Wissen aktuell Berufsunfähigkeitsversicherung Depressionen, Angststörungen, Niedergeschlagenheit? Psychische Diagnosen nehmen vor allem bei jungen Menschen seit Jahren zu und sind immer öfter auch Auslöser für Berufsunfähigkeit. 36 Munich Re Daktylos 2015
Beim Thema Berufsunfähigkeitsversicherung wird in der Presse kaum eine Entwicklung so kontrovers diskutiert wie die Zunahme psychischer Erkrankungen. Während eine Mehrheit den Anstieg fortschreibt, sprechen erste Stimmen bereits von einem Mythos. Wer recht hat, ist für die Versicherungswirtschaft nur bedingt relevant. Entscheidend ist, ob die Anzahl und der Anteil psychisch bedingter Leistungsfälle tatsächlich steigen und wenn ja, was dies für das Geschäftsmodell bedeutet. Antworten und Handlungsempfehlungen von Munich Re. Psychische Erkrankungen beherrschbares Risiko oder Damoklesschwert? von Patricia Lewerich und Achim Regenauer Auf Platz 1 der Leistungsauslöser lagen in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung lange Zeit orthopädische Erkrankungen allen voran die Rückenleiden. Alle Statistiken zeigen, dass es hier eine deutliche Verschiebung hin zu psychischen Erkrankungen gegeben hat. Sie nehmen seit Jahren zu und sind in einigen Berufsgruppen bereits ursächlich für bis zu einem Viertel aller Leistungsfälle (vgl. Abb. 3). Mythos oder Trend eine Frage der Perspektive Die massive Zunahme psychisch bedingter Leistungsfälle ist also eine Tatsache. Doch worauf lässt sich der Anstieg zurückführen? Um Antworten zu finden, hat Munich Re die Fakten sowohl aus aktuarieller als auch aus medizinischer Perspektive analysiert. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass psychische Erkrankungen in der Vergangenheit oft nicht erkannt und diagnostiziert wurden. Das hat sich inzwischen geändert, was zwar eine Sensibilisierung der Ärzteschaft für psychische Erkrankungen beweist, jedoch keinesfalls eine epidemische Zunahme derselben. Letztere ist eine Fehleinschätzung, die sich aus den Zahlen nicht herauslesen lässt. Munich Re Daktylos 2015 37
Wissen aktuell Berufsunfähigkeitsversicherung So zeigen die vom Robert Koch Institut durchgeführten Bundesgesundheitssurveys für die Jahre 1998/99 sowie 2008/09, dass rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung unter psychischen Problemen leidet. Obgleich sich in diesem Zeitraum die Verteilung der einzelnen psychischen Erkrankungen geändert hat und Betroffene häufiger professionell versorgt werden, ist die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der deutschen Bevölkerung gleich geblieben. Europaweit sieht es bei umfassenderem Studienmaterial ähnlich aus. Eine Zunahme in der Gesamtbevölkerung ist derzeit nicht nachweisbar. Herausforderungen bei der Diagnose psychischer Erkrankungen Unbestritten ist dagegen, dass psychische Erkrankungen immer öfter identifiziert werden. Um diese Entwicklung und ihre Folgen für die Versicherungswirtschaft zu ver - stehen, ist Wissen über das Zustandekommen medizinischer Diagnosen erforderlich. Ein Beispiel (vgl. Abb. 1): Meldet sich ein Patient mit Brustschmerzen, kann der Arzt eine wahrscheinlich zugrunde liegende körperliche Erkrankung anhand eindeutiger Untersuchungsergebnisse diagnostizieren. Ausgehend vom Leitsymptom wird er ein EKG durchführen und bestimmte Blutwerte analysieren. Ist die wahrscheinlichste Diagnose ein Herzinfarkt aufgrund der Befunde ausgeschlossen, werden andere mögliche Ursachen mittels technischer Untersuchungen abgeklärt, beispielsweise eine Refluxerkrankung. Dabei fließt Magensäure zurück in die Speiseröhre, was sich durch eine Gastroskopie eindeutig feststellen lässt. Die objektiven Befunde und Messergebnisse aus der körperlichen Untersuchung liegen der Versicherung bei jedem Antrag auf Leistungen vor und sind für den Leistungsprüfer in der Schaden abteilung hilfreich, um das Restleistungsvermögen des Antragstellers mit dem Anforderungsprofil der beruflichen Tätigkeit abzugleichen. Zudem lassen sich auf Basis dieser Fakten die Möglichkeiten einer Gesundheitsverbesserung und die Aussichten auf eine Reaktivierung bestimmen. Abbildung 1a Somatische Diagnose, ausgehend vom Leitsymptom Abbildung 1b Psychische Diagnose, ausgehend vom Leitsymptom Retrosternaler Druck Brustschmerz EKG Anspannung Unruhe Erregung Angst Palpitationen Panikattacke Angststörung Persönlichkeitsstruktur Labor CK, Troponin Herzinfarkt Ideenflucht gesteigerte Stimmung Manie + Biographische Belastung Gastroskopie Refluxgastritis Zerfahrenheit Wahn Psychose Schizophrenie +...... Klagsamkeit gedrückte Stimmung Depression Soziales Umfeld 38 Munich Re Daktylos 2015
Anders sieht es bei psychischen Diagnosen aus: Symp tome wie innere Anspannung, Unruhe oder Erregung können auf vielfältige psychische Erkrankungen hinweisen. Hier ergeben sich Diagnosen wie Depression oder Angststörung aus einer Zusammenschau, in die subjektiv geschilderte Symptome, der Krankheitsverlauf, Beobachtungen des Arztes und seine klinische Erfahrung ein fließen. Psychische Erkrankungen sind damit kaum objektivierbar, denn im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen lassen sie sich meist nicht auf physische Fehlfunktionen zurückführen, die über bildgebende Verfahren, Laborwerte oder ähnlich beweiskräftige Methoden belegbar wären. Die Ursachen sind komplexer und sowohl in der Persönlichkeitsstruktur des Patienten zu suchen als auch bei individuellen biografischen Belastungen und im sozialen Umfeld. Erschwerend kommt hinzu, dass es zur Klassifizierung psychischer Erkrankungen verschiedene Diagnoseschlüssel gibt. Diese konkurrieren miteinander, sind sehr komplex und weisen eine Tendenz zur Ausweitung psychischer Diagnosen auf. Auch geben die Diagnosen nur unzureichend Auskunft über den Schweregrad der Erkrankungen. Diese Inkonsistenzen bringen die Leistungsprüfung an ihre Grenzen, zumal bei psychischen Erkrankungen nicht unmittelbar auf das Leistungsvermögen geschlossen werden kann. Verstärkt wird die Problematik noch durch Fälle, bei denen unklare Beschwerden mangels eindeutiger Befunde ausweichend als psychische Erkrankung deklariert werden. Herausforderungen im Schadenmanagement Um psychisch begründete Leistungsanträge überprüfen zu können, ist eine fachärztliche Einschätzung häufig unumgänglich. Mehr noch: Die komplexen Krankheits - bilder erfordern aus Sicht von Munich Re eine qualifizierte Leistungsprüfung, die über das bisher übliche Maß hinausgeht. Dies bedeutet zwar einen höheren Aufwand, ist aber Voraussetzung für eine fundierte Beurteilung der Berufsunfähigkeit und ein daran zeitnah anknüpfendes Schadenmanagement mit dem Ziel der Wiedereingliederung des Versicherten in den Beruf, mit der Möglichkeit einer Reaktivierung. Genau darin liegt mit Blick auf die Stabilität und Profitabilität von Berufsunfähigkeitsport folien das größte Optimierungspotenzial, denn die Analysen belegen: Im Vergleich zu körperlich bedingten Leistungsfällen weisen psychische Fälle wesentlich längere Leistungsdauern bei deutlich niedrigeren Reaktivierungsraten auf. Die Gründe dafür sind so komplex wie die Ursachen der Erkrankungen und verstärken sich mit der Dauer der Berufsunfähigkeit tendenziell noch. So liefern medizinische Studien Hinweise darauf, dass die Reaktivierungsaussichten sinken, je länger und häufiger ein Betroffener Phasen der Arbeitsunfähigkeit durchlebt und je länger er selbst erwartet, invalide zu bleiben. Andererseits scheinen die Reaktivierungsaussichten zu steigen, je jünger und gebildeter die Betroffenen sind. Diese Indizien verdeutlichen, wie wichtig ein frühzeitiges und umfassendes Schadenmanagement ist. Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme gibt es zahlreiche vor allem hinsichtlich der Arbeitssituation im Einzelfall. Das Spektrum reicht von einer Änderung des Aufgabenprofils über Arbeitsplatzinterventionen bis hin zu einer kontinuierlichen arbeitsmedizinischen Betreuung. Während es in der Risikoprüfung nur durch sehr aufwendige Maßnahmen möglich erscheint, die Belastungen aus dem Anstieg psychisch bedingter Leistungsfälle zu minimieren, steckt im Schadenmanagement jede Menge Potenzial. Wie wichtig es ist, dieses Potenzial zu nutzen, verdeutlicht die aktuarielle Analyse. Abbildung 2 Anteile psychischer Leistungsauslöser an den Neuzugängen zur Erwerbsminderungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung Männer Frauen 70 % 70 % 60 % 60 % 50 % 50 % 40 % 40 % 30 % 30 % 2012 20 % 10 % 2012 2003 20 % 10 % 2003 0 % 0 % bis 39 40 44 45 49 50 54 55 59 60+ bis 39 40 44 45 49 50 54 55 59 60+ Munich Re Daktylos 2015 39
Wissen aktuell Berufsunfähigkeitsversicherung Psychiatrische Gutachten sind teuer, dauern zu lange und helfen uns bei der Entscheidung selten weiter. O-Ton vieler Leistungsprüfer in der Erstversicherung bei psychisch begründeten Anträgen auf BU-Leistungen Expertenvideo auf Abruf Vortrag von Patricia Lewerich, Leiterin Center of Competence Life Insurance Products and Risks Munich Re und Achim Regenauer, Chief Medical Director Munich Re, über die Herausforderung Psyche in der BU-Versicherung. www.munichre.com/ daktylos2015/wissen Aktuarielle Analyse die Fakten Da für die private Berufsunfähigkeitsversicherung in Deutschland nur bedingt Daten zur Verfügung stehen, hat Munich Re auch Daten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie aus internationalen Märkten herangezogen und sie sowohl aus aktuarieller als auch medizinischer Sicht ausgewertet. Erst dieses interdisziplinäre Vorgehen ermöglichte eine umfassende Analyse mit der erforderlichen Aussagekraft. Ausgewählte Ergebnisse vermitteln hier einen ersten Eindruck von der Dimension der Herausforderungen und lassen den Handlungsbedarf erkennen. So mag es zunächst überraschen, dass der Anteil psychischer Leistungsauslöser unabhängig von Geschlecht und Alter in allen Zielgruppen deutlich ansteigt (vgl. Abb. 2). Bedenklich vor dem Hintergrund niedriger Reaktivierungsraten und langer Leistungsdauern ist dabei jedoch die Tatsache, dass psychische Erkrankungen gerade in jungen Lebensaltern ein wesentlicher Risikotreiber sind. Erschwerend für die Anbieter kommt ein weiterer Aspekt hinzu: So zeigt die Analyse von Munich Re einen deutlich erhöhten Anteil psychischer Leistungsauslöser ausgerechnet bei den risikoarmen und besonders wettbewerbsrelevanten Berufsgruppen (vgl. Abb. 3). Versicherer sind daher mit einer steigenden Anzahl von Leistungsempfängern konfrontiert, die sich dank günstiger Berufsklasseneinstufung zu attraktiven Konditionen hoch versichert haben. Eine berufsgruppenspezifische Betrachtung der Leistungsursachen nach Inzidenz also nach ihrer Häufigkeit als Auslöser für neue Invaliditätsfälle im Betrachtungszeitraum zeigt jedoch: Die absolute Inzidenz liegt bei risikoarmen Berufen noch knapp unter der risikoreicher Berufe (vgl. Abb. 4). Die Wahrscheinlichkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung berufsunfähig zu werden, ist also in allen Berufsgruppen ähnlich hoch, allerdings haben psychische Ursachen bei risikoarmen Berufsgruppen einen wesentlich größeren Anteil an den Leistungsauslösern. Abbildung 3 Anteile der Leistungsauslöser in der BU-Versicherung nach Berufsgruppen Risikoarme Berufe Psyche 25 % Orthopädie 17 % Herz/Kreislauf 12 % Krebs 21 % Unfall 11 % Sonstige 14 % Risikoreiche Berufe Psyche 11 % Orthopädie 29 % Herz/Kreislauf 11 % Krebs 18 % Unfall 20 % Sonstige 11 % 40 Munich Re Daktylos 2015
Das Risiko Psyche erfordert ein interdisziplinäres Management Aus diesen Erkenntnissen leitet Munich Re klare Handlungsempfehlungen ab. Die wichtigste: Anbieter sollten ihr Risikomanagement deutlich interdisziplinärer aufstellen. Denn erst wenn Aktuariat, Versicherungsmedizin und Schadenmanagement ihre Erkenntnisse zusammenführen, entsteht ein Gesamtbild, welches das Risikoprofil psychischer Erkrankungen, die daraus resultierenden Risiken und die Herausforderungen im Schadenmanagement sichtbar macht. Dies ist die Voraussetzung für gezielte Verbesserungen. Priorität haben die Leistungsprüfung sie erfordert geeignete fachärztliche Einschätzungen und frühzeitige Maßnahmen, um dem Versicherten den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen und dadurch die Reaktivierungschancen zu erhöhen. Darüber hinaus sind angemessene Sicherheitsmargen erforderlich, um verbleibende Änderungsrisiken abfedern zu können. Ob und in welchem Maße der Anteil und die Leistungsdauer bei psychischen Erkrankungen weiter steigen werden, kann niemand zuverlässig voraussagen. Umso wichtiger ist ein enges Monitoring, um unvorhergesehene Auswirkungen auf das Gesamtschadenniveau eines Portfolios frühzeitig erkennen und gezielt handeln zu können. Auch wenn die absolute Inzidenz bei jungen Zielgruppen aus risikoarmen Berufen noch relativ gering ausfällt, sollten Versicherer jetzt aktiv werden und die hier vorgestellten Handlungsempfehlungen prüfen. Werden sie umgesetzt so die Überzeugung von Munich Re, bleibt das Risiko Psyche auch künftig beherrschbar. Abbildung 4 Berufsgruppenspezifische Inzidenzen nach Leistungsursachen in der BU-Versicherung 0,004 Claims-Initiative Psyche die Antwort von Munich Re Die Claims-Experten von Munich Re kennen die Herausforderungen bei der Beurteilung von psychisch bedingten Fällen. Um Leistungsprüfer in der Erstversicherung systematisch zu unterstützen, hat das Team die Claims-Initiative Psyche ins Leben gerufen und gemeinsam mit Pilotpartnern aus der Erstversicherungsbranche hilfreiche und praxisorientierte Instrumente für die Entscheidungsfindung entwickelt. Folgende Instrumente werden im Laufe des Jahres allen Kunden zur Verfügung stehen: Neu konzipierter Arztfragebogen zur Erhebung aller Diagnoseinformationen 0,0035 0,003 0,0025 0,002 0,0015 0,001 0,0005 0 Risikoarm Risikoreich Psyche Orthopädie Herz/Kreislauf Krebs Unfall Neu entwickelte Checkliste zur Auswertung von psychiatrischen Gutachten Neuer Leitfaden für Interviews mit psychisch Erkrankten zur Abfrage der für die Leistungsentscheidung notwendigen Informationen Munich Re Daktylos 2015 41