Neurowissenschaft und Schule. Schule mit Hirn. Neurowissenschaftliche Befunde und ihre Konsequenzen für pädagogisches Handeln.

Ähnliche Dokumente
Das autobiographische Gedächtnis

Seminar. LV Entwicklungswissenschaft I: Biopsychosoziale Grundlagen der Entwicklung. Gliederung. Prof. Dr. phil. Herbert Scheithauer

Störungen höherer Hirnleistungen nicht übersehen DemenzScreening

Psychologisches Institut, Lehrstuhl für Neuropsychologie Hirn und Lernen

Lernen braucht Bewegung ein Leben lang

Bewegt sich der Körper, bewegt sich der Geist

Präfrontalkortex & Sucht: Jugendalter im Fokus

Emotionsarbeit und Emotionsregulation Zwei Seiten der selben Medaille?

Frühkindliche Gehirnentwicklung

Gibt es den richtigen Zeitpunkt für ein zweites Cochlea-Implantat? -

1 Einleitung Erster Teil: Theoretischer Hintergrund Warum Mathematik? - Bedeutung des Faches Mathematik... 14

Zur pädagogischen Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ein Überblick über die Debatte

Inhalt und Überblick

Normale Entwicklung. Neurobiologische Erkenntnisse über die Entwicklung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zunahme der Körpergröße

Die tun nix! Die wollen nur spielen Entwicklungspsychologie, Hirnforschung und jugendliches Verhalten

Pubertät Umbauarbeiten im Gehirn

Teaching a Foreign Language at. Prof. Elfriede Steiner, MA BEd. Primary Level 1

Geschlechtsunterschiede und der Einfluss von Steroidhormonen auf das sich entwickelnde menschliche Gehirn

Entwicklungsveränderungen im eigenverantwortlichen Denken und Handeln

Sprachentwicklungsvoraussetzungen und Voraussetzungen der Sprachanwendung

Wie Vertrauen im Gehirn entsteht

Stress und seine Folgen

Prof. Dr. Robert Gaschler. Biologische Grundlagen der Psychologie. kultur- und sozialwissenschaften

Projektvorstellung: EMIL- Emotionen regulieren lernen. Ein Projekt der Baden-Württemberg Stiftung

Gehirn & Bewegung. Lass dein Gehirn nicht sitzen! unter geschlechtsspezifischer Fragestellung

Emotionen und kognitives schulisches Lernen aus interdisziplinärer Perspektive

Neurobiologie und Pädagogik. - Neuropädagogik? -

Gehirn und Aggression Aggressives Verhalten beim Menschen aus neurowissenschaftlicher Perspektive

Förderung exekutiver Funktionen. 08. und 09. Juni 2011 Laura Walk, Dipl. Sportwissenschaftlerin

Inadäquates und herausforderndes Verhalten bei Kindern im Autismus- Spektrum: vom Reagieren zum Agieren

Blick ins Gehirn Worauf es beim Lernen ankommt. Dr. Katrin Hille TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Universität Ulm

Vorlesung: Kognitive Neuropsychologie

Beiträge der Hirnforschung zur. auf der Sekundarstufe I. Netzwerk. Dr. Dominik Gyseler

P.H.Lindsay D.A.Norman. Psychologie. Informationsaufnahme und -Verarbeitung beim Menschen

Warum sie so seltsam sind

Vorlesung: Kognitive Neuropsychologie

A THEORY OF NEUROLINGUISTIC DEVELOPMENT. John L. Locke Teil I Referentin: Katharina Greff

lernvisionen Hansueli Weber 1. Vom Umgang mit Jugendlichen in der Pubertät

Trainingsbedingte Veränderungen der Verarbeitung von Schrift im Gehirn Erwachsener Dr. Melanie Boltzmann

Entwicklung, Bindung und Risiko

Zwischen Verstand und Gefühl. Von der klassischen Moralpsychologie zur aktuellen Hirnforschung. Angela Heine 8. Januar 2014

Rosenzweig und der Mozarteffekt Hanna Marahiel Anne Koch Gertje Doering Martin Nolte

Montessori-Pädagogik neuropsychologisch verstanden und heilpädagogisch praktiziert

Einführung in die Linguistik, Teil 4

How can the connectivity of the greenway network in Southwest Montreal be improved? Scenarios for enhancing the wellbeing of biodiversity and humans

Denn sie können nichts dafür

Neuropsychologie und Physiotherapie Wie können wir in der physiotherapeutischen Behandlung neuropsychologische Probleme beeinflussen?

Das Adoleszente Gehirn: Implikationen für die Entwicklung von psychiatrischen Störungen und Forensik im Jugendalter

oder: Was hat gelingende Führung mit Marshmallows zu tun hat!? Führen mit emotionaler Kompetenz

Massgeschneiderte Therapien: Stressmanagement und Achtsamkeit

Konflikt und die adaptive Regulation kognitiver Kontrolle

Autismus-Spektrum-Störung neuropädiatrische Einführung in das Thema

Garó D. Reisyan. Neuro-Organisationskultur. Moderne Führung orientiert an. Hirn- und Emotionsforschung. ^ Springer Gabler

vs. Weniger ist (emotional) mehr. Zwei Glaubensrichtungen im Marketing

Die Weiterbildung: Sorgenkind mit Zukunft. Dr. med. Werner Bauer Präsident SIWF

Neuropsychologie des Hydrocephalus. Dr. Michael Lingen

Förderung der Selbstregulationsfähigkeit durch Bewegung, Spiel und Sport

Neurobiologische Grundlagen der ADHS Update Teil 2

selbst ständig lernen Neurowissenschaftliche Grundlagen des Lernens

Kann lebenslanges Lernen das Demenzrisiko verringern?

Der Personzentrierte Ansatz und die Neurowissenschaften

DPM_flowcharts.doc Page F-1 of 9 Rüdiger Siol :28

Denken und Merken: Der Nutzen der Neuropsychologie bei MS

Vorlesung: Kognitive Neuropsychologie

Inhalt und Überblick. Visuelle Kognition Adrian Schwaninger Universität Zürich. Visuelle Kognition. Funktionaler Zugang.

Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

Auswirkung körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Dr. Sebastian Ludyga,

Zeit für Veränderung: Gehirnentwicklung im Jugendalter

Meditation ändert Hirnstrukturen

Comparison of the WB- and STAMP-Analyses. Analyses of the Brühl accident. 2. Bieleschweig Workshop. Dipl.-Ing. Oliver Lemke. Lemke,

EMOTIONALITAT, LERNEN UND VERHALTEN. Ein heilpadagogisches Lehrbuch

Wie und wo lernen Kinder am besten welche Bedingungen brauchen sie?

Das hochbegabte ehirn Gehirn Dr. Dominik Gyseler 21.. Mai Mai

Management von Humanressourcen Values, Attitudes, and Work Behavior. Prof. Dr. Michael J. Fallgatter

Vorwort von Gerhard Roth Einleitung: Was wollen w ir?... 15

Schwerpunkt Psychosomatik. Wie nimmt die Gestaltung der erlebten Umwelt des kritisch Kranken Einfluss auf dessen Krankheitsverlauf?

My Reading-Log. Eine Hilfe beim Lesen von englischen Ganzschriften in der Schule. Hinweise zur technischen Umsetzung:

Wächst etwas zusammen, was früher nicht zusammen gehörte?

Vygotsky. ( , Sowjetunion)

Bilder des Gehirns Bilder der Psyche

Die Hirnentwicklung des Kindes

Name: Klasse: Standardisierte kompetenzorientierte schriftliche Reifeprüfung AHS. 21. September Englisch. Schreiben. öffentliches Dokument

Kognitive Störungen und deren Implikationen bei der bipolaren Störung. Prof. Dr. Michèle Wessa

Von Geburt an sozial - Wie Babys ihre Welt wahrnehmen

Neurowissenschaften und Cognitive Sciences

Lehrstuhl für Sportpsychologie

Verhalten beginnt im Gehirn. Wie entsteht unser Bewusstsein? Nehmen und Geben Wie stark ist unser Egoismus?

~# Download Erwachsenenbildung bei geistiger Behinderung. Kognitive Bedingungen und motivationale Besonderheiten des Lernens...

Veränderungen der Belohnungsverarbeitung bei Alkoholabhängigkeit

Entwicklungs- und neuropsychologische Erkenntnisse für die Kinder- und Jugendförderung

Der Personzentrierte Ansatz und die Neurowissenschaften

Vorwort zur 1. Auflage Geschichte der kognitiven Neuro wissenschaften Beziehung zwischen Psychologie und Hirn forschung 27

Neuropsychiatrie eine neue Psychiatrie?

Social Sciences and Humanities role in Social Innovation Some key observations from the experience of TU Dortmund University sfs

Vaginal Operative Entbindung. Frank Louwen

Körperlich-kognitives Training exekutiver Funktionen. Dr. Sabine Kubesch ZNL. Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen

The Development and Use of Industrial Robots the Educational/Work Science Perspective (part 1)

Beleuchteter Spiegel

Von Hirnprozessen zum Lernen

Basic CLAAS Supplier Flexibility Requirements Grundlegende Flexibilitätsanforderungen an einen CLAAS Lieferanten

Transkript:

Schule mit Hirn Neurowissenschaftliche Befunde und ihre Konsequenzen für pädagogisches Handeln Gilbert Mohr Universität des Saarlandes Praxis für neuropsychologische Diagnostik und Rehabilitation Saarbrücken 15.11.2008 www.npp-sb.de 1 Neurowissenschaft was man darunter versteht Untersuchung von Verhalten, Denken, Lernen, Emotionen etc. die Überzeugung, dass Verhalten, Denken, Lernen, Emotionen etc. durch das Nervensystems gesteuert wird die Bemühung zu verstehen, wie das Nervensystem, das Gehirn Verhalten, Denken, Lernen, Emotionen etc. steuert. 15.11.2008 www.npp-sb.de 2 1

Zwei Positionen Neurowissenschaftliche Befunde sind für pädagogisches Handeln im Schulkontext irrelevant, weil das Gehirn dann schon fertig entwickelt ist. Neurowissenschaftliche Befunde liefern wesentliche Kriterien für die Unterscheidung guter und schlechter Bildungskonzepte. 15.11.2008 www.npp-sb.de 3 Gute und schlechte Bildungskonzepte aus neurowissenschaftlicher Sicht Orientierung an der optimalen Entwicklung des neuronalen Systems Entstehung möglichst leistungsfähiger perzeptueller und kognitiver Systeme Entstehung möglichst differenzierter emotionaler und sozialer Regulation keine zweckoptimierenden Kriterien (z.b. möglichst schnell, möglichst angepasst an welches politisches, ideologische oder ökonomisches Bedürfnis auch immer) 15.11.2008 www.npp-sb.de 4 2

Überblick Die Hirnentwicklung ist im frühen Kindesalter nicht abgeschlossen. Im Schulalter finden spezifische Reifungsprozesse im Bereich höherer kognitiver Funktionen und im Bereich emotionaler und sozialer Regulation statt. Der Aufbau gesunder neuronaler Systeme hängt mitunter von sensitiven Zeitfenstern ab. Inadäquate Umweltbedingungen in diesen sensitiven Phasen führen zu Pathologien oder Limitationen der Verarbeitung. Systematische Überforderung des neuronalen Systems führt zu funktionellen Defiziten und hirn-strukturellen Veränderungen Kognitive Leistungsfähigkeit ist nicht unabhängig von emotionalen Prozessen Neuronale Exzellenz entsteht nicht durch repetitives Einüben, sondern durch Agieren innerhalb herausfordernder Umgebungen, die den Aufbau neuen Verhaltens stimulieren. In den Bereich schulischer Bildung fallen massive neuronale Strukturierungsprozesse, die exekutive Funktionen, emotionale Regulation und soziale Interaktion steuern. 15.11.2008 www.npp-sb.de 5 Hirnentwicklung - lebenslang Es ist falsch anzunehmen, dass die Hirnentwicklung vor Beginn der schulischer Bildungsbemühungen abgeschlossen ist. Es ist falsch anzunehmen, dass die Entwicklung neuronaler Systeme unabhängig von Umweltfaktoren abläuft und damit Handeln in der Schule für die Hirnentwicklung irrelevant ist. Therefore, cognitive processing itself shapes the neural networks that are responsible for this processing in the first place. These changes to the brain s hardware in turn change the nature of representations and their processing, which leads to new experiences and further changes to the neural systems. Therefore, the basis of cognitive development can be characterized by mutually induced changes between the neural and cognitive levels. (Westermann et al., 2007 p.75) 15.11.2008 www.npp-sb.de 6 3

Lenroot,& Giedd, 2006 15.11.2008 www.npp-sb.de 7 Synaptogenese 15.11.2008 www.npp-sb.de 8 4

Myelinisierung 15.11.2008 www.npp-sb.de 9 Graue und weiße Substanz 15.11.2008 www.npp-sb.de 10 5

Gogtay et al., 2004 15.11.2008 www.npp-sb.de 11 Hirnentwicklung: Deprivation und kritische Zeitfenster Das Gehirn ist keine bei der Geburt fertige Maschine, die man nach Belieben wofür auch immer benutzen kann. Das Gehirn wird im positiven wie im negativen Sinn von Erfahrungen gestaltet (Neurokonstruktivismus). Für den Aufbau mancher Leistungen braucht es Erfahrungen innerhalb eines sensiblen Zeitfensters. Außerhalb dieses Zeitfensters entstehen bestimmte neuronale Strukturen und auch die entsprechenden Leistungen nicht mehr. 15.11.2008 www.npp-sb.de 12 6

Monokulare Deprivierung: dauerhaft veränderte Schaltkreise im visuellen Cortex und Visusverlust auf dem deprivierten Auge Pinel,1997 15.11.2008 www.npp-sb.de 13 Phomemdiskrimination: Zeitfenster: erste 12 Monate Kuhl, 2004 15.11.2008 www.npp-sb.de 14 7

Stresses placed on the developing individual by a mismatch between his or her capacities and demands placed by the environment will result in compensatory physiological responses and behaviors that in time may affect brain structures. This can be part of a normal learning process, or, if the mismatch is too severe, can result in pathology. (Lenroot & Giedd, 2006) Überfordern die Anforderungen der Umwelt das sich entwickelnde Individuum, werden kompensatorisches Verhalten und entsprechende physiologische Reaktionen entstehen, die die Hirnstrukturen beeinflussen dürften. Das kann im Sinne eines normalen Lernprozesses sein. Die Überforderung kann aber auch zu Pathologien führen,wenn Anforderungen und Fähigkeiten zu weit auseinander fallen. 15.11.2008 www.npp-sb.de 15 Hoher und ansteigender Cortisol-Level Moderater und abfallender Cortisol- Level (Lupien et al. 1998) 15.11.2008 www.npp-sb.de 16 8

15.11.2008 www.npp-sb.de 17 15.11.2008 www.npp-sb.de 18 9

(Lupien et al. 1998) 15.11.2008 www.npp-sb.de 19 Gedächtnis und Emotion: Glucosestoffwechsel im rechten AC prädiziert die Recall-Leistung für emotionales Material 15.11.2008 www.npp-sb.de 20 10

Emotionen modulieren Gedächtnisleistungen über das hormonale System und die Amygdala Cahill & McGaugh, 1998 15.11.2008 www.npp-sb.de 21 15.11.2008 www.npp-sb.de 22 11

15.11.2008 www.npp-sb.de 23 15.11.2008 www.npp-sb.de 24 12

Hirnentwicklung: Pubertät und präfrontale Funktionen Massive Synaptogenese zu Beginn der Pubertät im präfrontalen Kortex Emotionale Regulation Soziale Regulation (Perspektivenübernahme) Aufbau exekutiver Funktionen: Impulskontrolle, Selektivität von Aufmerksamkeit, prospektives Gedächtnis und Planung, Entscheiden etc. Zurechtstutzen neuronaler Netze des präfrontalen Cortex 15.11.2008 www.npp-sb.de 25 McGivern et al., 2002 15.11.2008 www.npp-sb.de 26 13

Zusammenfassung Westermann et al., 2007 15.11.2008 www.npp-sb.de 27 Zentrale Botschaften Schule und andere Umwelten steuern mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwicklung des Gehirns. Neuronale Reifungsprozesse reichen mindestens bis ins frühe Erwachsenenalter Es gibt kritische Zeitfenster für die Entwicklung spezifischer neuronaler Funktionen, die unter ungünstigen Umweltbedingungen nicht genutzt werden. Inadäquate Umwelten führen zu morphologischen Schäden und funktionellen Defiziten. Funktionelle Exzellenz und Flexibilität entsteht nicht durch repetitiven Drill.. Emotionale Bedingungen steuern die Effizienz von Lernleistungen in nicht unerheblichem Maß. 15.11.2008 www.npp-sb.de 28 14