Kinderleukämie und Kern kraftwerke (K)Ein Grund zur Sorge? Grundlagen und Informationen Dritte, erweiterte Auflage 2012
Informationen zu einem emotionalen Thema In den Medien tauchen immer wieder beängstigende Berichte zum Thema Kinderleukämie und Kernkraftwerke auf. Darin heisst es, Kernkraftwerke (KKW) seien für die Entstehung von Kinderleukämie verantwortlich. Auslöser sei die radioaktive Strahlung, die von Kernkraftwerken ausgeht. Was ist von solchen Berichten zu halten? Wie gross ist die Strahlung aus einem Kernkraftwerk überhaupt? Kann sie wirklich eine Krankheit auslösen? Und was weiss man heute über die Entstehung der Kinderleukämie? Der vorliegende Faltprospekt nimmt diese Fragen auf. Es geht um Radioaktivität (eigentlich: ionisierende Strahlung) und ihre Wirkung, um Kinderleukämie als Krankheit sowie um die Erforschung allfälliger Zusammenhänge zwischen beidem. Die folgenden Seiten vermitteln die wichtigsten Grundlagen. Jede Leserin und jeder Leser soll sich eine eigene Meinung zu diesem Thema bilden können. Das «Forum Medizin und Energie» (FME) setzt sich dafür ein, dass die Erforschung der Kinderleukämie auf allen Ebenen mit Hochdruck zielgerichtet fortgesetzt wird. Schliesslich geht es um die Gesund heit unserer Kinder. Wer mehr zum Thema wissen möchte, findet auf der Homepage des FME (www.fme.ch) eine ausführliche Informationsschrift, die auch als gedruckte Version bestellt werden kann (kontakt@fme.ch). 2
Radioaktivität gibt es immer und überall Der Mensch ist ständig von unterschiedlich starken Strahlenquellen umgeben: Weltall, Sonne, Gesteine, Gase, Nahrung, Röntgenapparate und Kernkraftwerke. Radioaktive Strahlung ist in der Natur weit verbreitet. Natürliche Strahlenquellen sind das Weltall, die Sonne, bestimmte Gesteine, Gase und Lebensmittel. Künstliche Strahlenquellen sind Röntgenapparate und Kernkraftwerke. Radioaktive Strahlung kann menschliche Zellen beschädigen. Der Körper kann solche Schäden in der Regel umgehend reparieren. Das Risiko einer Krebserkrankung steigt mit der aufgenommenen Strahlendosis. Strahlung wird mit der Masseinheit Sievert gemessen. In der Schweiz beträgt die durchschnittliche jährliche Strahlung aus der Natur rund 4,3 Millisievert pro Jahr. Die künstliche Strahlung liegt bei rund 1,2 Millisievert. 3
Sehr geringe Strahlung aus Kernkraftwerken Der Anteil der Kernkraftwerke beträgt in der Schweiz rund 0,1% oder ein Tausendstel der gesamten jährlichen Strahlung. In der Schweiz erreicht die Strahlung für einen Menschen gesamthaft durchschnittlich rund 5,5 Millisievert (msv) pro Jahr. Die beiden grössten Strahlenquellen sind das natürliche radioaktive Gas Radon (Beitrag von 3,2 msv bzw. Anteil von 58,2%) und Röntgen geräte (1,2 msv bzw. 21,8%). Dann folgen bestimmte Gesteine der Erde (0,35 msv bzw. 6,3%), das Weltall und die Sonne (0,4 msv bzw. 7,3%) sowie die radioaktiven Stoffe in Nahrungsmitteln bzw. im Körper (0,35 msv bzw. 6,3%). Der Anteil der Kernkraftwerke ist im Vergleich dazu verschwindend klein. Er beträgt zwischen 0,001 bis 0,005 msv oder rund 0,1% (1 Tausendstel) der gesamten Strahlung. 4
Radioaktivität wird konsequent überwacht In der Schweiz sorgt eine Vielzahl von Messstationen für den Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung. In der Schweiz schützt das Strahlenschutz-Gesetz mit seinen Richtlinien und Verordnungen die Bevölkerung vor krank machender Strahlung. Das Gesetz legt für Strahlenquellen (exkl. Medizin und natürliche Strahlung) strenge Grenzwerte fest. Der Grenzwert für die Bevölkerung beträgt 1 Millisievert pro Jahr. Für Personen, die beruflich mit künstlicher Strahlung in Kontakt kommen, gilt ein Grenzwert von 20 Millisievert pro Jahr. Die Behörden überprüfen die Einhaltung dieser Grenzwerte pausenlos. Luft und Boden werden mit verschiedenen Mess stationen streng überwacht. Im Umkreis der Kernkraftwerke stehen Sonden, die alle 10 Minuten einen Messwert an die Aufsichtsbehörden übermitteln. 5
Ionisierende Strahlung in der Umwelt Natürliche Strahlenquellen Strahlung 40.00 200.00 msv/jahr Örtliche Strahlung in Ramsar (Stadt in Iran) 10.00 msv/jahr Örtliche Strahlung in Guarapari (Küstenstadt in Brasilien) 7.00 msv/jahr Flugpersonal:maximal erreichte Jahresdosis 2009 4.30 msv/jahr Dosis natürlicher Strahlung in der Schweiz (ø pro Person) 3.20 msv/jahr Radon (ø in der Schweiz) 1.00 msv/jahr Höhenstrahlung: Kosmische Strahlung auf 2000 M.ü.M 0.35 msv/jahr Nahrung 0.06 msv/flug Interkontinental-Flug (retour) 6
in Millisievert (msv) 100 75 50 25 10 9.0 8.0 Künstliche Strahlenquellen 100.00 msv/jahr Grenzwert für Einsatzpersonal bei schwerem Störfall im KKW 10.00 msv/anwendung Computertomografie 8.80 msv/jahr Rauchen: 20 Zigaretten täglich 7.0 6.0 5.0 4.0 3.0 2.0 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0.1 4.00 msv/anwendung Röntgenuntersuchung Darmtrakt 1.00 msv/jahr Grenzwert für künstliche Strahlenquellen ohne Medizin 0.20 msv/anwendung Röntgenaufnahme Brustkorb 0.0 0.001 msv/jahr Kernkraftwerk 7
Kein höheres Kinderleukämierisiko um Schweizer KKW Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Krebsliga Schweiz (KLS) beauftragten 2008 das Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern mit der Durchführung einer grossen schweizweiten Langzeitstudie zum Thema Kinderkrebs um Kernkraftwerke. Diese sog. CANUPIS-Studie (Childhood Cancer and Nuclear Power Plants in Switzerland, www.canupis.ch) wurde von September 2008 bis Dezember 2010 durchgeführt. In dieser Studie verglich das Forschungsteam das Risiko für Leukämie und andere Krebsarten bei Kindern, die in der Nähe von KKWs geboren wurden, mit demjenigen von Kindern, die weiter entfernt geboren wurden. Alle seit 1985 in der Schweiz geborenen Kinder, das heisst über 1,3 Millionen Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren, wurden in die Studie aufgenommen. Die Schweiz wurde in vier Zonen aufgeteilt: Zone I bezeichnet das Gebiet innerhalb von 5 Kilometern des nächsten KKWs; Zone II das Gebiet zwischen 5 und 10 Kilometern; Zone III den Bereich zwischen 10 bis 15 Kilometern und Zone IV den Rest des Landes ausserhalb des 15-Kilometer-Perimeters. Das Krebsrisiko wurde für jede Zone berechnet. Die in den Zonen I bis III beobachteten Fälle wurden mit den aufgrund des Risikos in Zone IV (Referenzgruppe) erwarteten Fällen verglichen. Die CANUPIS-Studie fand keine Hinweise, dass kindliche Krebserkrankungen in der Nähe von Kernkraftwerken häufiger auftreten als anderswo. Gemäss der Studienleitung unterscheidet sich das Risiko einer kindlichen Krebserkrankung im Umkreis von Schweizer Kernanlagen kaum vom Risiko, welches auch weiter entfernt wohnende Kinder haben. Allfällige positive oder negative Abweichungen vom gesamtschweizerischen Risiko seien am ehesten zufallsbedingt. 8
Weltweit kein höheres Kinderleukämierisiko um KKW 97% Bei 97% aller weltweit untersuchten Kernenergieanlagen konnte kein höheres Kinderleukämierisiko festgestellt werden. Weltweit wurden in den letzten Jahren rund 200 Standorte von Kernanlagen auf ein mögliches Kinderleukämierisiko untersucht. Bei 189 Anlagen oder 97% der Fälle wurde kein höheres Risiko festgestellt. 3 Anlagen könnten eines haben, und bei weiteren 3 wurde ein höheres Risiko festgestellt. Für Deutschland wurde ein höheres Risiko beobachtet. Eine Erklärung dafür gibt es bisher nicht. Bemerkenswert ist, dass eine höhere Leukämiehäufigkeit teilweise auch für Standorte festgestellt wurde, für die ein KKW geplant, aber nie gebaut wurde. Insgesamt sprechen die Ergebnisse der weltweiten Untersuchungen eher gegen die These, in der Umgebung von Kernkraftwerken bestehe ein höheres Risiko, an Kinderleukämie zu erkranken. 9
Das Wichtigste in Kürze Aufgrund des heutigen Wissens kann die minimale Strahlung aus Kernkraftwerken als Ursache für ein höheres Leukämierisiko bei Kleinkindern praktisch ausgeschlossen werden. Radioaktivität gibt es immer und überall. Die Strahlendosis eines Kernkraftwerks beträgt rund 0,1% der gesamten natürlichen und künstlichen Strahlung pro Jahr. Strenge Gesetze sorgen dafür, dass die Radioaktivität rund um die Uhr konsequent überwacht wird. Die Ursache der Kinderleukämie ist nicht bekannt. Eine mögliche Erklärung lautet, dass ein erstes Ereignis vor der Geburt und ein zweites danach die Krankheit auslöst. Für das zweite Ereignis kommen Infekterreger in Frage. Eine grosse schweizweite Langzeitstudie (CANUPIS-Studie) fand keine Hinweise, dass kindliche Krebserkrankungen in der Nähe von Kernkraftwerken häufiger auftreten als anderswo. Weltweit kann kein höheres Risiko für Kinderleukämien in der Umgebung von Kernkraftwerken festgestellt werden. Für Deutschland wurde ein höheres Risiko beobachtet. Eine Erklärung dafür gibt es nicht. Die Forscher halten die Strahlung der deutschen Kernkraftwerke als Ursache für nicht plausibel. Weltweit gibt es immer wieder örtliche und zeitliche Häufungen von Kinderleukämie, unabhängig von Kernkraftwerken. Solche Häufungen konnten zum Teil auf Bevölkerungsbewegungen zurück geführt werden. Eine mögliche Erklärung für die Erhöhung könnten Infekterreger sein, die durch die Zuwanderung eingeführt werden. Die Anstrengungen zur Erforschung der Kinderleukämie müssen auf allen Ebenen intensiviert werden.
Infektion als mögliche Ursache von Kinderleukämie Gesunde Blutzelle Leukämie Vorstufe Leukämiezelle Leukämiezelle Geburt 1. Jahr 2. Jahr 3. Jahr 4. Jahr 1. Ereignis 2. Ereignis Infektion? Eine Hypothese lautet, dass eine Leukämie durch 2 Ereignisse ausgelöst wird. Das erste Ereignis findet vor, das zweite nach der Geburt statt. Die Ursache der Kinderleukämie ist bis heute nicht klar. Die internationale Forschung kennt jedoch gewisse Risiken, welche eine Leukämie begünstigen können. Angeborene Eigenschaften, das Abwehrsystem oder die äusseren Lebens umstände können eine Rolle spielen. Es gibt zudem Hinweise, dass für die Entstehung einer Kinderleukämie 2 Ereignisse eintreten müssen. Gemäss diesem Modell gibt es bereits vor der Geburt eine erste Veränderung der Blutzellen. Als zweites Ereignis kommt nach der Geburt eine Infektion hinzu. Demnach würden Infekterreger während der ersten Lebensjahre in den bereits vorgeschädigten Blutzellen eine Leukämie erkrankung auslösen. 11
Austausch von Kinderkrankheiten mögliche Erklärung Zur Frage, ob Kernkraftwerke die Gesundheit von Kindern gefährden, liegen weltweit über 50 Untersuchungen vor. Diese Studien lieferten wichtige Beiträge zur Erforschung der Kinder leukämie. Eine Erkenntnis lautet beispielsweise, dass es überall auf der Welt immer wieder Häufungen von Leukämiefällen gibt. Warum das so ist, weiss man allerdings noch nicht. Englische Forscher wollten wissen, welche Faktoren eine Kinderleukämie begünstigen könnten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Leukämien häufiger bei Kindern auftreten, die aus sozialen oder geografischen Gründen vergleichsweise eher isoliert aufwachsen und weniger oft in Kontakt mit andern Kindern kommen. Umgekehrt haben Kinder, die früh in eine Krippe kommen, ein geringeres Leukämierisiko als Kinder ohne diesen Austausch. Alle diese Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass Infekterreger bei der Entstehung von Kinderleukämie eine Rolle spielen könnten. 12
Bevölkerungsbewegungen erhöhen Leukämierisiko Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass bei Bevölkerungsbewegungen das Leukämierisiko für Kinder steigt. Weltweit sind Beispiele bekannt, wonach aufgrund von Bevölkerungsbewegungen mehr Leukämieerkrankungen aufgetreten sind. Gemäss einer chinesischen Studie hat die Leukämie bei Kindern nach der Zuwanderung von Millionen von Menschen nach Hongkong stark zugenommen. In den USA gibt es ein Ausbildungszentrum für Luftwaffepiloten, in dessen Umgebung plötzlich überdurchschnittlich viele Kinderleukämien auftraten. Es wird vermutet, dass der jährliche Zuzug von vielen tausend Soldaten in die eher abgelegene Gegend einen Einfluss auf das höhere Leukämierisiko hatte. Diese Beobachtungen stützen die Hypothese, dass Infekterreger bei Kinderleukämien eine Rolle spielen könnten. 13
Kinderleukämie hat sehr gute Heilungschancen Mit modernen Heilmethoden können an Leukämie erkrankte Kinder mehrheitlich geheilt werden. Weitere Forschungsanstrengungen sind aber nötig. In der Schweiz erkranken jährlich 50 bis 60 Kinder an Leukämie. Am stärksten betroffen sind Kinder zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. Bei der Kinderleukämie vermehren sich geschädigte weisse Blutkörperchen auf unkontrollierte Weise und greifen den Körper an. Das Abwehrsystem der Kinder wird dadurch stark geschwächt. Im schlimmsten Fall kann dies zum Tod führen. Dank modernen Behandlungsmethoden können heute rund 80% der Kinder mit einer akuten lymphatischen Leukämie geheilt werden. 14
Glossar Wichtige Fachbegriffe Akute lymphatische Leukämie: Leukämien sind Krebserkrankungen der Blutzellen, bei denen es zu einer ungebremsten Vermehrung der weissen Blutkörperchen kommt. Bei der akuten lymphatischen Leukämie sind die Lymphozyten betroffen. Im Gegensatz dazu gibt es die akute myeloische Leukämie, welche seltener auftritt. Dort vermehren sich die myeloischen Zellen. CANUPIS: Die Abkürzung steht für «Childhood Cancer and Nuclear Power Plants in Switzerland» und bezeichnet eine 2011 publizierte grosse schweizweite Langzeitstudie zum Krebsrisiko von Kleinkindern in der Umgebung von Schweizer Kernkraftwerken. Die Studie fand keine Hinweise, dass kindliche Krebserkrankungen in der Nähe von KKW häufiger auftreten als anderswo. Ionisierende Strahlung: Die ionisierende Strahlung ist weder sichtbar noch spürbar. Sie enthält so viel Energie, dass sie Moleküle, das sind Verbindungen von Atomen, aufbrechen kann. Millisievert: Die Masseinheit zum Messen einer Strahlenbelastung heisst Sievert. Ein Millisievert ist ein Tausendstel eines Sieverts. Radioaktivität: Auch radioaktiver Zerfall genannt. Darunter versteht man die Umwandlung von instabilen Atomen. Dabei wird Energie frei und als ionisierende Strahlung abgegeben. Radon: Dies ist ein natürliches Element, das beim radioaktiven Zerfall (siehe Radioaktivität) von Radium und Thorium entsteht. Das Radon ist gasförmig und dringt durch die Risse der Erdkruste. Das Gas kann sich in Parterre-Wohnräumen oder Kellern ausbreiten. 15
Impressum und Kontakt Herausgeber und Bestelladresse Forum Medizin und Energie Postfach 8040 Zürich +41 43 501 18 50 kontakt@fme.ch www.fme.ch Mitglieder der FME-Arbeitsgruppe Dr. med. Karl Ledermann Prof. Dr. med. Felix Niggli Dr. Serge Prêtre Dr. med. Jürg Schädelin Prof. Dr. Hansruedi Völkle Dr. Daniel Frey Über das «Forum Medizin und Energie» Das «Forum Medizin und Energie» (FME) ist ein überparteilicher und breit abgestützter Verein. Die Mitglieder des FME sind Ärztinnen und Ärzte aus Praxis und Forschung. Das FME wurde 1984 von Prof. Dr. Martin Allgöwer (1917 2007), einem bekannten Schweizer Arzt und Chirurg, gegründet. Das FME hat sich zum Ziel gesetzt, die Schnittstellen zwischen menschlicher Gesundheit und Energie zu erforschen. Zur Zeit umfasst das FME rund 200 Mitglieder aus der ganzen Schweiz. 3. Auflage, März 2012, Copyright 2012, Forum Medizin und Energie 16