Unverkäufliche Leseprobe des Fischer Schatzinsel Verlages Sharon Creech Glück mit Soße Preis 11,90 SFR 21,30 144 Seiten, gebunden ISBN 978-3-596-85175-1 Fischer Schatzinsel Ab 10 Jahren Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007
Granny Torrelli klopft mit dem Löffel auf den Tisch und ruft:»mehr Zuppa! Ich will Zuppa!«Ich stehe auf.»jawohl, Frau Königin«, sage ich, während ich ihr Schälchen fülle. Und dann erzähle ich ihr, was mir einmal auf dem Schulweg passiert ist. Ich war vielleicht zehn oder so und auf dem Weg nach Hause kamen zwei ältere Mädchen hinter mir her, die irgendwie Streit suchten. Ich ging immer schneller und war gerade in unsere Straße eingebogen, als die beiden loslegten: Sie zogen mich an den Haaren, schnappten nach meinen Büchern und sagten, ich sei dünn und dumm. Ich sagte, sie sollten aufhören mit dem Quatsch.»Aufhören, aufhören, aufhören!«
Aber sie schubsten mich, kniffen mich und schlugen mir meine Bücher auf den Kopf. Ich versuchte verzweifelt, ihnen zu entfliehen da kam plötzlich Bailey die Straße entlanggerannt. So schnell hatte ich ihn noch nie rennen sehen. Ich fürchtete, er könnte stolpern und fallen. Woher wusste er, dass nichts im Weg stand? Wie schaffte er es, so gut geradeaus zu rennen? Weshalb wusste er, dass ich in Schwierigkeiten steckte? Bailey ist groß und stark für sein Alter, und ich war wahnsinnig froh, als ich ihn kommen sah, aber ich hatte auch Angst Angst, die Mädchen könnten ihm wehtun und es ausnützen, dass er nichts sehen kann. Bailey schrie die Mädchen an:»hey, lasst den Mist!«Er hatte eine Sonnenbrille auf, das war etwas Neues, er hatte damals gerade angefangen, eine zu tragen, damit die Leute nicht auf seine Augen starrten. Die Mädchen erschraken, wie Bailey da so groß und stark vor ihnen stand, und sie hörten auf, mich zu schubsen und zu hauen, und zogen sich zurück. Sie wissen es nicht, dachte ich. Sie wissen nicht, dass Bailey kaum etwas sieht.
»Komm, Rosie«, sagte Bailey. Ich hob meine Bücher auf und wir gingen weiter, als wäre nichts geschehen.»bailey«, sagte ich,»woher hast du gewusst, was los ist? Woher hast du gewusst, dass ich Hilfe brauche?«da verbeugte er sich und sagte:»ich höre sehr gut. Und ich bin dein Prinz Prinz Bailey, deshalb bin ich gekommen, um dich zu retten.«dieser Bailey!
Wir essen unsere Zuppa auf und Granny Torrelli verteilt die Orangenscheiben auf zwei Salatteller und gibt Olivenöl, Salz, Pfeffer und Petersilie darauf.»ist das nicht fantastisch?«, sagt sie.»prinz Bailey kommt, um dich zu retten.ja«, sage ich,»das war wirklich fantastisch.«und ich denke, dass eigentlich ich die Retterin sein will. Ich will Bailey retten. Ich will ihn gesund machen, ihm neue Augen schenken, ihm das Leben erleichtern. Und Granny Torrelli, die Gedankenleserin, weiß genau, dass ich an Bailey denke, und sie sagt:»also, Rosie, erzählst du mir jetzt von Bailey? Warum bist du heute so wütend auf ihn?«
Ich stehe auf, hole die Braille-Bücher und setze mich wieder an den Tisch.»Guck mal«, sage ich. Und ich schlage ein Buch auf, schließe die Augen, fahre mit den Fingern über die eingestanzten Punkte und lese. Ich komme nur langsam voran, aber ich lese! Und als ich aufhöre und die Augen öffne, sitzt Granny Torrelli da und ihre Augen schimmern feucht.»ach, Rosie!«, sagt sie.»du hast es gelernt! Mit deinem klugen Kopf! Es ist wie ein Wunder. Zeigst du s mir?«ich kaure mich neben sie, lege ihre Finger auf die Seite und lasse sie die erhöhten Punkte ertasten, die Buchstaben und Wörter bilden.»es ist schwierig«, sage ich.»man muss mit ein paar Buchstaben anfangen.«sie gibt mir das Buch zurück.»es ist ein Wunder, Rosie. Bailey ist bestimmt sehr stolz auf dich.«ich klappe das Buch zu.»nein«, sage ich.»bailey ist überhaupt nicht stolz. Bailey ist sauer. Dieser Bailey!«
Und dann erzähle ich ihr, was ich schon den ganzen Abend erzählen will dass ich ein ganzes Jahr gebraucht habe, um die Blindenschrift zu lernen: Ich habe sie heimlich bei einem meiner Lehrer gelernt, immer in der Mittagspause; die Bücher habe ich ins Haus geschmuggelt und sie nachts im Bett studiert, weil ich alle überraschen wollte, aber ganz besonders Bailey. Und heute nach der Schule ging ich zu Bailey rüber und ich freute mich schon so darauf, es ihm endlich vorzuführen. Ich ließ mich aufs Sofa plumpsen, plapperte über dies und das und dann nahm ich mir nebenbei ganz nebenbei eins seiner Braille-Bücher und schlug es auf. Bailey saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken an meine Knie gelehnt. Er hörte, wie ich das Buch aufschlug.»was für ein Buch ist das?«, fragte er. Ich sagte es ihm.»eins von meinen?«, fragte er.»ja«, antwortete ich.»soll ich dir was daraus vorlesen?«er lachte.»ja, klar, mach ruhig!«er fühlte sich total überlegen, das hörte ich
an seiner Stimme. Dass ich sein Braille-Buch lesen könnte, erschien ihm völlig unmöglich. Ich bewegte meine Finger über die erste Zeile, dann ging ich wieder zurück an den Anfang und las laut:»es gibt einen Ort, den ich oft besuche. Er ist kühl und ruhig «Abrupt drehte Bailey sich um, streckte die Hände aus, ertastete meine Finger auf dem Buch. Er stieß sie weg, packte das Buch und fuhr mit den Fingern hastig über die Seite.»Du hast gemogelt«, sagte er.»garantiert hast du zu Hause das normale Buch und hast den Anfang auswendig gelernt.«er klappte das Buch zu. Ich riss es ihm wieder aus der Hand.»Ich hab nicht gemogelt, Bailey. Hör zu.«ich schlug das Buch auf und las die ganze erste Seite, und während ich las, wurde es so still im Zimmer, als hätte Bailey aufgehört zu atmen, und am Schluss war ich rasend stolz. Ich dachte, Bailey würde sich freuen, ich dachte, er wäre stolz auf mich. Aber als ich ihn anschaute, sah ich, dass er sich überhaupt nicht freute und auch nicht stolz war. Er sagte:»du hältst dich für ganz schön schlau, was, Rosie?«
»Ja«, sagte ich.»spiel dich nicht so auf, Rosie!Was?Ich hab gesagt: Spiel dich nicht so auf, Rosie!«Ich hatte das Gefühl, als würde das ganze Blut in meinem Körper nach unten rauschen, immer tiefer, tiefer, tiefer, bis hinunter in meine Füße und aus den Füßen raus. Ich stand auf und ging zur Tür. Ich erwartete, hoffte, wünschte mir, dass er mich aufhalten würde, aber er hielt mich nicht auf. Ich öffnete die Tür, trat hinaus auf die Veranda. Ich hatte keine Wörter in mir, keine Luft, nur ein lautes Jaulen in meinem Kopf. Und dann Peng! Bailey knallte die Tür hinter mir zu, als wäre ich niemand, nicht sein Kumpel, nicht seine Freundin, nur ein blöder Niemand.