Predigt am Israelsonntag Sonntag nach Trinitatis Juli 2016 (Römer 9, 1-5)

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Transkript:

Predigt am Israelsonntag 2016 10. Sonntag nach Trinitatis - 31. Juli 2016 (Römer 9, 1-5) Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde, Es gibt, auch abgesehen von den ganz großen kirchlichen Feiertagen einige Sonntage im Jahr, die uns besonders ansprechen, die uns berühren. Für den einen mag der Ewigkeitssonntag mit seinem Gedenken der Verstorbenen, dazu gehören, für die andere vielleicht der Buß- und Bettag. Für die meisten wird der Israelsonntag jedoch eher nicht dazu gehören. Das Verhältnis von Juden und Christen mag nicht zu den ganz brennenden Fragen in unserem persönlichen Leben gehören und doch ist es wichtig, dass wir als christliche Gemeinde uns erinnern, und auch: dass wir nicht vergessen, wo unsere Wurzeln liegen. Und so feiern wir den Israelsonntag. Es gibt ihn seit knapp 500 Jahren, seit der Reformationszeit. Lange Zeit war dieser Sonntag unter dem Namen Judensonntag bekannt. Und über die Jahrhunderte hinweg war er oftmals ein Datum, an dem von christlichen Kanzeln herab antijudaistisches Denken gepflegt wurde, Vorurteile geschürt wurden, und zu Judenmission aufgerufen wurde. Das hat sich erst langsam geändert. In den 1980er Jahren wurde der Judensonntag zum Israelsonntag. Das Gedenken an all das Grauen, das Christen den Juden, insbesondere im 20. Jhrdt. angetan hatten, rückten in den Fokus. Und auch die Einsicht, dass man miteinander ins Gespräch kommen müsste. Die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Christen wurde laut. Eine der eindrücklichsten Abschnitte im Neuen Testament, die das Verhältnis von Juden und Christen behandeln, stellen die Kapitel 9-11 im Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom dar. Der Abschnitt beginnt mit leidenschaftlichen Worten. Röm 9, 1-5 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die

Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen. *** Es wird klar: das Verhältnis zum Judentum ist für Paulus, der einst ein besonders frommer Jude war, keine abstrakte, intellektuelle Frage, sondern ganz persönlich, drängend, quälend. Am letzten Sonntag haben wir dazu schon einiges gehört, haben eine polternde Seite an Paulus kennengelernt. Heute kommt eine ganz andere hinzu. Drei Kapitel lang arbeitet er sich an dieser Frage ab und kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass Gott seine Berufung nicht gereuen kann. Dass Gott nichts von seinem Segen zurücknimmt. Dass Israel Gottes erwähltes Volk bleibt. Und das, obwohl sie Jesus nicht als den Messias anerkennen. - - Keine leichte Schlussfolgerung für Paulus, - und auch manche Christen tun sich noch immer schwer damit. Aber doch die einzig denkbare. Und so endet dieser Abschnitt im 11. Kapitel mit Worten, die davon sprechen, dass Gottes Gerichte unbegreiflich sind und unerforschlich seine Wege. Der Weg, der Paulus zu dieser Schlussfolgerung führt, er ist verschlungen, fast kommt er einem verworren vor. Man muss die Kapitel aufmerksam lesen. Immer neue Argumente und Beispiele kommen hinzu, gleich einem Mosaik fügt Paulus Gedanken um Gedanken hinzu. Man spürt in diesen drei Kapiteln deutlich das Ringen des Paulus, das Ringen darum, welches denn nun das rechte Verhältnis zu Israel, zu den Juden sein soll, sein kann, sein muss. Die drei Kapitel sind spannend zu lesen aber zu komplex und verschlungen, als dass ich den Weg, den Paulus da beschreitet, hier im Einzelnen nachzeichnen könnte (dazu fehlt die Zeit, auch wenn es durchaus lohnend wäre). Doch bei einem Mosaiksteinchen, einem Gedankengang, möchte ich kurz verweilen. Immer wieder heißt es beim Israelsonntag, dass wir heute über die gemeinsamen Wurzeln nachdenken sollen. Dieses Sprachbild kommt u.a. von Paulus. Im 11. Kapitel, also schon gegen Ende des langen Abschnitts über das Verhältnis von Juden und Christen, warnt Paulus die Heidenchristen, also jene, die zuvor keine Juden waren, vor Überheblichkeit gegenüber dem Judentum. Um sein Anliegen zu verdeutlichen, nutzt Paulus das Bild des Ölbaums. Damit ist der Olivenbaum gemeint; aus den Oliven wird in mühsamer Arbeit Öl gepresst, vielseitig einsetzbar und wertvoll. Wer einmal im Urlaub Olivenbäume gesehen hat, etwa in der

Mittelmeerregion, hat vielleicht das Bild vor Augen: knorrige Bäume mit dicker, rissiger Rinde und kleinen, trockenen Blättern. Völlig anspruchslos sieht er aus, dieser Baum, so wie er sich da im trockenen Boden festkrallt. Aber das Gegenteil ist der Fall: ein Olivenbaum macht viel Arbeit, muss gepflegt werden, um eine gute Ernte zu bringen. Von einem solchen Olivenbaum spricht Paulus. Er vergleicht die Heiden, die Nicht-Juden, mit Zweigen, die von einem wilden Ölbaum abgebrochen wurden, einem, der nicht kultiviert und damit für die Bauern für sich genommen wertlos ist. Diese abgebrochenen Zweige wurden auf einen anderen Ölbaum, einem edlen Baum, aufgepfropft. Diesem Baum wiederum waren zuvor Triebe abgebrochen wurden, um Platz zu schaffen für die Triebe des wilden Ölbaums. Diese Triebe, die Triebe des edlen Ölbaums: sie sind nach Paulus, die Juden. Sie werden sozusagen beiseite genommen, um den Nicht-Juden Zugang zu ermöglichen. Doch sie gehen nicht verloren, die edlen Triebe, sie sind nur verwahrt, einst werden sie wieder eingepflanzt in den Ölbaum, von dem sie stammen. Ein etwas abstraktes Bild, das Paulus da verwendet. Abstrakt v.a. für uns, die wir fernab von Olivenbäumen und der Technik des Einpfropfens leben. Doch einen Satz, der Paulus wichtig ist und den er den Heidenchristen ins Stammbuch schreibt, können wir nachvollziehen, auch fernab des Mittelmeerraums. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich. Ihr als Heiden seid nachträglich hinzugekommen, vergesst das nicht! Ihr seid wie junge Triebe an einem sehr alten Baum. Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Wurzeln sind lebensnotwendig. Das gilt für Olivenbäume ebenso wie für andere Pflanzen. Durch ihre Wurzeln nehmen sie Wasser und Nahrung auf. Ihre Wurzeln geben ihnen Halt, auch in steinigem Boden können sich starke Wurzeln festkrallen, auch an steilen Hängen können Pflanzen wurzeln. Jeder, der mit Pflanzen zu tun hat, weiß um die Bedeutung von Wurzeln. Einen abgebrochenen Trieb, einige welke Blätter kann eine Pflanze meist verkraften. Wenn man jedoch die Wurzeln verletzt, etwa beim Umtopfen einer Zimmerpflanze, dann kann es sein, dass die Pflanze sich davon nicht mehr erholt. Und das ist nicht nur bei Pflanzen so. Menschen, deren Wurzeln gekappt wurden, etwa durch Vertreibung und Flucht, sind verletzlich, sind sich des Verlustes ihrer Wurzeln oft noch Jahrzehnte später schmerzhaft

bewusst. Das merke ich immer wieder im Gespräch mit Menschen, die bei Kriegsende aus ihrer Heimat fliehen mussten, alles hinter sich lassen mussten. Verletzte oder gar gekappte Wurzeln die kommen aber auch bei anderen vor, selbst bei jenen, die ihren Geburtsort nie verlassen haben. Wurzeln sind das, was uns nährt. Das, was uns Halt gibt im Leben. Die frühesten und wohl wichtigsten Wurzeln sind die, die uns unsere Eltern schenken: die Erfahrung, behütet und geschützt wachsen zu können. Doch auch später, lange nach unserer Kindheit, wachsen uns immer wieder neue Wurzeln. Da gibt es Menschen, die uns nähren, die für uns wichtig, notwendig sind, wie Wasser für eine Pflanze. Da gibt es Dinge, die uns Halt geben im Leben, auch dort, wo es steinig ist und steil. Rituale etwa, Worte eines alten Gebetes vielleicht. Für uns als Einzelne kann auch und gerade unser Glauben eine Wurzel sein, die uns nährt, die uns Halt gibt. Für uns als Gemeinschaft, als christliche Kirche, ist es wichtig, uns daran zu erinnern, dass unser Glauben auch wiederum seine Wurzeln hat. Er wurzelt: im Judentum. Er wurzelt im Glauben der Jüdinnen und Juden, die in den 2000 Jahren vor Jesus Christus gelebt haben. Er wurzelt in ihren gemurmelten Gebeten, in den Geschichten und Traditionen, die über die Jahrhunderte weitererzählt wurden, weitergegeben von Mutter, von Vater zu Kind, bis hin zu jenem jüdischen Kind, das heranwuchs und der wurde, den wir als den Messias bekennen. Mit Jesus von Nazareth war das Judentum nicht überholt. Nicht abgelöst. Nicht überboten. Sondern: es tat sich ein neuer Weg auf. Ein Weg, der mitten im Judentum wurzelt und dieses doch verlässt. Mit Jesus, dem Christus, ist auch den Nicht-Juden ein Weg eröffnet. Für uns der eine, der einzige Weg. Wenn wir, als Gemeinde, als Kirche, das vergessen, dann drohen wir den Halt zu verlieren. Wir brauchen die Traditionen, die im Judentum ihren Ursprung haben. Wir können die Bibel, auch das Neue Testament, gar nicht verstehen, ohne zumindest ein klein wenig vom Judentum zu wissen. Eine Kirche, die ihre jüdischen Wurzeln vergisst, verliert ebenso den Halt wie ein entwurzelter Mensch; sie ist ebenso wenig lebensfähig wie eine Zimmerpflanze, der beim Umtopfen die Wurzeln gekappt wurden. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern: Bei aller Unterschiedlichkeit, die nicht kleingeredet werden soll oder muss: Als Christen und Juden sind wir gemeinsam unterwegs. Auf verschiedenen Wegen, ja. Und doch: Trinken wir aus denselben Quellen. Wurzeln in demselben Boden. Und strecken uns dem einen Gott

entgegen. Dem Gott, der uns unsere Wurzeln geschenkt hat, der uns nährt, der uns Halt gibt im Leben. Amen. Der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. Pfarrerin Sonja Albrecht