jetzt unten am Geländer und wirkte ungeduldig. Er kratzte sich am Kopf, sah ständig auf die überdimensionale Uhr, die seinen Handrücken schmückte, und runzelte die Stirn. Er war hochgewachsen, ziemlich stämmig und trug eine hellblaue Jeans mit schwarzer Lederjacke. Der Mann blickte kurz auf, bemerkte, dass Lia ihn fixierte, und verschwand sofort im Inneren des Schiffes. Lia hüpfte die steile Treppe hinunter. Der Mann kämpfte sich durch die im Bauch der Fähre aufgestellten Klappstühle, auf denen sich die Gäste niedergelassen hatten, die keinen Sitzplatz im Schiffsrestaurant mehr gefunden hatten. Lia folgte ihm, doch ihr gelang das Durchkommen durch die Stuhlreihen nicht so leicht. Im Gastraum quetschte sie sich auf das Ende einer der Bänke. So hatte sie den Mann
im Blickfeld, aber er benahm sich jetzt ganz unauffällig, außer, dass er nicht aufhörte, ständig auf seine Armbanduhr zu starren, als würde die Zeit so rascher vergehen. Ein Stück von ihm entfernt saßen zwei junge Typen, die er immer wieder mit seinem Blick fixierte. Schließlich kam der Hafen von Juist in Sicht. Die Menschen an Bord drängten zum Ausgang. Lia gab ihren Beobachtungsposten auf und machte sich auf die Suche nach ihren Freunden. Sie konnte allerdings weder Helge noch Maybritt erspähen. Wahrscheinlich saß ihre Freundin noch schweißüberströmt an der Reling und hoffte, diese Fahrt zu überleben. Es war völlig unmöglich, gegen den Strom der Leute die Treppe hinaufzugehen, um dort nach ihren Freunden zu suchen. Ein bisschen quälte Lia ihr schlechtes Gewissen Maybritt gegenüber, doch es bestand wirklich keine
Möglichkeit, zu ihr zu gelangen. Also ließ Lia sich von der Menschenmenge treiben, bis sie über den Landungssteg in der Ankunftshalle angekommen war. Ihre Freunde würden schon irgendwann nachkommen, sie hoffte nur, dass Maybritt die Treppe allein hochgehen konnte. Lia war ewig nicht mehr auf der Insel gewesen, hatte ganz vergessen, wie schön es war, nicht von Autos, sondern von Pferdekutschen empfangen zu werden. Juists Leuchtturm thronte am Sieltor, und am Eingang der Halle sah sie dann auch Oma Gerda stehen. Sie ruderte überschwänglich mit den Armen. Bestimmt hat sie wieder Kinderschokolade in der Tasche, dachte Lia. Oma hat immer Kinderschokolade in der Tasche, obwohl ich schon lange kein kleines Kind mehr bin. Dass Enkel größer wurden, war eine Tatsache, die eine Oma nicht so gern
sah. Also lebenslang Kinderschokolade. Es gab Schlimmeres. Hauptsache, Oma Gerda wartete nicht ständig mit ihrem warmen Kakao auf. Lia rannte zu ihr, und Oma Gerda herzte und küsste sie, dass es ihr fast peinlich war. Im Stillen war sie erleichtert, dass Helge und Maybritt noch auf dem Schiff waren, denn so bekamen die beiden dieses Geschmuse nicht mit.»wo sind denn deine Freunde?«, fragte Oma. Lia erklärte, was geschehen war.»dann geht es ihr bald besser«, sagte Oma Gerda.»Das hält nicht lange an.«lia löste sich aus ihren Armen und suchte die Ankunftshalle nach Helge und Maybritt ab. Sie kamen fast als Letzte vom Schiff, und Maybritt war noch immer kalkweiß im
Gesicht. Aber ihre Augen lächelten schon wieder.»bist kein Kind der See, was?«, lachte Oma.»Das macht aber gar nichts. Die frische Inselluft wird dir guttun. Das versprech ich dir. Hier ist erst einmal ein bisschen Schokolade, das mögt ihr ja alle, und zu Hause wartet ein süßer Kakao. Den habe ich schon warm gemacht, bevor ich losgefahren bin.«dann schwimmt darauf Haut, dachte Lia und schüttelte sich. Sie hasste es, wenn sich diese dünne Schicht auf Milch oder Kakao bildete. Selbst wenn man sie verrührte, schwammen Reste davon im Getränk. Als sie Helge ansah, war ihr sofort klar, dass er ähnlich dachte. Oma Gerda merkte es nicht. Neben dem dauernden Verschenken von