Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alimanovic das Ende der europäischen Sozialbürgerschaft?

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Transkript:

info also 1/2016 3 Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alimanovic das Ende der europäischen Sozialbürgerschaft? Ute Kötter* Am 15.9.2015 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) seine lange erwartete Entscheidung in der Rechtssache Alimanovic getroffen. 1 In Deutschland war im Vorfeld eine heftige juristische Auseinandersetzung mit einer beinahe unübersehbaren Vielzahl von wissenschaftlichen Beiträgen und Gerichtsentscheidungen entbrannt, angesichts derer das Urteil des EuGH lakonisch erscheint. Die Intensität der Diskussion macht allerdings deutlich, dass es bei den zur Entscheidung stehenden Fragen der Rechtssache Alimanovic um Grundfragen des solidarischen Zusammenlebens in der Bundesrepublik Deutschland und in der Europäischen Union geht, die dringender als je zuvor zur Entscheidung anstehen. 1. Die Kernaussagen des Urteils in der Rechtssache Alimanovic Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG 2 (Unionsbürgerrichtlinie) und der Grundsatz der Gleichbehandlung gem. Art. 4 VO (EG) 883/2004 3 (Freizügigkeitsverordnung) nicht einer Regelung wie der des 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, die UnionsbürgerInnen, die sich nur zum Zwecke der Arbeitsuche in einem Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, vom Bezug von Arbeitslosengeld II ausschließt, entgegenstehen. 4 Er stützt sich dabei auf zwei Argumentationen. 1.1 Arbeitslosengeld II zugleich besondere beitragsunabhängige Leistung i.s.d. Art. 70 VO (EG) 883/2004 und Sozialhilfe i.s.d. Art. 24 RL 2004/38/EG Zunächst bestätigt er seine bereits in der Rechtssache Dano 5 vertretene Auffassung, dass es sich bei den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugleich um besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004, auf die der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) 883/2004 anwendbar ist, und um Sozialhilfeleistungen i.s.d. der Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG handle. 6 Der Begriff Sozialhilfe i.s.d. Art. 24 RL 2004/38/EG erfasse sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch * Prof in Dr. jur., Hochschule für angewandte Wissenschaften München 1 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), SGb 2015, 638 ff. 2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. L 158 v. 30.4.2004, S. 77. 3 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 v. 30.4.2004, S. 1. 4 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 64 5 EuGH v. 11.11.2014 C-333/13 (Dano). 6 EuGH v. 11.11.2014 C-333/13 (Dano), Rn. 63. nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann. 7 Er begründet den Sozialhilfecharakter des Arbeitslosengeldes II und damit die Anwendbarkeit der Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG damit, dass die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht. 8 Damit erteilt er der Ansicht, 9 dass das Arbeitslosengeld II einen Doppelcharakter als Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts und als Leistung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt habe, 10 eine Absage. Das Arbeitslosengeld II ist zwar Teil eines Systems, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche 11 enthält, seine Funktion ist aber die der Existenzsicherung. 12 Der EuGH weicht damit von dem von ihm selbst in Vatsouras/ Koupatantze 13 angedachten Weg ab, den Zweck des Arbeitslosengeldes II unter Berufung auf die Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit vor allem in der Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt zu sehen. Damit wäre der Ausschluss von UnionsbürgerInnen vom Bezug von Leistungen der sozialen Grundsicherung für Arbeitsuchende ausschließlich an Art. 45 Abs. 2 AEUV und der ihn konkretisierenden VO(EG) 883/2004 zu messen gewesen und damit wohl europarechtswidrig. 1.2 Gleichbehandlung von UnionsbürgerInnen nur bei rechtmäßigem Aufenthalt i.s.d. Freizügigkeitsrichtlinie Zur Begründung seines Urteils führt er weiter aus, dass UnionsbürgerInnen Gleichbehandlung mit Staatsangehörigen 7 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 44 8 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 45. 9 Vgl. Thorsten Kingreen, Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium im Sozialleistungsrecht. Zur Vereinbarkeit von 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Unions- und deutschem Verfassungsrecht, SGb 2013, 132 ff. (134); Maximilian Fuchs, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen. Zugleich eine Besprechung von EuGH, Rs. C-333/13 (Dano), ZESAR 2015, 95, 101, sieht zwar das Alg II als glasklare Leistung der sozialen Fürsorge i.s.d. Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 an, räumt aber der Notifizierung als besondere beitragsunabhängige Leistung durch die Bundesregierung den Vorrang ein. 10 Vgl. Annett Wunder, Der Leistungsausschluss des 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nach dem Urteil des EuGH in der Rs. Alimanovic, SGb. 2015, 620 ff. (620 f.) m.w.n. 11 Pressemitteilung des EuGH Nr. 101/15 in der Rechtssache Alimanovic. 12 So bereits Ute Kötter, Ansprüche von BürgerInnen der Europäischen Union auf Leistungen der sozialen Grundsicherung nach dem SGB II zwischen Gleichbehandlungsanspruch und Demokratieprinzip, info also 2013, 243 ff. (250 f.). 13 EuGH v. 4.6.2009 C-22/08, C-23/08 (Vatsouras und Koupatantze), Rn. 43.

4 info also 1/2016 des Aufnahmemitgliedstaats nur verlangen können, wenn ihr Aufenthalt in dessen Hoheitsgebiet den Voraussetzungen der Freizügigkeitsrichtlinie entspricht. 14 Der EuGH unterscheidet bei Arbeitsuchenden zwei Fallgruppen: 15 Ein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate haben arbeitsuchende UnionsbürgerInnen gem. Art. 7 Abs. 3 c RL 2004/13/EG bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, wenn sie sich nach Ablauf eines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen. Sie behalten während dieser Zeit ihre Erwerbstätigeneigenschaft und den Anspruch auf Sozialhilfeleistungen (Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38/EG). UnionsbürgerInnen, die noch nicht im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet haben oder bei denen die Erwerbstätigeneigenschaft (nach sechs Monaten ohne Erwerbstätigkeit) nicht mehr besteht, behalten ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, wenn sie nachweisen, dass sie weiterhin mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit suchen. Ihnen können aber Sozialhilfeleistungen versagt werden (Art. 14 Abs. 4 Buchst. b i.v.m. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG). Dieses in der Unionsbürgerrichtlinie vorgesehene abgestufte System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft als Voraussetzung des Aufenthaltsrechts und des Zugangs zu den Sozialhilfeleistungen mache eine individuelle Prüfung der unangemessenen Belastung des Sozialhilfesystems, wie sie der EuGH noch in der Rechtssache Brey gefordert hatte, 16 entbehrlich, da es selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, berücksichtige. 17 Der Zeitraum für die Gewährung von Sozialhilfeleistungen nach Beendigung der Erwerbstätigkeit von sechs Monaten sei geeignet, um Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und stehe auch im Einklang mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. 18 Anders als noch in Brey weist der EuGH in Alimanovic darauf hin, dass für die Feststellung der unangemessenen Inanspruchnahme des Sozialhilfesystems eines Mitgliedstaats die Aufsummierung sämtlicher Einzelanträge 19 zu prüfen sei. Auch wenn diese Aufsummierung wohl nicht durch den einzelnen Sachbearbeiter bzw. Richter erfolgen kann und mit erheblichem Verwaltungsaufwand verbunden sein dürfte, ist sie doch sachgerechter als eine Prüfung der Belastung des Sozialhilfesystems an Hand des Einzelfalls, wie sie der EuGH zuvor vertreten hat. 14 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 51, ebenso bereits in EuGH v. 11.11.2014 C- 333/13 (Dano), Rn. 63. 15 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 52-58. 16 EuGH v. 19.9.2013 C-140/12 (Brey), Rn. 64, 68, 79. 17 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 61. 18 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 61. 19 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 62. 2. Offene Fragen Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic lässt mehr Fragen offen als es beantwortet (aber auch aufgrund der Vorlagefragen beantworten musste). 2.1 Die Vereinbarkeit von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG mit dem Primärrecht Im Fall Dano hat der EuGH klargestellt, dass gem. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG der Bezug von Leistungen der Grundsicherung des SGB II in europarechtlich zulässiger Weise davon abhängig gemacht werden kann, dass die die Leistungen der Grundsicherung beanspruchenden UnionsbürgerInnen wirtschaftlich aktiv sind. Dies schließt rechtlich nichterwerbstätige UnionsbürgerInnen vom Bezug von Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts 20 und damit zugleich faktisch UnionsbürgerInnen ohne Einkommen und Vermögen vom Gebrauch ihres Freizügigkeitsrechts aus. Die Entscheidung im Fall Alimanovic dehnt diesen Ausschluss von Sozialhilfeleistungen (und damit bei fehlendem Einkommen und Vermögen faktisch auch vom Freizügigkeitsrecht) auf Personen aus, deren Erwerbstätigeneigenschaft i.s.d. Unionsbürgerrichtlinie durch unfreiwillige Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum als sechs Monate verloren geht. Es ist umstritten, ob eine derartige Beschränkung der Freizügigkeit durch die Unionsbürgerrichtlinie mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AEUV und Art. 21 AEUV vereinbar ist. 21 Der EuGH hat in einer Reihe von Entscheidungen den Zusammenhang zwischen dem Recht der UnionsbürgerInnen auf Freizügigkeit, dem Recht auf Aufenthalt, 22 und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 AEUV, dem Recht im Aufenthalt, 23 herausgearbeitet. 24 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Grzelcyk (C-184/99) wird dieser Zusammenhang am deutlichsten. Der EuGH leitet hier aus dem Status des Unionsbürgers einen weitgehenden Anspruch auf Inländergleichbehandlung ab: Der Unionsbürgerstatus ist ( ) dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen. 25 Insofern erscheint das Urteil in Alimanovic als Abkehr vom europäischen Sozialbürgerstatus und als Rückkehr zum Marktbürgerstatus, der an wirtschaftliche, durch die Marktfreiheiten geschützte Aktivitäten gebunden ist, 26 zumal der EuGH sich 20 Vgl. Daniel Thym, Die Rückkehr des Marktbürgers Zum Ausschluss nichterwerbstätiger EU-Bürger von Hartz IV-Leistungen, NJW 2015, 130 ff. (131). 21 Thorsten Kingreen, In love with the single market? Die EuGH- Entscheidung Alimanovic zum Ausschluss von Unionsbürgern von sozialen Grundsicherungsleistungen, NVwZ 2015, 1503 ff. (1504); Constanze Janda, Anmerkungen zur Alimanovic -Entscheidung des EuGH vom 15. September 2015, Asylmagazin 2015, 357 ff. (358). 22 Kingreen (Fn. 21), 1503. 23 Kingreen (Fn. 21), 1503. 24 Kingreen (Fn. 21), 1503 m.w.n. (Fn. 3). 25 EuGH v. 20.9.2001 C-184/99 (Grzelcyk), Rn. 31. 26 Thym (Fn. 20), 130; Kingreen (Fn. 21), 1505.

info also 1/2016 5 nicht explizit zur Vereinbarkeit der Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie mit dem Primärrecht äußert. Das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV steht jedoch unter dem Vorbehalt seiner Konkretisierung durch das Sekundärrecht. Gem. Art. 21 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Solche Beschränkungen und Bedingungen können nach ständiger Rechtsprechung des EuGH von berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden. 27 Zu den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten gehört auch das auf Ausgestaltung ihrer Systeme sozialer Sicherheit, die nach der derzeitigen Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten noch den Mitgliedstaaten obliegt. 28 Der EuGH trägt dem Spannungsverhältnis zwischen den durch den Unionsbürgerstatus garantierten Rechten auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung und den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten am Schutz ihrer sozialpolitischen Gestaltungsspielräume Rechnung, indem er grundsätzlich eine individuelle Prüfung einer tatsächlichen unangemessenen Belastung des Sozialhilfesystems vor Abweisung von Leistungsansprüchen fordert. 29 Wie der EuGH in Brey ausgeführt hat, impliziert die Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, indem sie das Aufenthaltsrecht für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten davon abhängig macht, dass der Betroffene das System der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt, bei ihrer Auslegung im Licht des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie, dass die zuständigen nationalen Behörden befugt sind, unter Berücksichtigung aller Faktoren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Frage ihrer Beurteilung zu unterziehen, ob die Gewährung einer Sozialleistung eine Belastung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaats darstellt. Die Richtlinie 2004/38 erkennt somit eine bestimmte finanzielle Solidarität der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats mit denen der anderen Mitgliedstaaten an, insbesondere wenn die Schwierigkeiten, auf die der Aufenthaltsberechtigte stößt, nur vorübergehender Natur sind. 30 Im Fall Alimanovic verzichtet der EuGH auf diese Prüfung, da die gesetzliche Regelung der RL 2004/38/EG für Fälle des Aufenthalts nur zur Arbeitsuche die Grenze zwischen Freizügigkeit der UnionsbürgerInnen und finanzieller Solidarität der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates ausreichend konkretisiere 31 und damit aus Sicht des EuGH wohl auch den Anforderungen einer primärrechtskonformen Auslegung gerecht werde. Der EuGH ist in seinen einschlägigen Entscheidungen bisher nicht explizit auf die Frage eingegangen, welche Kollisionsregeln auf den Normenkonflikt zwischen der Freizügigkeitsverordnung und der Unionsbürgerrichtlinie anzuwenden sind. Implizit geht er wohl von einer lex specialis-regelung aus. 27 Vgl. EuGH v. 19.9.2013 C-140/12 (Brey), Rn. 55 unter Hinweis auf die Urteile vom 17.9.2002 C-413/99 (Baumbast), Rn. 90, 19.10.2004 C-200/02 (Zhu und Chen), Rn. 32, sowie vom 23.3.2006 C-408/03 (Kommission/Belgien), Rn. 37 und 41. 28 Art. 151 ff. AEUV 29 EuGH v. 19.9.2013 C-140/12 (Brey), Rn. 64, 69 und 78. 30 EuGH v. 19.9.2013 C-140/12 (Brey), Rn. 72. 31 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 60 ff. 2.2 Tatsächliche Wahrnehmung der elterlichen Sorge als Aufenthaltsgrund Der EuGH hat sich in seiner Entscheidung nicht zum Hinweis des Generalanwalts geäußert, dass in ständiger Rechtsprechung des EUGH aus dem in Art. 10 Abs. 1 VO (EU) 492/2011 geregelten Recht der Kinder von im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats beschäftigten bzw. ehemals beschäftigten Arbeitnehmern auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht und der Lehrlingsbzw. Berufsausbildung ein Aufenthaltsrecht desjenigen Elternteils, der die elterliche Sorgen für das Kind tatsächlich wahrnehme, abgeleitet werde. 32 Das Aufenthaltsrecht des die elterliche Sorge wahrnehmenden Elternteils ist nicht abhängig vom Nachweis eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel. Folgt man der Ansicht des Generalanwalts, so könnte der Aufenthalt von Frau Alimanovic nicht nur den Zweck der Arbeitsuche, sondern auch den der tatsächlichen Wahrnehmung der elterlichen Sorge für ihre aufenthaltsberechtigten Kinder in Deutschland haben. Damit wäre die Arbeitsuche nicht mehr alleiniger Zweck des Aufenthalts und 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II käme nicht zur Anwendung. Der EuGH musste sich in der Rechtssache Alimanovic jedoch nicht zu dieser Fallgestaltung äußern, da diese Frage ihm nicht zur Entscheidung vorgelegt worden war. Das Bundessozialgericht hatte im Fall einer bulgarischen Staatsangehörigen, die schwanger nach Deutschland eingereist war, um ihrem Kind das Zusammensein mit seinem Vater, der in Deutschland lebte, zu ermöglichen, unter Berufung auf den aus Art. 6 GG geschützten Anspruch (des Kindes) auf Ermöglichung und Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an bereits diesen Weg beschritten und ihr Leistungen nach dem SGB II gewährt, da sie sich nicht nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. 33 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Alimanovic vom 3.12.2015 34 hat es nun folgerichtig zwar den Ausschluss der Familie Alimanovic von Leistungen nach dem SGB II bestätigt, aber das zuständige Jobcenter angewiesen, andere Aufenthaltsgründe als den der Arbeitsuche zu prüfen. 35 2.3 Zugang von UnionsbürgerInnen, die sich nur zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, zu Leistungen der Eingliederung nach dem SGB II Offen bleibt nach der Entscheidung in der Rechtssache Alimanovic auch die Frage, ob UnionsbürgerInnen Anspruch auf Leistungen der Eingliederung gem. 16 ff. SGB II haben. Der EuGH hat in der Beantwortung der ersten Frage des BSG nochmals ausgeführt, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 32 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 26.3.2015 in der Rechtssache C-67/14 (Alimanovic), Rn. 119-121; vgl. Wunder (Fn. 10), 621. 33 BSG v. 30.1.2013 B 4 AS 54/12 R, Rn. 15 34 BSG v. 3.12.2015 B 4 AS 43/15 R. 35 Vgl. Beck-Aktuell, Ausschluss von Sozialleistungen für EU-Bürger, Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung (http://www. http://rsw.beck.de/aktuell/meldung/bsg-ausschluss-von-sgb-ii-leistungen-fuer-eu-buerger-sozialhilfe-bei-tatsaechlicher-aufenthaltsverfestigung; letzter Zugriff am 12.12.2015); vgl. auch Terminbericht des BSG Nr. 54/15 zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-juna151202743&cmsuri=%2fjuris%2fde%2fnachrichten%2fzeigenachricht.jsp, letzter Zugriff am 12.12.2015).

6 info also 1/2016 SGB II nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können ( ), sondern als Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind. 36 Etwas anderes gilt, wie der EuGH in der Rechtssache Vatsouras/Koupatantze 37 ausgeführt hat, für finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen: UnionsbürgerInnen, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, können sich auf Art. 39 Abs. 2 EG (jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV) berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Feststellung der tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt und der grundlegenden Merkmale der betreffenden Leistung, insbesondere ihres Zwecks und der Voraussetzungen ihrer Gewährung, obliegt den nationalen Behörden bzw. innerstaatlichen Gerichten. 38 UnionsbürgerInnen können damit von Eingliederungsleistungen gem. 16 ff. SGB II, die vorbehaltlich einer Prüfung im Einzelnen grundsätzlich als finanzielle Leistungen zur Erleichterung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt einzustufen sind, nur ausgeschlossen werden, wenn sie keine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt haben. Der pauschale Ausschluss von Eingliederungsleistungen nach 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt daher mit Blick auf die Eingliederungsleistungen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) 883/2004 und gegen Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38. Die Leistungsträger sind daher aufgefordert, im Einzelfall die tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt zu prüfen und ggf. Eingliederungsleistungen zu gewähren. 2.4 Die Vereinbarkeit von 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem nationalen Verfassungsrecht Mit der Entscheidung im Fall Alimanovic wird der Blick auch wieder frei für die Fragen, die sich aus der deutschen Rechtsordnung mit Blick auf 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergeben, insbesondere auf die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. 39 Einige Rezensionen der Alimanovic-Entscheidung 40 und bisher wenige Gerichtsurteile 41 verweisen auf die mögliche Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses nach 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. 42 36 EuGH v. 15.9.2015 C-67/14 (Alimanovic), Rn. 46 (unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Generalanwalts (Rn. 66-71 der Schlussanträge). 37 Vgl. EuGH v. 4.6.2009 C-22/08, C-23/08 (Vatsouras und Koupatantze), Rn. 45. 38 EuGH v. 4.6.2009 C-22/08, C-23/08 (Vatsouras und Koupatantze), Rn. 41. 39 Vgl. auch Paritätischer Gesamtverband (Hrsg.), Die Strategie des Trüffelschweins, Hartz IV für arbeitsuchende und nicht erwerbstätige UnionsbürgerInnen (verfasst von Claudius Vogt), PDF-Datei von der Website www.harald-thome.de. 40 Vgl. Wunder (Fn. 10), 622 (Fn. 23 m.w.n. zur Rechtsprechung). 41 Die Verfassungsmäßigkeit von 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verneinend: SG Mainz v. 2.9.2015 S 3 AS 599/15 ER und LSG NRW v. 20.3.2015 L 19 AS 116/15 B ER (zitiert nach Claudius Vogt [Fn. 39]). 42 O.A., Die Marginalisierung als Methode. Die aktuelle Rechtsprechung zum Anspruch von EU-Bürgerinnen und -Bürgern auf Leistungen nach dem SGB II (http://www.sozialrecht-in-freiburg.de, letzter Zugriff 12.12.2015), kritisiert, dass die Mehrzahl der Landessozialgerichte sich jedoch der Auseinandersetzung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem damit verbundenen Begründungsaufwand entzieht, indem sie die Verfassungsmäßigkeit des 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht in Frage stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 43 explizit festgestellt, dass das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht ist, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. 44 Nach dem Wortlaut der Entscheidung kommt es dabei weder auf die Dauer noch auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an, was auch die Beschränkung des Grundrechts im Rahmen von Regelungen des Aufenthaltsrechts ausschließen würde. 45 Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen nicht hinnehmbar. Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten ist in dem Augenblick zu befriedigen, in dem er entsteht. 46 Ein bloßer Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat genügt daher den Begründungsanforderungen an die Einschränkung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins wohl nicht. 47 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II könnte daher verfassungswidrig sein, wenn er UnionsbürgerInnen während ihres Aufenthalts in Deutschland abschließend vom Anspruch auf Leistungen der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließt. 2.5 Anspruch von vom Bezug von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossenen UnionsbürgerInnen nach dem SGB XII Etwas anderes könnte dann gelten, wenn UnionsbürgerInnen hilfsweise existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII beziehen könnten. 48 Mit dem 4. Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsplatz hat der Gesetzgeber ein mehrgliedriges System der sozialen Mindestsicherung 49 geschaffen, das neben den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII vorsieht. Die Abgrenzung von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII erfolgt grundsätzlich anhand des Kriteriums der Erwerbsfähigkeit. 21 Satz 1 SGB XII bestimmt daher, dass Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen zum Lebensunterhalt erhalten. Allerdings sieht 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII vor, dass bei tatsächlichem (noch nicht verfestigten) Aufenthalt im Inland AusländerInnen neben der Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft 43 BVerfG v. 18.7.2012 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 BVerfGE 132, 134. 44 BVerfG v. 18.7.2012 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 BVerfGE 132, 134, Rn. 63. 45 Das Grundrecht darf nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht migrationspolitisch relativiert werden. 46 BVerfG v. 18.7.2012 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 BVerfGE 132, 134, Rn. 125. 47 Zutreffend Wunder (Fn. 10), 622. 48 Vgl. Jasmin Körtek, Der Ausschluss von EU-Ausländern von SGB II-Leistungen in der aktuellen Rechtsprechung des EuGH, SozSich 2015, 370 (376). 49 Vgl. Uwe Berlit, Abgrenzung der existenzsichernden Leistungssysteme, in: Berlit/Conradis/Sartorius (Hrsg.), Existenzsicherungsrecht, Handbuch, 2. Aufl. 2013, 159 ff.

info also 1/2016 7 sowie Hilfe zur Pflege auch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu leisten ist. 50 Bei Daueraufenthalten, die durch einen entsprechenden Aufenthaltstitel gestützt sind, haben AusländerInnen dieselben Ansprüche auf Sozialhilfe wie Deutsche ( 23 Abs. 1 Satz 4 SGB XII). Eine verfassungsgemäße Auslegung des 21 Satz 1 SGB XII könnte den Weg zu Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII für gem. 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen der sozialen Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossene UnionsbürgerInnen ebnen. Diesen Weg beschreitet offensichtlich das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 3.12.2015. 51 Danach sind vom Bezug von SGB II-Leistungen ausgeschlossene EU-BürgerInnen dem Hilfesystem des SGB XII zugewiesen und können sich bei fortbestehender Freizügigkeitsberechtigung hinsichtlich der Leistungen des SGB XII auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens berufen, da für diese Leistungen kein Vorbehalt im Sinne des Art. 16b EFA erklärt wurde. 52 UnionsbürgerInnen ohne fortbestehende Freizügigkeitsberechtigung können nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Ermessensleistungen nach 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII erhalten, soweit diese im Einzelfall gerechtfertigt sind. Bei verfestigtem Aufenthalt (über sechs Monate) reduziert sich das Ermessen jedoch auf Null, so dass sie einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben. 53 3. Fazit Die nationalstaatliche Orientierung des deutschen Sozialsystems mag unter dem Druck der Globalisierung nicht zukunftsfähig sein, sie widerspricht aber nicht dem geltenden EU-Recht. Eine Sozialbürgerschaft mit umfassenden Leistungsansprüchen aller UnionsbürgerInnen in allen Mitgliedstaaten lässt sich dem EU-Recht bisher nicht entnehmen. Der EuGH hat mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Alimanovic den Ball zurück in das Feld der nationalen Gerichtsbarkeit und des nationalen Gesetzgebers gespielt. Es obliegt jetzt den nationalen Gerichten und dem Gesetzgeber, entsprechende, am Maßstab des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu messende Entscheidungen zu treffen. Dem Gesetzgeber kommt dabei mindestens die Aufgabe einer Gesetzesbereinigung zu, um den UnionsbürgerInnen und ihren BeraterInnen zu ersparen, im Dickicht der EuGH- und BSG-Rechtsprechung die entsprechenden Anspruchsgrundlagen und ihre Voraussetzungen 50 Vgl. Berlit (Fn. 49), 188 (Rz. 86). 51 BSG v. 3.12.2015 B 4 AS 44/15 R. Das Urteil war zum Zeitpunkt der Bearbeitung dieses Beitrags noch nicht abgesetzt. 52 BSG v. 3.12.2015 B 4 AS 59/13 R (noch nicht abgesetzt, vgl. den Terminbericht des BSG Nr. 54/15 zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-juna151202743&cmsuri=%2fjuris%2fde%2fnachrichten%2fzeigenachricht.jsp, letzter Zugriff am 15.12.2015)). Den Vorbehalt hinsichtlich der SGB II-Leistungen erkennt das BSG nach dem Pressebericht als formell und materiell rechtmäßig an. 53 BSG v. 3.12.2015 B 4 AS 44/15 R; vgl. den Terminbericht des BSG Nr. 54/15 zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (https:// www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-juna151202743&cmsuri=%2fjuris%2fde%2fnachrichten%2fzeigenachricht.jsp, letzter Zugriff am 15.12.2015). wie juristische Trüffel erschnüffeln 54 zu müssen. Diese im Sinne der Rechtssicherheit gebotene gesetzliche Klarstellung sollte zugleich die sich durch den Stand der Rechtsprechung des EuGH und des BSG ergebenden neuen Fragestellungen, wie die nach dem Zusammenhang zwischen Ansprüchen auf Eingliederungsleistungen nach dem SGB II und lebensunterhaltssichernden Leistungen nach dem SGB XII, lösen. Die Entscheidungen des EuGH in den Fällen Dano und Alimanovic wurden als Aufgabe einer integrationsfreundlichen EuGH-Rechtsprechung 55 und als Beschränkung eines bereits erreichten weitergehenden europäischen Sozialbürgerstatus 56 heftig kritisiert. Ein solcher Sozialbürgerstatus würde nicht nur gerichtlich überprüfbare Sozialrechtsansprüche, wie sie unter dem Regime der VO (EG) 883/2004 wenn auch nicht umfassend bereits verwirklicht sind, sondern auch entsprechende, durch die UnionsbürgerInnen legitimierte Verteilungs- und Solidaritätsentscheidungen auf europäischer Ebene voraussetzen. Eine derartig eindeutig auf Zugang aller UnionsbürgerInnen zu den Sozialhilfeleistungen der Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidung des europäischen Gesetzgebers ist jedoch nicht erkennbar. Die politische Selbstbeschränkung des EuGH hat die Fragen der Solidarität durch Sozialhilfeleistungen daher wieder auf die Ebene zurück gebracht, auf der diese Fragen nach dem derzeitigen Stand der demokratischen Willensbildung auf europäischer Ebene und der Verteilung der Rechtsetzungskompetenzen zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten im Bereich der Gestaltung der Systeme sozialer Sicherheit diskutiert und gelöst werden müssen. Dabei wird in Deutschland dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums die zentrale Bedeutung zukommen. Man kann das Urteil daher wie auch Kritiker der EuGH-Rechtsprechung zugeben tatsächlich als Anwendungsbeispiel für gelungenen Grundrechtsföderalismus 57 sehen. Dies kann aber unter dem Blickwinkel einer weiter gehenden Integration der Europäischen Union nur ein vorübergehender Zustand sein. Letztlich ist der europäische Gesetzgeber aufgefordert, seine Möglichkeiten zu nutzen, um dem formalen Freizügigkeitsrecht für UnionsbürgerInnen ohne ausreichende finanzielle Mittel auch einen materiellen Inhalt zu geben und damit einen umfassenden europäischen Sozialbürgerstatus zu gestalten. Dazu zählt nicht zuletzt die in Art. 21 Abs. 3 AEUV dem Rat eingeräumte Kompetenz, zum Zwecke der Erreichung des Ziels der Freizügigkeit gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zu erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen. Es stünde den Mitgliedstaaten daher frei, ein gemeinsames Sozialhilfesystem für diejenigen UnionsbürgerInnen zu schaffen, die aufgrund ihrer Bedürftigkeit nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen können, und damit tatsächlich eine Unionssozialbürgerschaft zu schaffen. 54 Vgl. dazu Paritätischer Gesamtverband (Hrsg.), Die Strategie des Trüffelschweins (Fn. 39). Hier findet sich auch eine sehr praktikable Übersicht des abgestuften Systems der Grundsicherungsleistungen für UnionsbürgerInnen und AusländerInnen. 55 Kingreen (Fn. 21), 1503 f. 56 So Anuscheh Faharat, Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de 57 Kingreen (Fn. 21), 1506.