Presentation conference Crimes of the Communist Regimes February 2010, Prague. Hans Altendorf, Direktor, BStU

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Transkript:

Hans Altendorf, Direktor, BStU Die Bedeutung der Öffnung der Stasi-Akten für die juristische Aufarbeitung von DDR- Unrecht Zunächst möchte ich den Veranstaltern dafür danken, dass sie die Verbrechen der kommunistischen Regime in einem breiten internationalen Rahmen zum Thema für diese Konferenz gemacht haben. Und ich danke für die Einladung meiner Behörde, der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, einer Partnerbehörde des Instituts für das Studium der totalitären Regime, den Initiatoren dieser Konferenz. Die Zusammenarbeit unserer Institutionen haben wir vor wenigen Monaten in einer gemeinsamen Vereinbarung bekräftigt. Dies betone ich und verweise zu gleich auf Unterschiede in den gesetzlichen Aufgaben. Die deutsche Stasi-Unterlagenbehörde ist für die Aufarbeitung der Machenschaften der DDR-Geheimpolizei zuständig, nicht aber Behörde für die Verfolgung der Straftaten der DDR-Diktatur. Einen Länderbericht zur strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht wird morgen ein hervorragender Experte, der ehemalige Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen, geben. Mein Beitrag soll einen Teilaspekt beleuchten, nämlich die Bedeutung der Stasi-Akten und ihrer Öffnung für die juristische Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Am 4. Dezember 1989, also knapp 4 Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, beschlossen Frauen der Initiative Frauen für Veränderung im thüringischen Erfurt etwas gegen die Vernichtung von Akten der DDR-Staatssicherheit zu unternehmen. Es war bekannt geworden, dass seit November die Staatssicherheit in großem Stil daran ging, belastende Unterlagen zu beseitigen. Gemeinsam mit zahlreichen Unterstützern umstellten sie die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in ihrer Stadt und blockierten alle Zugänge. In den ersten Dezembertagen 1989 wurden landesweit zahlreiche Bezirks- und Kreisdienststellen der Staatssicherheit von Bürgerinnen und Bürgern besetzt, am 15. Januar die Berliner Stasi-Zentrale. Diese Besetzungen beendeten die Geschichte der ostdeutschen Geheimpolizei, die jahrzehntelang gegen das eigene Volk im Einsatz war. Gleichzeitig steht dieses Datum für eine Besonderheit in den Freiheitsrevolutionen in Ostmitteleuropa: In keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks richteten sich die revolutionären Ereignisse 1989/90 so direkt gegen die Geheimpolizei von den blutigen Auseinandersetzungen in Rumänien einmal abgesehen. Damit wurde in Deutschland die Frage, was mit den Hinterlassenschaften der kommunistischen Geheimpolizei geschehen soll, bereits während der friedlichen Revolution auf die politische Agenda gehoben. Gegen erhebliche Widerstände der alten kommunistischen Eliten und trotz mancher Vorbehalte in

der alten Bundesrepublik konnte noch 1990 erreicht werden, dass die Stasi-Akten nicht weiter vernichtet werden und für eine Öffnung bereit standen. Dazu waren erheblicher gesellschaftlicher Druck und eine zweite Besetzung der ehemaligen Stasi-Zentrale notwendig. Was folgte, war ein parlamentarisch erlassenes Stasi-Unterlagen-Gesetz, das den Zugang zu den bisher geheimen Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und deren Verwendung gesetzlich regelte und dafür eine eigene Behörde schaffte: die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, als deren Direktor ich heute zu Ihnen spreche. Insgesamt konnte durch die frühe Sicherung des Bestandes ein im Vergleich mit anderen ehemaligen Ostblockländern erheblicher Teil der Stasi-Akten gerettet werden, wenn dieser auch schmerzliche Lücken aufweist. Fortan standen die Stasi-Akten den ehemaligen Opfern ebenso offen wie sie für die historische Forschung, die politische Bildungsarbeit und die juristische Aufarbeitung der ostdeutschen kommunistischen Diktatur genutzt werden konnten. Das bürgerschaftliche Engagement, das 1989/90 zum Ende von DDR und Staatssicherheit führte, große Teile der Akten vor der Vernichtung bewahrte und die Öffnung der Archive durchsetzte, legte somit auch einen der Grundsteine für die strafrechtliche Verfolgung von in der SED-Diktatur begangenen Verbrechen. Die zweite Besonderheit der juristischen Aufarbeitung hängt mit dem deutschen Sonderfall eines zweigeteilten Landes zusammen, von dem der eine Teil - die westdeutsche Bundesrepublik - 1989/90 auf mehr als vierzig Jahre Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückblicken konnte, während im zweiten Teil des Landes - in der DDR nach 40 Jahren kommunistischer Diktatur soeben die erste gelungene freiheitliche Revolution auf deutschem Boden stattgefunden hatte. Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht erfolgte schwerpunktmäßig direkt nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in den Jahren zwischen 1990 und 2005, also unter den Bedingungen der wiedervereinigten Bundesrepublik mit ihren langjährigen rechtsstaatlichen Traditionen. Eine revolutionäre Umwälzung wandelte sich somit in ein rechtsstaatlich geregeltes Verfahren. Es gab keine revolutionäre Abrechnung mit den Funktionsträgern des gestürzten Regimes. Zwar sprach der Vertrag zwischen beiden deutschen Staaten über die Herstellung der Einheit Deutschlands von der DDR als einem SED-Unrechts-Regime, jedoch bedeutete dies nicht, dass die Parteien, Organisationen und Einrichtungen der DDR per se als illegal galten und deren Funktionsträger dementsprechend strafrechtlich verfolgt wurden. Beide deutsche Staaten hatten sich vielmehr darauf geeinigt, zur Verfolgung von DDR- Regierungskriminalität kein Sonderstrafrecht einzuführen. Diese Vereinbarung ist bis heute umstritten. So mancher gerade aus dem Bereich der Opferverbände hätte sich gewünscht, dass beispielsweise das Ministerium für Staatssicherheit zur verbrecherischen 2

Organisation und dessen Angehörige generell zu Tätern erklärt worden wären. Aber das erfolgte nicht. So gab es nur den Weg, DDR-Systemunrecht mit den Mitteln des individuellen Strafrechts aufzuarbeiten. Im Mittelpunkt aller Verfahren stand dementsprechend die Notwendigkeit des Nachweises persönlicher Schuld. Nicht die Funktionen im DDR-Unrechtssystem konnten geahndet werden, sondern die persönliche Verantwortlichkeit eines Einzelnen. Eine strafrechtliche Verfolgung kam zudem nur in Betracht, wenn eine Tat sowohl nach dem DDR-Strafgesetzbuch als auch nach dem mittlerweile geltenden gesamtdeutschen Strafgesetz strafwürdig war. Ausnahmen von diesem Grundsatz wurden nur bei schweren Menschenrechtsverletzungen gemacht, auch wenn diese zu DDR-Zeiten durch ein Gesetz gedeckt gewesen waren. Dies gilt etwa für die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze: obwohl die DDR-Rechtspraxis diese als rechtmäßig ansah, ist hier das verfassungsmäßige Rückwirkungsverbot entfallen, weil schwerstes kriminelles Unrecht und schwerwiegende Missachtung allgemein anerkannter Menschenrechte vorlagen. Oftmals führte diese Regelung aber auch dazu, dass eine Reihe von Unrechtstatbeständen, die tief in das Leben der Betroffenen eingriffen, strafrechtlich nicht verfolgt werden konnten. Verstreichende Verjährungsfristen spielten ebenso eine Rolle. Ein Beispiel: Ein wesentliches Mittel der SED und der in ihrem Auftrage agierenden Geheimpolizei im Kampf gegen ihre Feinde waren vor allem seit den siebziger und achtziger Jahren so genannte Zersetzungsmaßnahmen, die auf ausgeklügelten und ständig verfeinerten psychologischen Methoden basierten. Sie zielten darauf, die Persönlichkeit, das soziale Umfeld, den Freundeskreis, das individuelle Sicherheitsgefühl, die psychische und physische Gesundheit und letztlich die Biografie der Opfer zu zerstören. Die meisten dieser Zersetzungsmaßnahmen waren jedoch nicht strafrechtlich verfolgbar, da es im Strafgesetzbuch der DDR keinen entsprechenden Straftatbestand gab. Gerade in diesem Zusammenhang sind die Opfer oft verbittert, dass die Täter nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz von 1991 regelt bereits in Paragraf 1, dass die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit sowohl für die historische, politische als auch für die juristische Aufarbeitung genutzt werden sollen. Und davon wurde reichlich Gebrauch gemacht: Zwar wurde die Zahl der erhobenen Anklagen wegen DDR-spezifischen Unrechts in Deutschland nicht systematisch erfasst, begründeten Schätzungen zufolge wurde seit 1989/90 jedoch gegen zirka 100.000 Personen Anklage wegen DDR-Unrechts erhoben. In so gut wie allen diesen Fällen wurden Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit aus den Archiven der Bundesbeauftragten zur Wahrheitsfindung herangezogen. 3

Fasst man die Anklagen im Zusammenhang mit DDR-Systemkriminalität in Deliktsgruppen zusammen, ergibt sich folgendes Bild der am häufigsten angeklagten Delikte: - Rechtsbeugung, - Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze, - Straftaten der Staatssicherheit, - Wahlfälschung, - Misshandlung Strafgefangener, - Doping, - Amtsmissbrauch und Korruption, - Wirtschaftsstraftaten, - Denunziation. Anfang der neunziger Jahre wurde die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin eingerichtet, an der sich die Polizei und die Justizbehörden der deutschen Bundesländer beteiligten. Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen selbst hat wie eingangs erwähnt - keine eigenen Ermittlungsbefugnisse und verfügt nicht über staatsanwaltliche Kompetenzen. Sie stellt den Ermittlungsbehörden jedoch Stasi-Unterlagen für die Zwecke der Strafverfolgung zur Verfügung und arbeitete in diesem Zusammenhang auch eng mit der Zentralen Ermittlungsgruppe ZERV zusammen. Dass die Stasi-Unterlagen für die juristische Aufarbeitung von großem Wert waren, liegt auch daran, dass das Ministerium für Staatssicherheit nicht nur der Repressionsapparat und Geheimdienst der herrschenden Partei war, sondern nach der Strafprozessordnung der DDR auch als Ermittlungsorgan tätig wurde. Als Vorteil für die Aufarbeitung erwies sich, dass seit Ende der fünfziger Jahre die DDR-Justiz der Staatssicherheit eine Vielzahl von Justizakten zur Aufbewahrung übergeben hatte, die auch im Rahmen von politischen Prozessen entstanden waren. Diese Justizakten sind bis heute erhalten und können für Anfragen und Recherchen herangezogen werden. Insgesamt befinden sich über 10.000 Justizakten im Archivbestand der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Im Zusammenhang mit der juristischen und hier vor allem strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht verdienen noch zwei Aspekte kurz erwähnt zu werden. Erstens war die Sanktionierung von in der DDR begangenem Systemunrecht nicht allein dem Strafrecht überantwortet. Der Gesetzgeber sieht ausdrücklich auch die Möglichkeit einer gesellschaftlichen bzw. beruflichen Sanktionierung vor. Bereits im Einigungsvertrag 4

zwischen beiden deutschen Staaten wurde mit Bezug auf den öffentlichen Dienst festgelegt, dass einem Mitarbeiter gekündigt werden kann, wenn er für das frühere Ministerium für Staatssicherheit der DDR tätig war. Ergänzend dazu räumt das Stasi- Unterlagen-Gesetz entsprechenden Institutionen des öffentlichen Dienstes, der Parlamente, Kirchen usw. die Möglichkeit ein, Auskünfte von der Stasi-Unterlagen-Behörde zu verlangen. Jenseits der strafrechtlichen Aufarbeitung wurden in Deutschland daraufhin insbesondere im Bereich des öffentlichen Dienstes in den ostdeutschen Bundesländern (also in der ehemaligen DDR) zahlreiche Angestellte auf eine frühere Stasi-Mitarbeit hin überprüft. Bei der Stasi-Unterlagen-Behörde gingen bislang fast 1,8 Millionen Anträge auf entsprechende Auskünfte ein. Wie der Arbeitgeber mit den Auskünften umgeht, steht allerdings in seinem Ermessen. Er kann Stasi-belasteten Mitarbeitern kündigen, muss es aber nicht. So wichtig die juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts-Regimes für den Rechtsfrieden ist, so notwendig erscheint es zweitens auch, die Leiden der Opfer zu lindern. Dies kann in einer freiheitlichen Demokratie nicht allein durch strafrechtliche Sanktionen erfolgen. Im Mittelpunkt muss die Anerkennung des Anspruchs der Opfer auf Entschädigung und Wiedergutmachung, auf Mitgefühl und Hilfe der Gesellschaft stehen. Es war von Anfang an eine Kernaufgabe der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, für die Rehabilitierung und Wiedergutmachung der Opfer die entsprechenden Dokumente und Unterlagen zur Verfügung zu stellen. In den fast 20 Jahren seit Bestehen der Behörde wurden zirka 250.000 Nachfragen im Rahmen von Rehabilitierungs- und Wiedergutmachungsansprüchen bearbeitet. In vielen Fällen waren diese Unterlagen, die in den Archiven der Bundesbeauftragten verwahrt werden, die einzigen Dokumente, mit deren Hilfe Rehabilitierungs- und Wiedergutmachungsansprüche belegt werden konnten. Auch das zeigt, wie wichtig es war, den Aktenbestand der DDR-Staatssicherheit vor der Vernichtung zu bewahren. Von den zirka 100.000 Personen, die in Deutschland wegen DDR-typischen Unrechts vor Gericht gestellt wurden, sind nur etwas mehr als 750 verurteilt worden, 40 von ihnen kamen ins Gefängnis. Diese Zahlen zeigen die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, wenn man eine Diktatur, die das Recht mit Füßen trat, mit den Mitteln des Rechtsstaates, in dem der Nachweis individueller Schuld im Mittelpunkt steht und in dem Verjährungsfristen und das Rückwirkungsverbot gelten, aufarbeitet. Zur Gesamtbilanz der Aufarbeitung gehört jedoch auch die Wahrheit über die kommunistische Diktatur, die nicht zuletzt in den vielen Gerichtsverfahren und Medienberichten an die Öffentlichkeit kam. Ohne die von den Bürgern erkämpfte Öffnung der Stasi-Archive hätte ein Großteil dieser Strafverfahren unter 5

erheblich schwierigeren Bedingungen stattgefunden oder wäre von vornherein gescheitert. Von den geraubten Biografien, die sich die Opfer beim Lesen ihrer Akten wieder aneignen konnten, von den vielen Rehabilitationsverfahren, die erlittenes Unrecht materiell oder juristisch behoben, von dem Wissen um eine Diktatur, mit dem wir unsere Jugend heute gegen totalitäre Versuchungen impfen können, ganz zu schweigen. Alles dies wäre ohne die Nutzung der Stasi-Unterlagen so nicht möglich gewesen. 6