Forum. Thesen zum Antisemitismus im Kaiserreich. Günter Brakelmann

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Transkript:

Forum 27 Forum Günter Brakelmann Thesen zum Antisemitismus im Kaiserreich Die folgenden Thesen waren Arbeitsthesen für eine größere Vorlesung über die Geschichte der Judenfeindschaft und des politischen Antisemitismus im 9. Jahrhundert. Selbstverständlich konnten nicht alle Probleme dieser Epoche angesprochen werden. Das Ziel war, einen ersten differenzierten Einstieg in eine komplizierte Materie zu geben, um von den üblichen Klischees wegzukommen. Beabsichtigt war vor allem, die Studierenden mit zeitgenössischen Quellen bekannt zu machen. Für jede Vorlesungseinheit wurden hierzu Schlüsseltexte der breit gefächerten antisemitischen Szene vorgelegt und interpretiert. Aus diesen Vorlesungen, die von Übungen begleitet waren, ist das Arbeits- und Lesebuch "Emanzipation und Antisemitismus" Bd. : 869-877 entstanden (hg. von Günter Brakelmann und Manuela vom Brocke, Waltrop 2002). Es enthält auf38 Seiten einen einführenden Überblick über die Entstehung des politischen Antisemitismus in den siebziger Jahren des 9. Jahrhunderts, dazu Texte von Gegnern der Judenemanzipation aus den verschiedenen konfessionellen, weltanschaulichen und ökonomisch-politischen Lagern. Für jedes Jahr gibt es einen Überblick über die antisemitische Literatur im Kontext der politischen Geschichte. Ein ausführliches Literaturverzeichnis steht am Ende des Bandes.. Mitentscheidend für das Aufkommen eines neuen Typs von Antisemitismus über die traditionelle Judenkritik und Judenfeindschaft hinaus ist die innenpolitische GesamtentwicIdung des Kaiserreiches in den siebziger Jahren. Im Jahre 878 (zweite Reichsgründung) vollzieht der Reichskanzler einen Kurswechsel, der alle Wirldichkeitsbereiche betrifft: Er richtet sich gegen den bisher in allen Bereichen dominierenden Liberalismus. Die Innenpolitik, die Wirtschafts- und Kulturpolitik entwickeln sich immer mehr aus d"em Kriterienfeld eines nationalliberalen Denkens heraus und geraten unter die Direktionskräfte eines mehr nationalkonservativen Denkens in Theorie und Praxis. Vor allem in der Wirtschaftspolitik vollzieht sich eine Hinwendung vom Marktradikalen Denken der Manchesterschule zum staatssozialistischen Denken des sog. Kathedersozialismus, der die Notwendigkeit eines rahmengesetzlichen Eingreifens des Staates in die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes lehrt. Es entwickelt sich mit Hilfe staatlicher Gesetzgebung ein neuer Stil, der Wirtschafts- und Sozialpolitik in ein neues Zuordnungsverhältnis bringt. Mitteilungsblarr des Instituts fur soziale Bewegungen I Heft 3 (2004) S. 27-223

28 Giinter Brakelmanl 2. Der Liberalismus in Weltanschauung, Politik und Wirtschaft gerät in eine tiefe Krise. Er hat aufbrennende Zeitfragen keine die Mehrheit der Staatsbürger überzeugenden Antworten. Weder seine Wirtschaftstheorie noch seine Gesetzgebungspraxis leisten Beiträge zur Lösung der sog. Sozialen Frage. Auf den Universitäten gewinnen die Vertreter der sog. Kathedersozialistischen Schule die Oberhand wie unter den höheren Staatsbeamten die Anhänger einer staatsinterventionistischen Praxis zunehmen. Auch viele Repräsentanten der christlichen Konfessionen verstärken die Abwanderung aus dem liberalen Großlager der Vergangenheit. 3. Der aufkommende Antisemitismus wendet sich gegen die Nationalliberale Partei und gegen die Fortschrittspartei. Beidewaren Inauguratoren und Stützen der vollen Emanzipation der jüdischen Staatsbürger. Im politische Kampf gegen die Nationalliberalen und gegen die linksliberale Fortschrittspartei ließ Bismarck den Antisemitismus, ohne selbst offener oder geheimer Antisemit zu sein, als massenwirksames Instrument gelten. Viele Zeitgenossen geben ihre moralische und intellektuelle Scheu, im liberalen Zeitalter der Gleichberechtigung aller Menschen als Judenfeinde zu gelten, unter den Bedingungen einer geistig-politischen Krise auf. Wissenschaftler, Beamte, Theologen, Publizisten bekennen sich offen zur antisemitischen Bewegung. Zeitungen und Zeitschriften lassen antisemitische Leitartikel und Aufsätze zu. Auch einige Adelige und insbesondere Fürsten unterstützen die Agitation der Antisemiten finanziell. 4. Das Ziel der konzertierten Aktion der politisch konservativen Kräfte ist die Zerschlagung der liberalen Parteien, denen man Versagen in der Lösung der sozialen Frage vorwirft und die man rur das Aufkommen der Sozialdemokratie verantwortlich macht. Der Kampf der Konservativen geht gegen die Liberalen und gegen ihr linkes demokratisches Pendant, die Sozialdemokratie. Sowohl bei den Liberalen wie bei den Sozialdemokraten sieht man in ruhrenden Positionen jüdische Denker und Kräfte am Werk. In der populären Polemik werden sie als "jüdische Parteien" klassifiziert. Der Antisemitismus hat die Funktion, den Liberalismus wie den proletarischen Sozialismus einzudämmen, vor allem auch den Weg sozialer Absteiger in die SPD zu verhindern. Antisemitismus wird eine Immunisierungsstrategie gegen den Sozialismus. Gleichzeitig wird er im Kampf gegen den menschenrechtlichen Universalismus des Liberalismus und den internationalen Ansatz im Sozialismus ein Vehikel der Nationalisierung der Massen. Der Antisemitismus verschränkt sich mit exklusiven, immer aggressiver werdenden Nationalismen. 5. Demagogen kleineren und größeren Formats rummeln sich auf dem weiten Feld der facettenreichen Szene des öffentlichen Antisemitismus. Allerdings sind sie von Anfang an stärker in der Polemik als im Angebot von politischen und sozialen Reformstrategien. Sie argumentieren antiaufldärerisch, antiliberal, antidemokratisch und antisozialistisch. Die neuzeitlichen Emanzipationstheorien sind für sie von Juden proldamierte Denkgebäude, die die Funktion haben, die allseitige Herrschaft der Juden in der modernen Welt aufzurichten. 6. Seit 878 gehen Agitationswellen über das Land. Broschüren und Flugblätter werden umsonst oder billig verteilt. Provinz- und Regionalblätter öffnen sich der Schreibkunst von Lehrern, Beamten, Pfarrern und anderen unteren und mittleren Eliten der örtlichen

Thesen zum Antisemitismus im Kaiserreich 29 Prominenz. Im Hintergrund stehen häufig Angehörige des grundbesitzenden Adels oder des besitzenden städtischen Bürgertums, die antisemitische Kampfgruppen organisatorisch und finanziell unterstützen (wie z. B. Wilhelm Marr durch Prinz Carl zu Hohenlohe-Ingelfingen und durch Fürst Pleß). 7. Das Auftreten des Hofpredigers Adolf Stoecker 878 bringt eine andere Textur in den Antisemitismus, wie er von Marr und Glagau vertreten wurde. Er mobilisiert mit Hilfe von Großveransraltungen vor allem den gewerblichen Mittelstand, der unter der Konkurrenz der aufkommenden Großbetriebe und Großkaufhäuser steht. Aber auch die akademische Jugend, die für sich selbst den Anteil der Juden unter den Studierenden für zu hoch hält, ist offen für die These von der Not\vendigkeit der Einschränkung der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für junge Juden. Stoecker formuliert auch die weithin geltenden Parolen für die Verschränkung von Nationalkonservatismus und Antisemitismus. Er wurde aber nicht der ideologische und organisatorische Mittelpunkt des deutschen Antisemitismus, dessen Klammer eine allgemeine Judenfeindschaft war, der aber ansonsten in weltanschaulichen Grundlagenfragen, in ökonomischen und sozialen Handlungszielen wie in kulturpolitischen Intentionen uneinig war. 8. Wilhelm Marr, persönlich ein konsequenter Atheist, gründet 879 die Antisemitenliga, die eindeutig antichristliche Tendenzen vertritt. Der Antisemitismus wird in dem Maße antichrisdich und antikirchlich, wie er rassenbiologisch argumentiert. Dieser Rassenantisemitismus wird für viele Antisemiten die weltanschauliche Grundlage. Ein Publizist wie Eugen Dühring hält sowohl das Judentum wie das von ihm geschichtlich abhängige Christentum für zu überwindende Religionsformen. Der Antisemit Stoecker und der Antisemit Dühring sind weltanschaulich Antipoden innerhalb der Großfamilie des Antisemitismus. Der Rassenantisemitismus ist atheistisch-materialistisch begründet. Seine Anthropologie und Etllik verhalten sich bewusst antithetisch zur christlichen Tradition. 9. Ausdruck eines allgemeinen Antisemitismus, der antijüdische Gefühle formuliert, ist die von Bernhard Foerster und Max Liebermann von Sonnenberg formulierte "Antisemitenpetition", die auf die Aufhebung der Emanzipation seit 869 zielt. Dieser plebiszitäre Antisemitismus ist der umfassendste Angriff auf die Rechtsent\vicklung in der Moderne. Rechtliche Einschränkungen und gesellschaftliche Beschränkungen von Juden sind das Ziel dieses politischen Antisemitismus. Die Tatsache, dass die Antisemitenpetition besonders an den Universitäten Zustimmung fanden und sich Vereine Deutscher Studenten als intellektuelle Gruppen eines militanten Antisemitismus im Raum von Wissenschaft und Bildung gründeten, ist ein Indiz für einen geistigen Strukturwandel vom klassischen Humanismus zum neudeutschen Nationalismus. 0. Die Verschränkung von Hass auf Judentum und Christentum zugleich repräsentiert in der Frühzeit des Antisemitismus der Kaisetzeit Dr. Ernst Henrici.. "Die Juden sind unser Unglück" - diese Kurzformel wurde variationenreich entfaltet. Juden gelten als Wegbereiter des Umsturzes, als Sympathisanten des Anarchismus und des Nihilismus. Juden sind die offenen und geheimen Zerstörer einer einheitlichen natiollalen Volksgemeinschaft. Antisemitismus kann sich dann selbst interpretieren als patriotische Sorge um die Erhaltung und Sicherung der geistigen Güter des Volkes. Li-

220 Günter Brakelmann beraler Meinungspluralismus wurde als zersetzend und zerstörerisch interpretiert. Anstelle eines religiösen Dogmatismus, der die Glaubenseinheit uild damit die Kultureinheit sichern wollte, tritt nun nationalantisemitischer Dogmatismus. 2. Sehr schnell setzt eine Distanzierung vieler Protestanten und Katholiken von der antisemitischen Bewegung ein, als sie die militante Intoleranz erkennen. Der neue Nationalismus der Antisemiten sprengt zudem die überkommene Ordnungs- und Gedankenwelt, die die Koexistenz von verschiedenen Konfessionen und Philosophien akzeptiert hatte. Er entwickelt bei radikalantisemitischen Teilgruppen revolutionäre und egalitäre Tendenzen. Der mehr konservativ gestimmte stand gegen den mehr sozialrevolutionär gestimmten Antisemitismus. Das Ergebnis: Es hat nie eine einheitliche große antisemitische Bewegung oder Partei gegeben. Sie blieb die Summe ihrer diversen und divergierenden Teile. Aber sie schuf und stabilisierte eine fast überall anzutreffende antisemitische Grundstimmung in weiten Kreisen aller Bevölkerungsschichten. 3. Die Jahre 878-882 waren die erste Hochzeit des Antisemitismus. In den folgenden Jahren ist ein Rückgang im öffentlichen Bild zu beobachten. Allerdings führt er in kleinen Gesinnungszirkeln ein zähes Leben. Die Kerntruppe wartet auf eine neue günstigere Zeit zum Neuaufbruch. Von der Mitte der achtziger Jahre an kommt die Zeit des bis 933 wirksamsten antisemitischen Publizisten: die Zeit des Theodor Fritsch, der seinen Hammer-Verlag in Leipzig zum Zentrum des literarisch-agitatorischen Antisemitismus ausbaut, um einzelne Menschen im Lande als Gesinnungsgenossen zu gewinnen und vorhandene antisemitische Gesinnungs- und Aktionsgruppen zu stabilisieren. 4. Der Schwerpunkt der antisemitischen Agitation verlagert sich in den achtziger Jahren von den Großstädten auf das "flache Land", in Kleinstädte und Dörfer. Bestimmte Honoratioren spielen für eine geschickte und kontinuierliche Agitation in den örtlichen Vereinen eine große Rolle. Das gemeinsame Ziel war, durch "Kleinarbeit" zur großen unauflaltsamen Volksbewegung zu werden. Wichtig werden auch viele junge Menschen, die viel Zeit und Kraft für die Sache opfern. Man konzentriert sich auf das je eigene Milieu: auf Bauern, Handwerker, Ingenieure, Angestellte, Lehrer u. a. 5. Eine besondere Form der antisemitischen Basisarbeit geschieht in antisemitischen Jugendgruppen, Turnvereinen und anderen Freizeitgruppen. Ebenso wirksam wird der Einfluss in Berufs- und Standesverbänden. Studenten aus dem Verein deutscher Studenten rücken in wichtige öffentliche Ämter ein (Lehrer, Richter, Pfarrer) und sehen ihre Aufgabe im antisemitischen Kampfvor Ort. Vor allem in der staatlichen Verwaltung benachteiligt man bewusst jüdische Bewerber und Amtsinhaber. Rudolf von Gneist spricht von der "Umkehrung der Verfassung durch die Verwaltung". Auf kaltem Wege arbeiten viele am faktischen Widerruf der Emanzipation. Die nachweisbaren jüdischen Opfer bürokratischer Willkür wachsen an Zahl mit der Durchdringung antisemitisch orientierter Bürokraten in Kommunen und in der Staatsverwaltung. Das Ergebnis ist die Abnahme von Juden im öffentlichen Dienst, bzw. die Abschottung des Eintritts in ihn. 6. Eine besondere Kaderschmiede des Antisemitismus sind Universitäten. Bei dem hohen Ansehen der Akademiker orientierten sich viele Leute aus dem nichtakademischen Bür-

Thesen zum Antisemitismus im Kaiserreich 22 gertum, dem Bauern- und Handwerkerstand an dem Antisemitismus von Amtsrichtern, Gymnasiallehrern, Rechtsanwälten, Ärzten, Apothekern und Pfarrern. Besonders zahlreich in der antisemitischen Ortsszene sind Lehrer, die führende Positionen in antisemitischen Parteien und Verbänden, Vereinen, Jugendclubs und Heimatvereinen innehatten. Auch in akademischen Berufsverbänden gehört der Antisemitismus zum guten Ton. Die protestantischen Pfarrvereine sind unter dem Einfluss von Stoecker durchweg antisemitisch. Auch der Katholizismus ist stark durchsetzt mit antisemitischen Gefühlen (besonders in Bayern, im Rheinland wie in Posen und Oberschlesien). Aber: Die politisch Führenden des Zentrums erkennen immer mehr, dass die Antisemiten Wegbereiter und Propagandisten biologisch-materialistischer Weltanschauungen sind und einen antilderikalen und antichristlichen Kurs steuern. Und sie erkennen, dass hier eine Minderheit unterdrückt wird. Ein Schicksal, das auch sehr schnell die Katholiken wieder treffen könnte. Im Blick auf die Konfessionen ergibt sich, dass trotz der Existenz eines spezifischen antitalmudischen und antisemitischen Katholizismus die wichtigste Trägerschicht des konservativen Antisemitismus aus dem protestantischen Milieu kommt. Davon zu unterscheiden ist die kleinere Gruppe der Rassenantisemiten, die sich selbst nicht mehr im Zusammenhang mit Christentum und Protestantismus gesehen haben. 7. Die zweite Welle des Antisemitismus nach 890 hat entscheidend mit den Ängsten des Bürgertums nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der Zunahme der sozialdemokratischen Wählerstimmen zu tun. Für die Sicherung der traditionellen inneren Machtverhältnisse entwickelt man zwei Strategien, die das öffentliche Bewusstsein bestimmen sollen: Eine aggressivere Außenpolitik und eine dynamische Kolonialpolitik. Antisemiten gehören zu den Hauptverfechtern einer deutschen Macht- und Kolonialpolitik. Sie arbeiten mit an einer neuen Volksbewegung /Ur die innere Militarisierung des Landes als Voraussetzung der Schaffung eines "Größeren Deutschland". Die nationalen Ziele werden mit sozialen Zielen verschränkt. Voraussetzung /Ur ein "Neu es Deutschland" ist die politische Entmachtung der Juden und Sozialisten. Der Antisemitismus wird die einzige umfassende Handlungstheorie /Ur ein "Größeres Deutschland". Er wurde die zentrale Ideologie gesellschaftlicher Interessens- und Agitationsverbände. 8. Vor allem mittelständische Interessen stellten den Antisemitismus in ihren Dienst. So wurde der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband die "Rekrutenschule für den politischen Antisemitismus". Der Bund der Landwirte setzt vor allem /Ur die kleineren Bauern auf den Antisemitismus als ideologische Klammer unterschiedlicher Interessen. Er stellt akademisch gebildete Sekretäre ein und unterstützt antisemitische Personen und Parteien. 9. Der Antisemitismus wurde immer salonfähiger durch die Produktion eines anspruchsvolleren Schrifttums. Der Deutschbund oder die Gobineatt-Gesellschaft sind zwar nicht mitgliederstark, aber ihre mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Veröffentlichungen versorgen ein größeres Publikum mit "geistigem Rüstzeug". F riedrich Lange und Ludwig Schemann sind Autoren, die den Antisemitismus in den neunziger Jahren in die deutsche Bildungsschicht transportieren, wie es vorher Paul de Lagarde und andere getan haben.

222 Günter Brakelmann 20. Das große politisch-pädagogische Ziel ist die "nationale Gesinnungseinheit". Das große Buchereignis für einen großen Teil des nationalen Bildungsbürgertums ist das Buch von Julius Langbehn "Der Rembrandtdeutsche" (890). Es ist ein Manifest gegen die "Moderne". Das Buch von Houston Stewart Chamberlain "Die Grundlagen des 9. Jahrhunderts" wird ein intellektueller Bestseller. 2. Aber auch Rückgriffe auf vormoderne Traditionen zeigen die Orientierungskrise an. Die Rückbesinnung auf germanisch-heidnische Mythen haben den Sinn, die europäisch-christliche Entwicklung als Irrtum zu entlarven. 22. Der Antisemitismus, der sich aus vielen verschiedenen Traditionen und aus unterschiedlichen ideologischen Neubildungen speist, wirkt als ubiquitärer Zeitgeist in allen Schichten des Volkes. Rassenideologische, sozialdarwinistische Überzeugungen und konservativ-christliche Judenfeindschaft verschränken sich zum politisch wirksamen Antisemitismus. 23. Empört sind die Antisemiten über die im Ganzen legalistische Gangart der Regierungen. Ihrerseits schüren sie die Angst vor der "roten Gefahr", ihren geistigen Vorbereitern und politischen Trabanten. Sie formulieren mit den Elementen eines populären Antisemitismus die Notwendigkeit einer nationalen Bewegung gegen die Zerstörer der Kultur. Die Regierungen geraten immer mehr unter den Dauerdruck eines öffentlichen Antisemitismus, der wenig Hemmungen in seiner Agitation und in der politischen Praxis gegen einzelne Juden und "Juden freunde" zeigt. Man ist gegen die Parteienlandschaft und gegen die parlamentarischen Machtverhältnisse. Man versteht sich als nationale und außerparlamentarische Massenbewegung mit dem Ziel, den Parlamentarismus abzuschaffen. Die Polemik gegen die "tatenlosen" und "unfähigen" Politiker gehört zum agitatorischen Grundstock. Gegen den sog. ideologischen Fanatismus der Sozialdemokratie setzt man den eigenen nationalistischen Fanatismus. Einige Antisemiten werden radikal-revolutionär (Hermann Ahlwardt) und brüskieren das Besitzbürgertum. 24. Die etablierten Parteien versuchen, die antisemitischen Stimmungen für sich zu kanalisieren. Das sog. Tivoli-Programm der Konservativen ist Anpassung an zeitgeistige Strömungen. Allerdings gehen einige Konservative in deutliche Distanz zum antisemitischen Radikalismus, der ihnen zu staats- und gesellschaftskritisch ist. Sie kollaborieren mit dem mehr konservativ gestimmten Antisemitismus um Liebermann. Auch Stoeckers Antisemitismus nimmt mit den Jahren an Bedeutung ab. 896 trennt sich Stoecker von den Konservativen und führt seine Christlich-soziale Partei selbständig weiter. Die Konservative Partei lebt in erster Linie von der Unterstützung durch den Bund der Landwirte, der konsequent antisemitisch ist. 25. Relativantisemitismusfrei bleibt die Nationalliberale Partei, die trotz ihres Wählerschwundes ihren emanzipatorischen Grundsätzen treu bleibt. Das Zentrum unter Ludwig Windthorst ist prinzipiell gegen eine politische Instrumentalisierung des Antisemitismus, ist aber örtlich und regional stark judenfeindlich. Eindeutig gegen den Antisemitismus sind die Linksliberalen, die aber keinen dauernden Einfluss auf die bürgerlichen Mittelschichten und auf Agrarkreise gewinnen können. Die Sozialdemokraten schauen mit Verachtung auf die Antisemiten aller Richtungen. Von ihrer Theorie her verkennen

Thesen zum Antisemitismus im Kaisen'eich 223 sie aber die politische Mobilisierungskraft des Antisemitismus und unterschätzen ihn in seiner realen und potentiellen Wirkungskraft in einer politisch-gesellschaftlichen Krisensituation. Taktisch behandeln sie die radikalen Antisemiten als Wegbereiter für die eigene Position. Im Ganzen aber war die organisierte Arbeiterschaft das wichtigste Bollwerk gegen den Antisemitismus. 26. Antisemiten haben ihren hauptsächlichen Rückhalt in protestantischen Gebieten (Hessen, Sachsen, Franken, Norddeurschland, Ostprovinzen). Die soziologischen Trägerschichten sind: Bauern und ländliche Bevölkerung, Mittelstand, Angestellte, untere Beamte, Akademiker, technische Intelligenz. Mentalitätsmäßig ist er stark verwoben mit Nationalismus und Imperialismus. 27. Das Aufkommen des politischen Antisemitismus in den siebziger und achtziger Jahren provozierte von Anfang an den politischen und intellektuell-moralischen Kampf gegen ihn. Gegen Stoecker und Treitschke wie gegen Marr und Glagau gibt es eine Flut von Leitartikeln, Aufsätzen und Broschüren. Auch in der Kirche und Theologie war der Antisemit Stoecker immer eine höchst umstrittene Person. T reitschke stieß in der akademischen Kollegenschaft auf vielfältige Kritik. Die Erklärung der 75 Berliner Bürger von 880 gegen die Antisemitenpetition zeigt, dass deutsche Staatsbürger christlichen und jüdischen Glaubens sich gemeinsam gegen die antiliberalen Forderungen der Antisemiten gewandt haben. Das zeigt auch die Arbeit des 89 gegründeten Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, der überkonfessionell zusammengesetzt war. 28. Den Hauptanteil des "Abwehrkampfes" trägt aber der 893 gegründete Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der eine systematische literarische Aufklärungsarbeit über den Antisemitismus betreibt, öffentliche Vorträge organisiert und in KonfliktflilIen Rechtsbeistand leistet. Es bildet sich ein Kranz von jüdischen Organisationen, die politisch-gesellschaftliche und wissenschaftlich-religiöse Arbeit betreiben. Alle haben ihren An teil an der Tatsache, dass im Kaiserreich alle Angriffe auf die rechtliche Aufhebung der Judenemanzipation von 869 abgeschlagen werden konnten. Die meisten Juden begriffen sich selbst als Bestandteil der deutschen Kultur und mitverantwortlich für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft auf dem Fundament von Recht und Toleranz. Ohne den Beitrag von Juden für Wissenschaft und Kultur lässt sich eine deutsche Wissenschafts- und Kulturgeschichte nicht schreiben. 29. Die gesellschaftlich-beruflichen Benachteiligungen jüdischer Bürger sind bis zum Ersten Weltkrieg nicht entscheidend übetwunden worden. Der Zugang zu Führungspositionen in staatlichen Bereichen blieb ihnen weithin verschlossen. Der Preis für eine gesellschaftliche Gleichheit wäre eine Konversion zum Christentum gewesen. Aber auch die hob nicht immer die traditionellen Vorurteile wie die neueren antisemitischen Versatzstücke auf. Das alles hat aber nicht die Bereitschaft der Staatsbürger jüdischen Glaubens aufgehoben, sich beim Ausbruch des Weltkrieges vorbehaltlos und opferbereit in die "deutsche Schicksalsgemeinschaft" einzureihen und ihren Blutzoll für das "geliebte Vaterland" zu bringen. Umso mehr hat es sie erstaunt, dass gerade im Krieg eine neue antisemitische Welle ausbrach.