternenreihe an. Ein Mann kommt von links den Weg entlang. Mann ((bleibt stehen): Wünsche auch einen schönen Tag. Blinder: Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Mann (zur Uhr wendend): Ein Uhr und 28 Minuten (geht weiter nach rechts) Kurz danach schlägt die Uhr halb zwei. Ein zweiter Mann, der nur auf einem Auge blind ist, kommt von links herein. Er setzt sich zum Blinden mit dem Buch auf die Bank. Halbblinder (setzend): Schönen Tag auch! Blinder: Könnten sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder (zur Uhr umdrehend): Ein Uhr und 32 Minuten. Blinder: Ja, ja, die Zeit. Halbblinder: Es stimmt schon. Ich fühle es, wie sie vergeht. /Stille - Ein Geschäftsmann kommt von rechts herein) Geschäftsmann: Guten Tag die Herren. Blinder: Könnten Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Geschäftsmann (zur Uhr drehend): Ein Uhr und 34 Minuten. (Pause) Woher nehmen Sie sich eigentlich die Zeit, um hier sitzen zu können? Blinder: Ja, ja, die Zeit. Halbblinder (setzend): Es stimmt schon, ich fühle es, wie sie vergeht. Blinder: Irreversible Einheit, die Zeit. Haben Sie keine Zeit? Geschäftsmann: Nein, nicht daß ich sie verschwenden könnte! Blinder: Ich - für meinen Fall - verschwende sie nicht. Äffchen, was ist mit Dir? Halbblinder (seufzend): Verschwende auch keine Zeit. Geschäftsmann: Wenn ich nur mit Ihnen tauschen könnte! Blinder: Ihnen würde es nicht gefallen - glauben Sie mir. Halbblinder: Setzten Sie sich doch eine Weile zu uns. Sie werden sehen, daß es nicht geht. Geschäftsmann: Nun gut. (setzt sich zu den beiden) Blinder (nach einer Weile): Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Geschäftsmann (zur Uhr drehend): Ein Uhr und 36 Minuten. (Pause) Die Zeit vergeht viel langsamer! Blinder: Nein, das bilden sie sich nur ein. Halbblinder (steht auf): Ja, ja, alles Einbildung. Blinder (nach einer Weile): Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen?
- 2 - Geschäftsmann (zur Uhr drehend): Ein Uhr und 38 Minuten. (Pause) Warum fragen sie alle exakt zwei Minuten nach der Zeit? Wie kommt es, daß es gerade zwei Minuten sind, sie sind doch blind! Und was soll das Buch? Blinder: Jede Seite eine Minute. Jedes Buch ein Tag. Viele Bücher sind schon durch meine Hände geglitten und soviel Zeit habe ich verschwendet! Geschäftsmann: Konnten Sie einmal sehen? Halbblinder (setzend): Ja, das konnte er. Geschäftsmann: Und wieviele Bücher haben sie gelesen? Blinder: Alle! Geschäftsmann: Dann müssen sie aber sehr weise sein. Halbblinder: Er war einmal sehr klug. Blinder: Könnte jemand so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder: Ein Uhr und 42 Minuten. Blinder: Oh, es ist schon spät geworden. Halbblinder: Er unterrichtete einmal Germanistik an einer Universität. Geschäftsmann: Wie kommt es, daß er blind ist? Und wie kommt es, daß sie auf einem Auge blind sind? Blinder: Es war die Zeit, die uns zu Blinden machte. Geschäftsmann: Die Zeit? Halbblinder: Ja, die Zeit. (Pause) Sie müssen verstehen, er ist schon alt. (Pause) Ich dagegen verlor das Licht meiner Augen durch einen Unfall. Blinder: Er stolperte, stieß sich dabei mit einem Stock, den er als Spazierhilfe nahm, das Auge aus. Geschäftsmann (zum Halbblinden): Was taten Sie früher und warum nennt er Sie 'Äffchen'? Halbblinder: Ich? (Pause) Nun, ich war früher einmal sein (zeigt auf den Blinden) Kollege. Äffchen heiße ich, weil ich damals immer nur Blödsinn im Kopf hatte. Deshalb verlor ich auch mein Augenlicht. Geschäftsmann: Ihr seid ja beide verrückt! Blinder: Verrückt? Jemand wird von einem Menschen dann als verrückt bezeichnet, wenn dieser etwas tut, mit dem die Gesellschaft nicht einverstanden ist. (Pause) Könnte jemand so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Geschäftsmann (steht auf): Immer diese Zeit! Zeit hier, Zeit dort! Warum sitze ich hier und verschwende sie? Halbblinder (zur Uhr drehend): Ein Uhr und 48 Minuten. Blinder: Wir sagten Ihnen doch gleich, daß es Ihnen nicht gefallen wird. Doch Sie wollten nicht hören. Der Geschäftsmann geht nach links weg. Eine Weile keine Worte. Blinder: Ja, ja, die Zeit. Halbblinder: Er wußte eben nicht, was es heißt, Zeit zu haben. Nun ja, wir haben auch nicht mehr lange Zeit. Blinder (traurig): Ja, ja, die Zeit. Auch wir beide kommen an das Ende unserer Zeit. Jetzt zwar nicht, aber vielleicht morgen. Keiner weiß es und doch ist es schon festgelegt. (Pause) Ein Junge kommt von rechts herein.
- 3 - Junge: Hallo Ihr beiden! Blinder: Könnten Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Junge: Ein Uhr und 54 Minuten. Halbblinder: Bald Zeit für die Kirche. Junge: Ja, ich muß ministrieren. Der alte Schiller, der alte Millionär an der Hauptstraße, der ist gestorben. Blinder: Das macht die Zeit. Sie gibt uns und nimmt uns unsere Zeit und zuckt nicht mit einer Wimper dabei. Junge: Ich muß weiter - Ade! (geht nach links hinaus) Von rechts kommen Leute in Schwarz und gehen nach links. Halbblinder: Da kommen die Schaare, die dem Alten nachtrauern und um ihn weinen. Ein falsches Spiel, weil sie wahrscheinlich hinter der Erbschaft her sind. Schrecklich! Blinder: Nimm's nicht von der schlechten Seite. Vielleicht war er doch einmal beliebt. Halbblinder: Trotzdem! Da gehen sie in die Kirche, sprechen ihre Gebetsformeln zu einer rund 2000 Jahre alten Person. Hat diese Person überhaupt gelebt? Blinder: Auch das macht die Zeit. Sie verwischt die Spuren der Vergangenheit und läßt uns rätseln. (Pause) Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder (zur Uhr drehend): Ein Uhr und 58 Minuten. Blinder: Nur noch 2 Minuten bis 2 Uhr, einer neuen Stunde. Schließlich schlägt es zwei Uhr. Die beiden sitzen noch eine Weile. Endlich kommt von links eine junge Frau herein. Frau: Guten Tag die Herren. (Pause) Was tun Sie eigentlich hier? Jedes mal, wenn ich hier vorbei komme, sitzen Sie da auf dieser Bank. Egal bei welchem Wetter. Blinder: Könnten Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder (setzend): Es ist 2 Uhr und 2 Minuten. Frau: Seit ich nun 2 Jahre hier vorbeikomme - immer dasselbe - auch immer die gleiche Frage. Blinder: Nun, wir zählen die Zeit. Halbblinder: Ja, ja, zählen die Zeit. Frau: Zählen? Ich habe nur gehört, daß man sie verschwenden kann, doch zählen? Blinder: Entschuldigen Sie bitte, wir verschwenden keine Zeit, wir passen nur auf, daß sie da bleibt. Halbblinder: Ja, ja, aufpassen auf die Zeit. Frau: So, so. (läuft kopfschüttelnd nach rechts) Blinder: Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder: Zwei Uhr und 6 Minuten. Ein alter Mann läuft von rechts langsam nach links. Er wird von einem jüngeren (Ministrant) überholt. Blinder: Was geschieht dort, berichte mir Äffchen! Halbblinder: Ein alter Mann wird von einem jüngeren überholt.
- 4 - Blinder: So, so. Halbblinder (steht auf): Entsetzlich! Warum kann der alte Mensch nicht schneller sein als der Jüngere? Beide Männer verschwinden. Halbblinder setzt sich. Blinder: Das ist die Zeit. Junge Menschen haben keine und alte haben sie im Überfluß. Nicht entsetzlich - das ist natürlich und zweitens können alte Menschen nicht mehr so schnell. (Pause) Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Halbblinder (zur Uhr drehend): Zwei Uhr und 10 Minuten. Blinder (nach einer Weile): Äffchen, weißt Du was draußen in der Welt geschieht? Halbblinder: Tut mir leid, ich habe keine Ahnung. Blinder: Es dauert eh nicht mehr lange, da sind auch wir beide verschwunden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand davon Notiz nehmen würde. Somit ist es unwichtig, was geschieht, was geschehen wird oder was geschehen ist. Halbblinder: Ja, ja, lange wird es nicht mehr gehen. Ein Mädchen kommt hüpfend von rechts herein. Mädchen: Hallo Ihr beiden! Blinder: Können Sie so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Mädchen: Zu mir kannst Du schon noch Du sagen. So genau nehm' ich's da nicht. (Halbblinder setzt sich) Halbblinder (zur Uhr drehend): Zwei Uhr und 16 Minuten. Eine Frau, des Mädchens Mutter, kommt von links herein. Mutter: Lieschen, komm', die beiden sind nicht ganz richtig im Kopf. Die sind doch verrückt. Mädchen: Sie sind aber freundlich, laß mich eine Weile bei Ihnen. Blinder: Jemand wird von einem Menschen als verrückt verzeichnet, wenn dieser etwas tut, mit dem die Gesellschaft nicht einverstanden ist. Halbblinder (setzend): Ja, nicht ganz einverstanden. Mädchen: Da hörst Du's wieder! Mutter geht nach links hinaus. Mädchen setzt sich neben den Blinden. Mädchen: Darf ich mir das Buch ansehen? Blinder: Nun, das ist kein normales Buch, bitte sei deshalb vorsichtig! (gibt dem Mädchen das Buch) Mädchen (lesend): Platon - geboren 428, gestorben 347 vor Christus. Blinder: Ja, ja, schon lange her. Mädchen: Griechischer Philosoph. Er war Schüler bei Sokrates. Blinder: Bitte ließ nicht mehr weiter. Du rufst meine Erinnerungen meiner alten Tage wach. Kannst Du so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Mädchen: Zwei Uhr und 25 Minuten.
- 5 - Blinder: Blättere schnell 10 Seiten weiter. Das Mädchen blättert, währenddessen geht die Uhr auf halb drei. Blinder: Die Zeit! Schnell, sag mir die Zeit. Mädchen: Zwei Uhr und 30 Minuten. (Pause) Ich habe aber keine 5 Minuten geblättert. Blinder (erleichtert): Mach Dir keine Gedanken darüber, es ist wieder alles in Ordnung. Halbblinder (steht auf): Ich muß mich von Euch verabschieden. (geht nach rechts weg) Mädchen blättert im Buch rückwärts. Die Uhr geht nach 10 vor hab 3 Uhr zurück. Blinder: Kannst Du so freundlich sein und mir die Zeit sagen? Mädchen: 2 Uhr 20 Minuten. (Pause) Was? Blinder: Ich fühlte es, ich habe es ganz deutlich gespürt! Man darf in diesem Buch nicht rückwärts blättern, sonst machst Du dies oder jenes zunichte! Ein junger Mann geht von links nach rechts, er wird von einem Alten überholt (selbe Personen, wie schon einmal) Blinder: Ist das wieder der alte und der junge Mann? Mädchen: Ja, der alte überholt den jungen. Warum denn das? Blinder: Siehst Du, das ist die Wirkung. Zeitnot wird zu Zeitüberfluß und umgekehrt genauso. (Pause) Bitte blättere jetzt 20 Seiten vor, damit der alte nicht in jenem Zeitdruck bleibt. Mädchen blättert vor, der alte Mann wird langsamer, so daß ihn der junge überholt. Die Uhr stellt sich wieder auf 2 Uhr und 30 Minuten. Mädchen: Wie kommt das? Blinder: Das macht die Zeit. Es war eben eine zeitliche Einbildung, wie eben alles Einbildung ist. Mädchen: Ich muß gehen, tut mir leid. (Gibt dem Blinden das Buch) Du bist weise und ich mag Dich. Tschüß dann. (steht auf und geht nach links weg) Blinder: Ja, ja, die Zeit. Nun sitze ich hier alleine und keiner kann mir die Zeit sagen. (Pause) Viele Menschen haben keine Zeit, doch sie sind selbst daran schuld, daß sie sie nicht haben. (Pause) Sind die Menschen dagegen alt, so verschwenden sie die Zeit, weil sie zu viel davon haben. Unausgeglichen. (Pause) Die Zeit macht einen zu dem was man ist, heilt Schrammen und läßt einen auch vergessen. Ein Weiser tritt hinter der Uhr hervor. Weiser: Ja, die Zeit, sie läßt vergessen, hilft aber auch zu verstehen. So ist selbst die Geschichte nicht zeitlos, weil sie immer mehr in Vergessenheit gerät. Eben solange, bis sie ganz verschwunden ist, bis sie von der neuen Geschichte eingeholt ist. (Pause) Die Zeit bestimmt unser Leben. So lehrt uns das Vergangene. Dagegen kann sich am Vergangenen nichts mehr ändern, so daß wir nur aufpassen müssen, daß sich das Schreckliche der Vergangenheit nicht wiederholt. Blinder: Wie recht er hat.
- 6 - Weiser: Auch Deine Zeit ist gezählt. Bereite Dich nun vor, weil Du bald, sehr bald sterben wirst. Es tut mir leid, auch ich kann daran nichts ändern. Blinder: Das braucht ihm nicht leid zu tun, weil es der Lauf der Dinge ist, der mich zum Tode verurteilt. Weiser: Seine Tage sind gezählt. Sein Leben, von der Zeit geprägt, wird nun zu Ende geh'n. der Wind wird weiter weh'n, denn er hat endlos Zeit, wie kein andrer Mensch, der hier verweilt. Blinder: Nur mein Körper wird noch übrig sein, wird sich in seine Bestandteile zerlegen und diese in das zeitlose übergehen. (legt sich auf die Bank) Weiser: Nun ist er tot, trat über zu den anderen. (tritt wieder hinter die Uhr) von links kommen: Geschäftsmann, Ministrant, Mädchen und Mutter von rechts kommen: Halbblinder, junge Frau und Mann Die beiden Gruppen bilden einen Korridor zur Bank. Linke Gruppe: Was ist geschehen? Rechte Gruppe: Was ist mit ihm? Linke Gruppe: Schläft er? Rechte Gruppe: Oder ist er tot? Linke Gruppe: Wenn er schläft, dann weckt ihn! Rechte Gruppe: Warum wir? (Mädchen stellt sich hinter die Bank und rüttelt ihn) Linke Gruppe: Er ist tot. (Halbblinder fühlt den Puls des Blinden, läßt die Hand aber wieder fallen) Rechte Gruppe: Er ist tot! Mädchen: Tot? (Pause) Das macht die Zeit. (Sie nimmt das Buch, schließt es und legt es auf seine Brust) Geschäftsmann: Er hatte so viel Zeit, mit der er nun nichts mehr tun kann. Halbblinder: Er war doch so gebildet. Junge: Schon wieder ministrieren. Frau: Er war zu mir immer freundlich. Mutter: Er war verrückt. Mann: Er war immer sehr an der Zeit interessiert. Mädchen: Nein, nein! Er war ein freundlicher alter Mann. Die Zeit machte ihn zu dem, was ihr alle sagt. Sein Leben war von der Zeit bestimmt, wie die Euren auch! Alle: Ja, es war die Zeit, es war eben die Zeit. Die Uhr schlägt 3 Uhr ~ ENDE ~ (11.01.1990 Jörg Drescher)