so. JUDENHASS 2014 sind mehr Menschen nach Israel ausgewandert als in den vergangenen zehn Jahren. An der Spitze stehen jene Gegenden, in denen Juden am meisten unter Anschlägen leiden: Westeuropa und die USA. Stärker verbreitet ist der Antisemitismus allerdings im Nahen Osten. VON ANN-KATHRIN SEIDEL (TEXT) UND INA FUNK (GRAFIKEN)
v V v v v v In dieser Woche wurde viel über den Schlussstrich diskutiert. Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung hat ergeben, dass sich 60 Prozent der Deutschen ein Ende der Beschäftigung mit dem Holocaust wünschen. Vier von fünf Deutschen wollten die Geschichte der Judenverfolgung gar hinter sich lassen. Gleichzeitig haben im 69. Jahr nach der Befreiung von Auschwitz rund 8400 Juden Europa verlassen und sind nach Israel ausgewandert. Der Mammutanteil kommt bekanntlich aus Frankreich: 7000 Juden verließen ihre Heimat. Im Jahr 2014 hat Israel die größte Einwanderung innerhalb von zehn Jahren erlebt. Top-Ten-Länder mit den größten jüdischen Bevölkerung 26 500 Menschen haben 2014 Alija gemacht den Aufstieg nach Israel, wie der Einbürgerungsprozess auf Hebräisch heißt. 32 Prozent mehr Juden als im Vorjahr sind damit nach Israel gekommen. Eine Zunahme jüdischer Auswanderer von 88 Prozent hat Westeuropa verzeichnet. Den höchsten Anstieg überhaupt weist aber die Ukraine mit 190 Prozent auf. Mit knapp 6000 Auswanderern sind sogar mehr Juden ausgewandert als aus dem Riesenland Russland. Damit haben Frankreich, die Ukraine und die anderen Länder, in denen Juden sich zur Emigration entschieden, eins gemein: Für Juden sind die Länder zu einer unsicheren Heimat geworden. Israel 5,9 Millionen USA 5,4 Millionen Frankreich 480 000 Kanada 375 000 Großbritannien 290 000 Russland 190 000 Argentinien 180 000 Deutschland 119 000 Australien 112 000 Brasilien 95 000
v v V v v v Weltweit steigt die Zahl der antisemitischen Vorfälle seit der Jahrtausendwende an. Zwar sind die absoluten Angaben schwer zu erfassen, denn jedes Land hat andere Kriterien für diese Art von Straftaten, aber der Trend weist laut den Kantor-Centers für zeitgenössischen Antisemitismus und Rassismus an der Universität Tel Aviv deutlich in Richtung Zunahme. Zu den weltweiten Spitzenreitern im negativen Sinn zählen Frankreich, Großbritannien, Kanada und die Vereinigten Staaten, gefolgt mit einigem Abstand von Deutschland und der Ukraine. Dabei hat sich die Zustimmung zu antisemitischen Vorurteilen in den letzten Jahrzehnten in Europa nicht stark verändert. Die Quoten sind weitgehend stabil: In Deutschland beispielsweise gehen Forscher davon aus, dass jeder fünfte Bürger judenfeindliche Einstellungen hat. Was also ist anders geworden? Seit einigen Jahren beginnt das Tabu aufzubrechen, sich öffentlich antisemitisch zu äußern, sagt Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Vor allem mit israelbezogenem Antisemitismus glaubt man diesen Grundkonsens der Bundesrepublik umgehen zu können. Ein Beispiel dafür sei Günter Grass Gedicht Was gesagt werden muss. Der Autor hat Zuwanderung nach Israel 2014 1. Frankreich 6700 2. Ukraine 6000 3. Russland 4600 4 USA 3800 5. GB 630 6. Indien 440 7. Kanada 400 8. Italien 350 9. Weißrussland 330 10. Brasilien 300 Argentinien 300 11. Belgien 230 12. Äthiopien 220 13. Südafrika 180 Australien 180 14. Deutschland 140
v v v V v v Ressentiments bedient, die im öffentlichen Diskurs auf fruchtbaren Boden fallen, sagt Wetzel. Verbreitung antisemitischer Vorurteile Niederschwellige Formen von Antisemitismus werden wie Bagatellen behandelt. Damit wird eine gefährliche Lunte gelegt, warnt Samuel Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen. So seien die Großdemonstrationen während des Gazakriegs im vergangenen Sommer, auf denen vielerorts antisemitische Anfeindungen zu sehen waren, verharmlost worden. Das Sinken dieser Hemmschwelle sei eine Voraussetzung für die Zunahme von Straftaten, sagt Salzborn. 19 % 24 Dennoch: Schaut man etwa auf die Befunde der US-amerikanischen Anti Defamation League, sind die Zahlen in Westeuropa zwar besorgniserregend, aber liegen weit hinter dem Nahen und Mittleren Osten. 74 Prozent der Bewohner, und das trifft fast auf Muslime wie Christen gleichermaßen zu, hegen dort judenfeindliche Gedanken und Gefühle. Wie kommt es zu diesem Ungleichgewicht zwischen Europa und Nordamerika auf der einen und der Mena-Region auf der anderen Seite? Quelle: ADL
v v v v V v Das Phänomen, das in diesen Ländern existiert, könnte man schlicht Antisemitismus ohne Juden nennen. Antisemitismus hat hier nur mittelbar etwas mit Juden zu tun, vor allem ist er ein Weltbild und Erklärungsmuster, sagt Salzborn. Kurz gesagt: Jeder Antisemit baut sich seinen Juden selbst. Dieser hat dann die Funktion des Sündenbocks für unerträgliche Konflikte, ausweglose Situationen und Ungerechtigkeit. Verschwörungstheorien sind zentraler Bestandteil dieses Denkens. Die Gerüchte etwa, die Israel beschuldigen, hinter den Anschlägen in Paris zu stehen, um die Muslime in Misskredit zu ziehen, sind ein klassisches Beispiel dieser Art antisemitischer Vorurteile. Antisemitistische Vorfälle seit 2000 vermehrte Überg dem Gazakrieg 2 Die Anti Defamation League hat in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung gemacht: Die meisten Menschen auf der Welt überschätzen die Zahl der Juden. So geht die Hälfte der Erdbevölkerung davon aus, dass es mehr als ein Prozent Juden gibt, also 70 Millionen. Weitere 18 Prozent rechnen mit zehn Prozent. Das wären 400 Millionen. Und knapp zehn Prozent der Menschen denken, dass 20 Prozent der Weltbevölkerung Juden sind. Damit käme man auf 1,4 Milliarden. In Wirklichkeit gibt es aber nur knapp 0,2 Prozent Juden auf der Welt, gerade einmal 13,6 Millionen Menschen.
v v v v v V Unter dem Begriff neuer Antisemitismus wird derzeit vor allem in Frankreich über judenfeindliche Einstellungen in muslimisch geprägten Milieus diskutiert. Die Gewalt gegen Juden in Europa allerdings als einen direkten Import der Ressentiments aus dem Nahen Osten zu bezeichnen, davor warnen die Antisemitismusforscher. Wir haben es mit einer neuen Tätergruppe zu tun, die allerdings nur den bekannten antisemitischen Kanon auf die politischen Konflikte im Nahen Osten anwendet, sagt Juliane Wetzel. Verbreitung von Antisemitismus nach Weltanschauung Muslime 49 % Die Auswanderung nach Israel hält die Historikerin für nicht so schwerwiegend wie derzeit in den Medien beschrieben. Vielmehr sollten sich die europäischen Gesellschaften über die innere Emigration vieler Juden Gedanken machen. Laut einer Umfrage der Agentur für Grundrechte der Europäischen Union aus dem November 2013 verzichten mittlerweile 38 Prozent der Juden auf dem Kontinent auf alles, was sie als Juden erkennbar machen könnte, vor allem auf Kippas und Davidsterne. In Deutschland vermisse sie eine breite Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung, sagt Wetzel. Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, wenn sie nicht darum kämpft, die Ängste der Juden zu lindern. N Buddhisten 17 % Nichtreligiöse 21 % Christen 24 % Hindus 19 % Quelle: ADL