Michael Wolffsohn. Festvortrag Jena: 20 Jahre CEJ



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Transkript:

Michael Wolffsohn Festvortrag Jena: 20 Jahre CEJ Adel verpflichtet heißt es. Auch Erbe verpflichtet. Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Goethe, Weimar, und Jena, welches bekanntlich um die Ecke von Weimar liegt. Das Erbe fällt einem in den Schoß, es ist Eigentum, doch noch lange kein Besitz, nicht Teil des eigenen Ichs. Genau dieses, das Erwerben des Ererbten, es zu besitzen, ist ein mühsamer Prozess. Der Genius Loci Jenas ist unbestreitbar: Namen wie Schiller und Goethe oder auch Ernst Abbe, Alfred Brehm, Johann Gottlieb Fichte, Novalis, die Brüder Schlegel, einschließlich Dorothea, Ricarda Huch, die Gebrüder Humboldt, Ludwig Tieck, Carl Zeiss alles klanghafte Namen, diese verpflichten. Doch die Namen könnten auch Schall und Rauch sein, wie Vokabeln. Dieses Erbe Jenas ist zugleich ein deutsches Erbe, auch ein europäisches. Ist es zugleich Besitz Jenas? Das CEJ ist diesbezüglich im Dauereinsatz. Das Erbe Jenas ist nicht nur das Erbe der deutschen Aufklärung und Klassik und Romantik. In diesem Mikro-Mikrokosmos wird der Geist einer ganzen Epoche des christlichen Abendlandes erkennbar. Der Bogen lässt sich vom Mikrokosmos zum Makrokosmos schlagen. Der Makrokosmos wird im Mikrokosmos sichtbar. Wer besitzt dieses Erbe heute in Jena, Deutschland und Europa? Das Erbe Jenas gehört zweifellos zum Ideal des deutschen Bildungsbürgertums, ergänzt um den gebildeten Adel, den Reformadel, das aristokratisierte Bürgertum. Normativ ist Jena sozusagen das Ideal jener Schichten, und fleißig werden Bücher der genannten Gelehrten zu Konfirmationen und ähnlichen Anlässen verschenkt. Oft werden die großen Namen Jenas zitiert. Werden sie genauso häufig gelesen wie zitiert? Zweifel sind erlaubt. Ist jenes Jenaideal wie die Bürgerlichkeit der bürgerlichen Welt heute noch gültig? Ulrich Zwiener, der Gründer des CEJ, lebte dieses Ideal und verband in beispielhafter Weise die Welt des Geistes, der Geisteswissenschaften, der Poesie und der Naturwissenschaft. Vertiefen wir nicht die Frage nach der Gültigkeit des Jenaer Ideals in Deutschland und Europa, auch in Jena. Dies wäre ein zu weites Feld. Fassen wir das Thema enger: Zeitnah und doch historisch, wiederum den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos verbindend. Im Zusammenhang mit dem Jenaer Erbe, Deutschland und

Europa möchte ich den Akzent auf das Stichwort Abendland setzen. Was gehört zum christlichen Abendland, zu dessen Erbe? Jena gibt dazu einige Antworten damals und heute: von den großen Geistern Goethe und Schiller lässt sich mühelos die Verbindung zur vor allem griechischen Antike schlagen. Wir sind bei der Synthese aus Weltbürgertum und Nationalkultur im Sinne Friedrich Meineckes, der bekanntlich von Weltbürgertum und Nationalstaat gesprochen hatte. Neben Goethe und Schiller wären, bezogen auf Weltbürgertum und Nationalkultur, die Gebrüder Humboldt zu nennen. Problematischer wird es schon bei Fichte, er war doch wohl eher deutsch, fast schon zu deutsch im politisch engen Sinne, wenngleich gelehrt gesichert und unterfüttert. Kennzeichnet das christliche Abendland das Christentum? Einst wohl ja, heute noch? Eher nein. Wir leben in Jena, Deutschland und Europa in einer weitgehend säkularisierten Welt, um nicht zu sagen, einer fast heidnischen. Doch von welchem Christentum ist die Rede, wenn vom christlichen Abendland gesprochen wird? In der Regel doch wohl seltener z.b. von der griechischen und russischen oder auch serbischen Orthodoxie. Der religiöse ebenso wie der gesamteuropäische Bezug entfallen also. Sicherlich gehört die Französische Revolution zum Erbe des christlichen Abendlandes. Doch war die Französische Revolution nicht zugleich antichristlich? Zumindest in der Periode des großen Terrors Robespierre und Saint-Just. Wir sehen: wir müssen uns heute das Erbe des christlichen Abendlandes weitgehend ohne Christentum denken. Inzwischen ist es (politisch korrekt) hierzulande üblich, das christliche Abendland um dessen jüdische Dimension zu erweitern. Man spricht daher, artig, vom christlich-jüdischen Erbe Europas. Doch wie sieht dieses christlich-jüdische aus? Ist es nicht ein wenig rot, blutdurchtränkt? Und das bezieht sich freilich nicht nur auf die Periode des Holocaust. Das christlich-jüdische Erbe ist, zumindest seit der Periode der Kreuzzüge (1096 ff.) nicht sonderlich harmonisch und nicht besonders verbindend, weder die christliche noch die jüdische Seite. Bundespräsident Wulff, nicht unbedingt als Kenner der europäischen Kulturgeschichte ausgewiesen, auch nicht der deutschen, erklärte am 3. Oktober 2010, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Das ist sicherlich demografisch, gegenwartsbezogen richtig, doch

weniger bezüglich des deutschen und gesamteuropäischen Erbes. Auch hier eher Konfrontation als Kooperation. Das will nicht andeuten, dass es keine harmonische Vorstellung bezüglich des christlichjüdisch-islamischen Erbes gäbe: Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände Wir kennen den Text. Johann Wolfgang Goethe, West-Östlicher Divan, Talismane. Doch auch Goethes Verhältnis zum Islam war weniger harmonisch und konfrontativ als dieser wunderbare Text andeutet. Das Verhältnis des großen Dichters zum Islam, besonders zum Koran war, sagen wir, eher ambivalent. Das Stichwort Islam bringt uns wieder vom Makrokosmos zum Mikrokosmos Jena und Weimar und von Weimar (Goethe) zurück nach Jena: zu Friedrich Rückert, der sich 1911 an der Universität Jena habilitierte. Rückert, der 44 Sprachen beherrschte, ist ein auch dichterisch überzeugender Koran-Übersetzer gewesen. Er verband Abendland und Morgenland, ganz im Sinne der Talismane von Goethe. Doch war jenes kosmisch-poetisch-wissenschaftliche Gleichgewicht zwischen Abendland und Morgenland wie bei Goethe und Rückert (hier zitiert) auch Teil der Geschichte? Betrachten wir das Verhältnis von Orient und Okzident im Laufe der Jahrhunderte, ja Jahrtausende. Es fällt auf: es wechselten Perioden der jeweiligen Offensiven und Defensiven. Einmal vom Orient, ein anderes Mal vom Okzident und wieder umgekehrt. Schon in der Antike beobachten wir dieses Muster: lange vor der Entstehung des Islam. Das frühe 5. Jahrhundert vor Christus: Die Perserkriege. Die Orientalische Despotie, Persien, versucht den aufgeklärten Okzident, das Alte Griechenland, zu erobern. Dies misslingt. Der Gegenschlag folgte bald: Die Expansion Alexanders des Großen aus Griechenland in den Orient und bis an den Indus. Das Erbe Alexanders setzten die Römer fort, im Mittelalter zerbrach die Vorherrschaft des Okzidents über den Orient und der Orient so lernen wir artig in den

Geschichtsbüchern kam bzw. eroberte den Okzident, zumindest Teile des Okzidents: konkret die Iberische Halbinsel. Es heißt: 711 sei die Iberische Halbinsel von den Muslimen, vornehmlich den Arabern mit Hilfe der Berber erobert worden. Bis ca. 1000 nach Christus habe das Goldene Zeitalter der christlich-islamisch-jüdischen Toleranz auf der Iberischen Halbinsel geherrscht. Die zeitliche Einschränkung ist schon eher unkonventionell, denn in der Regel wird vom Goldenen Zeitalter auf der Iberischen Halbinsel insgesamt gesprochen, wenn von Islam, Christentum und Judentum in der islamischen Epoche die Rede ist. Historisch genauer dürfte die Eingrenzung auf die Epoche bis ungefähr 1000 nach Christus eher zutreffen. Danach ist es nicht schwer, die christlich-islamische Konfrontation zu erkennen, denn 1085 wurde Toledo zurückerobert, war die Iberische Halbinsel in einen christlichen Nord- und einen islamischen Südteil gespalten. 1492 wurden dann die Muslime gewaltsam versteht sich vertrieben. Auch hier nicht unbedingt ein harmonisches Erbe, auf das man sich zu stützen hätte. Doch die Desillusionierung wird noch heftiger, wenn man an die Veröffentlichungen von Karl- Heinz Ohlig denkt, der gemeinsam mit anderen Forschern immer nachdrücklicher und wasserdichter belegt, dass es die islamische Eroberung als Eroberung der Iberischen Halbinsel gar nicht gegeben hätte. Vielmehr, so Ohlig und seine Forscherkollegen, habe die arianisch-christliche Aristokratie gegen die römisch-katholische Monarchie, das Königshaus der Westgoten, rebelliert. Das strikt monotheistische, die Trinität ablehnende arianische Christentum, die arianische Aristokratie habe mit dem arianisch-christlichen Frühislam das römisch-katholische Königshaus gestürzt. Also christlich-arianische Kooperation auf der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika, denn so Ohlig und die mit ihm Forschenden und Publizierenden, die ersten beiden Jahrhunderte des vermeintlichen Islam seien eine Epoche christlich-arianisch-syrischer Gemeinschaft gewesen, die erst um 800 aufgrund innerer Umwälzungen und Verwerfungen im Orient zum Islam im eigentlichen Sinne geworden ist. Es gäbe, so die Forschungsgruppe um Ohlig, auch bis weit ins 9., 10. Jahrhundert keinen einzigen Beleg für den Islam als eigenständige, mit dem Christentum konkurrierende Religion. Das bedeutet: bis ca. 1000 müsste man eher von einer innerchristlichen Auseinandersetzung auf der Iberischen Halbinsel sprechen, nicht von einer islamischchristlich-jüdischen Epoche. So gesehen kann man leicht erklären, dass es eine gewisse Harmonie zwischen selbst diesen rivalisierenden christlichen Gruppierungen gegeben hätte.

Die vermeintlich islamisch-christliche Harmonie, so problematisch sie war, stellt sich als eine innerchristliche heraus. So oder so die RECONQUISTA war freilich nicht harmonisch, so wenig wie die Überlieferung derselben. Es heißt: die griechischen Philosophen der Antike seien über den Islam nach Europa gekommen. Das ist richtig. Doch vergessen wir nicht, dass gerade jene islamischen Philosophen (in der etablierten Phase des Islam) gerade wegen ihrer Weltoffenheit innerislamisch die größten Probleme hatten. Ein gemeinsames Erbe erkennen wir hier leider wohl nicht. Schauen wir vom Westen bzw. Südwesten Europas zum Osten bzw. Südosten: 1492 ist also der Islam von der Iberischen Halbinsel vertrieben worden, im Südosten war er bereits schon seit dem 14. Jahrhundert auf dem Gebiete Europas, auf dem Balkan, und 1453 wurde bekanntlich Konstantinopel von den Osmanen erobert. 1529 standen die Türken vor Wien, ebenfalls 1683. Beide Male wurden sie zurückgeschlagen, und nun das alt bekannte Muster: es rollte der Orient wieder in Richtung Okzident. Der nächste Ein- bzw. Abschnitt begann 1799 mit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon. Und schon sind wir in der Epoche Goethes und Rückerts, Weimars und Jenas. Von einer Harmonie, einem Gefühl der inneren Zugehörigkeit des Orients zum Okzident und umgekehrt kann keine Rede sein. Ebenfalls nicht im 20. Jahrhundert. Der Orient versucht sich, bereits seit dem späten 19. Jahrhundert von der okzidentalen, europäischen Vorherrschaft zu befreien. Es gelingt zaghaft nach dem Ersten, dauerhaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Stichwort heißt Entkolonialisierung und die Gründung unabhängiger Staaten im Nahen Osten, auch Israels. Und genau diese Geburt sorgte und sorgt für weitere Konflikte zwischen Orient und Okzident. Nachwirkungen der Entkolonialisierung, auch der langen Zugehörigkeit weiter Teile der arabischen Welt zum Ostblock, also Konfrontation, sind bis heute erkennbar. Im Zuge der Entkolonialisierung kamen Millionen Muslime nach Europa und Deutschland, auch Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Belgien, auch nach Italien. Zum einen kamen diese Muslime aus dem Orient, einschließlich Nordafrikas, zum anderen aus Indien

(Großbritanniens ehemalige Kolonie), Nordafrika (französische Kolonien) und Indonesien (niederländische Kolonien). Jenseits des Kolonialerbes und des Exodus bzw. der Einwanderung zahlreicher Muslime, auch das Ergebnis der konfrontativen Entkolonialisierung, gab es einen anderen Faktor, der (zunächst) eher positiv zu gewichten wäre: die wirtschaftliche Attraktivität Europas und Deutschlands bezüglich der Welt des Orients. Hier sprechen wir aber eher und eindeutig von materiellen Faktoren keinen geistig-geistlichen. Europa hat diese Muslime importiert, ohne sich (mehr als 20 Jahre) um diese Menschen als Menschen intensiv zu kümmern. Das Gebot der Humanitas, ein Erbe, ein klassisches Erbe, der deutschen Klassik, wurde sträflich vernachlässigt. Man (gleich die deutsche Mehrheitsgesellschaft, ebenso wie die westeuropäische) ertrug (ertragen: Toleranz ) den Islam und die Muslime. Von Akzeptanz keine Rede. Das genau aber würde an das Erbe von Johann Wolfgang Goethe in den Maximen und Reflexionen (bzw. Wilhelm Meister) anknüpfen. Der Meister aus Weimar hatte dort bekanntlich formuliert, dass Toleranz nicht reiche, es auf Akzeptanz ankomme, wenn man den Nächsten tatsächlich annehme bzw. akzeptiere. Wir sehen: unreflektierte Präsidentenphrasen reflektieren (leider) nicht die historische Wirklichkeit. Vertiefen wir noch den jüdischen Aspekt des vermeintlich christlich-jüdisch-islamischen Abendlandes. Wir blicken auf den jüdischen Aspekt. Auch hier können wir von Jena ausgehen: Dorothea Friederike Schlegel, geb. Brendel- Mendelssohn, die Tochter des großen Moses Mendelssohn, Lebensgefährtin und spätere Ehefrau von Friedrich Schlegel. Schon der Namenswechsel ist bedeutsam. Mehr der Vorname als der Nachname, denn als Brendel wurde die spätere Dorothea Friederike geboren. Friederike der klassisch hohenzollerische Vorname, totale Assimilierung, Aufgabe des jüdischen Selbst, ebenso wie der Vorname Dorothea, der eine völlige Aufgabe des jüdischen Erbes signalisiert. Zunächst trat Dorothea Friederike bzw. Brendel zum Protestantismus über, später fand sie mit Friedrich Schlegel ihren Weg zum (vermeintlich) wahren Christentum: den Katholizismus. Wie auch immer: wir kommen nicht daran vorbei, dass diese Toleranz der christlichen Umwelt zur jüdischen Selbstaufgabe, freiwillig oder unfreiwillig, führte.

Diese freiwillige jüdische Selbstaufgabe habe ich in dem zusammen mit Thomas Brechenmacher verfassten Buch Deutschland, jüdisch Heimatland (München 2008) anhand der von uns entwickelten Historischen Demoskopie wissenschaftlich belegt. Für die Zeit des 19. und 20. Jahrhundert konnten wir empirisch-repräsentativ nachweisen, dass, wann und wie heftig sich die jüdische Gemeinschaft selbst aufgab bzw. assimilierte. Man muss also von Integration als Selbstaufgabe sprechen. In der gegenwärtigen Diskussion über Integration heißt es, das Erlernen der Landessprache sei der Schlüssel zur Integration. Wirklich? Konnte Dorothea Schlegels Vater, Moses Mendelssohn, kein perfektes Deutsch? Oder Kafka oder Tucholsky und, und, und? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten. Wir lernen aus dieser Geschichte: offensichtlich ist Sprache nicht der Schlüssel zur Integration. Hier ist der Wunsch der Vater des Gedanken. Ein sympathischer, doch historisch-empirisch nicht belegbares Faktum. Schauen wir noch weiter zurück: das Neue Testament, das Ursprungsdokument des Christentums, zeigt einerseits die innerjüdischen Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den diversen jüdischen Gruppierungen seiner Zeit, aber ein Dokument, welches Christentum und Judentum zueinander führt, dürfte das Neue Testament sicherlich nicht sein. Noch größer wird die Distanz durch die Kirchenväter und in der Spätphase des Römischen Reiches, nachdem das Christentum Staatsreligion bzw. Quasi-Staatsreligion geworden war. Im frühen Mittelalter, bis zu den Karolingern, kann man durchaus von einer eher konfliktfreien Epoche zwischen Christen und Juden sprechen, das änderte sich seit Beginn der Kreuzzüge 1096 bis 1291 dramatisch, und auch danach wurde es nicht besser, denn die negative Weichenstellung zwischen Juden und Christen erfolgte spätestens theologisch auf dem Vierten Laterankonzil 1215. Der nächste Einschnitt war sicherlich Lessings Nathan der Weise (1779/83). Dies war gewiss ein Wendepunkt zum Positiven, eingeleitet vom Aufklärer Christian Konrad Wilhelm von Dohm mit seiner 1781 veröffentlichten Denkschrift.

Goethes Verhältnis zum Judentum und zu Juden war eher lauwarm, wenngleich (bedauerlicherweise) judenunfreundliche Klischees auch in seinem Werk erkennbar sind, z.b. wenn der Meister vom jüdischen Rachegott spricht. Ganz anders Schiller. Bei ihm ist das jüdische Thema ein absolutes Randthema, kein Thema, aber, wichtig, man findet bei ihm auch keine antijüdischen Klischees. Ganz anders bei einem anderen Jenaer, dem Philosophen Fichte, der deutschen Romantik, z.b. den Gebrüdern Schlegel. Aber auch die Aufklärung in Deutschland und im übrigen Europa war nicht unbedingt tolerant gegenüber Juden. Man denke nur an CANDIDE von Voltaire. Dieser war ein sozusagen bekennender Antisemit. Unser Fazit: das europäische, deutsche, Jenenser Erbe ist groß, großartig, gewaltig. Es konnte aber Gewalt nicht verhindern. Wie stets und überall finden wir auch bezüglich dieses Erbes Licht und Schatten. Die geschichtsübliche Dialektik. Doch was, wenn nicht das Erbe, dieses Erbe, das wir im Mikrokosmos Jena erkennen können? Haben wir ein besseres Erbe? Nein, dieses Erbe ist aber, gerade weil und in dem unerreicht, unsere Aufgabe. Dieses Erbe, das sind wir. Wir müssen es neu, in seiner gesamten Substanz erwerben. Das ist eine Herausforderung, nicht nur ein Geschenk, wir können auf diesem Geschenk aufbauen, weiterentwickeln müssen wir es. Franz Kafka: Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit. Wir sind die Aufgabe, dieses Erbe ist unsere Aufgabe.