Prof. Dr. Christoph Dinkel Pfarrer. Predigt über 1. Mose 1,1-25, Gott in der Schöpfung 10. April 2016, Misericordias Domini Christuskirche Stuttgart

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Transkript:

Prof. Dr. Christoph Dinkel Pfarrer Predigt über 1. Mose 1,1-25, Gott in der Schöpfung 10. April 2016, Misericordias Domini Christuskirche Stuttgart Den Predigttext für den heutigen Sonntag entnehme ich der württembergischen Predigtreihe. Es handelt sich um die ersten Sätze der Bibel überhaupt, den Schöpfungsbericht aus 1. Mose 1 in Auswahl: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. [ ] Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass man das Trockene sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag. Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es geschah so. [ ] Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag. Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter der Feste des Himmels. Und Gott schuf große Walfische und alles Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser wimmelt, ein jedes nach seiner Art, und alle gefiederten Vögel, einen jeden nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer, und die Vögel sollen sich mehren auf Erden. Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag. Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so. Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Liebe Gemeinde! 1. Schöpfung ohne Mensch Lassen wir heute einmal uns Menschen aus der Schöpfung draußen. Evolutionsgeschichtlich betrachtet ist der Mensch ohnedies ganz spät angesiedelt. Verteilt man die Erdgeschichte auf

einen Tag, taucht der Mensch erst 5 Minuten vor Mitternacht, so lernt man das in der Schule. Unser Schöpfungsbericht hat das intuitiv ganz richtig angeordnet. Erst spät am sechsten Schöpfungstag wird der Mensch geschaffen. Betrachten wir also einmal die Schöpfung, ohne alles gleich auf uns Menschen zu beziehen. Natürlich ist das ein Trick. Wir sehen die Schöpfung immer aus unserer menschlichen Perspektive, es geht gar nicht anders. Aber zur Verfremdung des Vertrauten wollen wir es dennoch versuchen. Die Schöpfungserzählung wendet gleich noch einen zweiten Trick an: Sie erzählt die Schöpfung aus der Sicht von oben, also von außerhalb der Schöpfung, obwohl auch das nicht geht. Und noch ein dritter Trick ist im Spiel: Die Erzählung führt eine Beobachterposition ein, die zugleich Gott und die Schöpfung in ihrem Geschaffenwerden beobachtet. Erkenntnistheoretisch geht das alles gar nicht, weil niemand außerhalb der Schöpfung die Schöpfung beobachten kann. Wenn es jemand kann, dann kann das Gott. Aber gerade der wird nun auch noch beobachtet. Erkenntnistheoretisch ist das höchst raffiniert, aber erzählerisch wirkt es ganz einfach und es funktioniert. Mit entspannter Mühelosigkeit beobachtet der Schöpfungsbericht Gott bei der Arbeit und die Schöpfung beim Entstehen. Und alles wird so erzählt, dass es auf den Menschen und seine Perspektive erst einmal gar nicht ankommt. 2. Die gute Ordnung Gottes Als Kind und Jugendlicher habe ich mit großer Hingabe im Fernsehen die Tierdokumentationen von Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek über Afrika oder von Jacques Cousteau und Hans Hass über die Meere angeschaut. Besonders eingebrannt hat sich mir auch von Horst Stern die Dokumentation über Spinnen Leben am seidenen Faden. Ich habe mich gefürchtet und war fasziniert zugleich. Für mich sind all diese Tierfilmer so etwas wie Schöpfungserzähler: Sie zeigen wie die Natur funktioniert, wie eines mit dem anderen zusammenhängt, wie die Evolution über Jahrmilliarden ein lebendiges, überaus komplexes Beziehungssystem aufgebaut hat zwischen belebter und unbelebter Natur, zwischen verschiedenen Lebewesen und in den Lebewesen mit Organen und Strukturen so vielfältig, dass man noch Jahrhunderte dazu wird forschen können. Wer die Geheimnisse des Tierreichs zu entdecken beginnt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie gut Organismen an ihre ökologische Umwelt angepasst sind, das führt von einer Verblüffung zur nächsten. Dem Erzähler des Schöpfungsberichts geht es wie den Tierfilmern. Wenn er ins Wasser schaut und all das Gewimmel dort erblickt, vom kleinen Fischlein bis zum großen Wal, wenn er auf der Erde all die Tiere betrachtet und dann am Himmel die Vögel fliegen sieht. Der Erzähler bemerkt wie am Anfang die Pflanzen entstehen und wie ihre Früchte und Samen den anderen Lebewesen zur Nahrung dienen. Und er erkennt wie alles Lebendige von den großen Strukturen des Lebens abhängt: von Tag und Nacht, von Wasser und Land, von Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit. Der Erzähler versucht bei seiner Betrachtung nüchtern zu bleiben, aber man merkt, wie er unablässig staunt über die faszinierende Ordnung der Welt. Das Gegenteil dieser Ordnung ist für ihn das Chaos, die Urflut, der Chaosdrachen, das Tohuwabohu wie das auf Hebräisch heißt. Die Überwindung dieses Chaos und die Schaffung von Ordnung und Struktur ist für ihn die 2

große schöpferische Tat Gottes. Spätere Autoren, in griechischer Tradition stehend, sehen Gottes Schöpfertat als Erschaffung von Etwas aus dem Nichts an. Diese Frage bewegt unseren Erzähler nicht, das Nichts ist für ihn kein Problem. Dafür weiß er sich zu selbstverständlich in der Welt. Für den Erzähler der Schöpfung ist der Zauber der Welt unmittelbar erkennbar und die Macht, die all dem Struktur, Ordnung, Gedeihen und Lebendigkeit verleiht, ist für ihn Gott, der Schöpfer. Aus Gottes Perspektive ist alles Geschaffene gut. Es ist ein unendlich reicher Kosmos des Lebendigen. Schon bei der schieren Aufzählung der Herrlichkeiten der Schöpfung müsste man eigentlich fromm werden. 3. Der Schöpfer als guter Hirte Lassen wir weiter den Menschen aus dem Spiel und betrachten nur die Welt der Natur, dann ist es naheliegend, sich den Schöpfergott wie einen guten Hirten vorzustellen. Der gute Hirte führt seine Herde zum frischen Wasser und zur grünen Aue. Er sorgt dafür, dass die Pflanzen Wasser und Licht und die Tiere Nahrung und genügend Wärme bekommen. Die große Sorgfalt mit der alles Lebendige miteinander verbunden ist, lässt einen tatsächlich an eine gütige, ordnende Hand denken, ganz unbeschadet dessen, dass wir wissen, dass hinter all dem ein evolutionärer Prozess steckt. Nun müssen wir aber doch noch genauer hinschauen. Aus der Perspektive von oben und außen mag die Schöpfung als wunderbarer Kosmos erscheinen. Für die einzelnen Lebewesen sieht das aber durchaus anders aus. Da leben die Tiere von den Pflanzen, da isst das eine Tier das andere auf, da kommen Katastrophen vor wie Erdbeben, Tsunamis, Dürren, Feuer, Wirbelstürme und Überflutungen. Tod und Sterben gehören genauso zur natürlichen Ordnung der Schöpfung wie das Geborenwerden und das Sattwerden. Die Schöpfung kann zu einzelnen Lebewesen sehr sehr grausam sein. Und man denke daran, dass auch Stechmücken, tödliche Bakterien und Skorpione zur Schöpfung gehören. Damit ein paar Schildkröten überleben, schlüpfen hunderte aus den Eiern, von denen die meisten gefressen werden. Schließlich gehören zur Schöpfung auch Krankheiten, Seuchen und das Auslöschen ganzer Populationen. Von den riesigen Landdinosauriern blieben uns nur noch die Knochen. So schön die Schöpfung ist, sie hat ihre finsteren und brutalen Seiten. Spätere Autoren der Bibel haben daher den Tod als einen Makel der Schöpfung angesehen. Sie haben gehofft, dass der natürliche Tod ein Ende findet und die Kreatur von allem Leiden befreit wird. Diesen Wunsch kann man gut verstehen. Aber bedenken wir, was verloren ginge, wenn der Wunsch Wirklichkeit würde: Das Werden und Vergehen des Lebens käme an ein Ende. Die Welt würde zu einer immer weiterlaufenden Maschine. Alle Überraschung, alle Lebendigkeit, alles Staunen wäre vorbei. Ob man sich eine Welt ohne Tod wirklich wünschen sollte? Vielleicht müssen wir damit leben, dass im Schöpfungsplan des guten Hirten selbst der Tod eine bleibende Rolle spielt. Und selbst das Aussterben der Gattung Mensch wäre dabei kein Argument gegen den Schöpfer als guten Hirten. Obwohl: Schade wäre das Aussterben der Menschen schon. Der Schöpfung gingen gerade die verloren, die sie zu beobachten und zu beschreiben wissen. 3

4. Der gute Hirte und die Menschen Nun sind wir doch zum Menschen gekommen, aber dafür wurde es ja auch Zeit. Mit der Perspektive des Schöpfergottes ist es nicht getan. Nach unserem christlichen Bekenntnis erkennen wir Gott nicht nur im Schöpfer, sondern auch in Jesus Christus und im Heiligen Geist. Den Geist lassen wir heute weg, der hat an Pfingsten seinen Auftritt. Beim guten Hirten kommt dafür Jesus ins Spiel. Jesus hat eine Geschichte erzählt von einem Schaf, das verloren ging, das sein Hirte lange und gründlich suchte und schließlich voll Freude wiederfand (Lukas 15,4-6). Keiner soll verloren gehen, das wollte Jesus den Menschen mit dieser Geschichte sagen. Wenn schon die Natur manchmal hart zu uns ist, dann sollen wir Menschen wenigstens füreinander zu guten Hirten werden und einander helfen. Im Unterschied zu Tieren sind wir Menschen relativ frei in unserem Verhalten. Wir können Pläne schmieden und verwerfen, wir können eine Zukunft entwickeln und uns darüber verständigen, wie wir leben wollen. Wir Menschen müssen zwar im Rahmen der Naturgesetze und der natürlichen Ordnung leben. Aber die soziale Ordnung, die Gesetze des menschlichen Umgangs, für die sind wir selbst verantwortlich. Und da macht es einen großen Unterschied, ob der Mensch des Menschen Wolf oder des Menschen Hüter ist. Als in der Urgeschichte der Menschheit Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte und Gott Kain fragte: Wo ist dein Bruder? Da antwortete Kain: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? (1. Mose 4,9). Die Geschichte von Kain und Abel macht klar, was Gott will: Die Menschen sollen einander nicht erschlagen, nicht bedrohen, nicht bestehlen und beleidigen. Die Menschen sollen vielmehr für ihre Mitmenschen Hüter sein, gute Hirten, die dem anderen helfen, wenn er in Not ist, und die dafür sorgen, dass niemand verloren geht. Ist Gott der Hüter der Schöpfung als Ganzes, so sind wir Menschen als seine Werkzeuge die Hüter all derer, die verloren zu gehen drohen. Im Plan Gottes sind wir die Hirten des Lebendigen, die füreinander sorgen. Als gute Hirten kümmern wir uns deshalb um Menschen, die krank sind oder sterben, um Menschen auf der Flucht oder mit Hunger, um Menschen, die Angst haben oder von anderen unterdrückt werden. Gott will, dass wir einander wie gute Hirten behüten. 5. Der Blick von außen Machen wir noch einmal den Trick vom Anfang: Treten wir zurück und betrachten Gott wie er das Chaos bändigt und der Schöpfung eine gute Ordnung gibt aus Tag und Nacht, Wasser und Land, Pflanzen und Tieren und Menschen. Von außen betrachtet ist das trotz mancher Grausamkeiten etwas Wunderschönes. Die Fülle des Lebens ist herrlich und wir verstehen Gott, wenn er sagt: Es ist alles gut. Und auch wenn wir näher hinschauen auf die Welt, dann sehen wir zwar vieles, was wir nicht mögen, wir sehen Gewalt und Hass. Aber wir sehen auch, wie das Leben gelingt, wie Kranken geholfen wird, wie der Hunger auf der Welt zurückgedrängt wird, wie heute viel mehr Menschen lesen und schreiben können als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Wir sehen gegen wie viele Krankheiten heute Hilfe besteht, wie viel älter die Menschen im Durchschnitt werden als früher und dass die Sensibilität im Umgang mit unserer Umwelt 4

stark zugenommen hat. Das sollten wir über alles Klagen über das Leid in der Welt nicht vergessen: Viele Menschen wollen füreinander Hüter und gute Hirten sein. Und was sie Gutes tun, macht die Welt besser. Der Blick von außen, der Blick von oben er ist ein Trick des Erzählers der Schöpfungsgeschichte, mit dem er unsere Wahrnehmung in eine große Weite führt. Wie die Tierfilmer im Fernsehen nehmen wir eine Perspektive über den Abläufen der Natur ein. Und dabei sortiert sich so einiges. Manch Schlimmes rückt in einen anderen Zusammenhang. Vor allem aber erkennen wir wie unglaublich wohlgeordnet die Schöpfung ist, wie all die Vielfalt, die uns umgibt, ein wunderbares Miteinander ist. Diese Perspektive von außen, von oben führt unseren Blick und unser Herz ins Weite, über den Alltag und seine Sorgen hinaus. Und von dort, von oben, mit den Augen Gottes können wir den Schöpfer als guten Hirten loben und sagen: Es ist alles gut. Amen. 5