Markus Sommerer Digitale Medien in der Musiktherapie eine Einführung»Brauchen wir heute einen Regenschirm«, frage ich das Smartphone und bekomme die Antwort einer generierten Frauenstimme:»Es ist kein Regen vorhergesagt«. Kommunikation mit der digitalen Welt: Anstatt zu telefonieren oder sich zu treffen, chatet man oder schreibt sich über Facebook. Was man vor sich hat, was man berührt, sieht und hört, ist keine Person mehr, sondern ein Gerät, das eine Welt öffnet, ohne dass ich mein Zimmer verlassen muss. Suche ich nach einem Lied, wühle ich nicht mehr in meiner Schallplatten- oder CD-Sammlung, sondern gebe meine Textideen in Youtube oder in eine Suchmaschine ein und schon bekomme ich unzählige Ergebnisse mit Videos präsentiert. Längst sind digitale Medien aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken: das zeigt ein kurzer Blick in die alltägliche Umgebung. Digitale Medien verändern unsere Interaktion und unser Verhalten, sie sind uns vertraut und oft positiv in uns geankert, auch aus der Arbeitswelt sind sie nicht mehr wegzudenken. Der Gebrauch digitaler Medien in der Musiktherapie jedoch wird zum Teil immer noch skeptisch betrachtet. Für Musiktherapeuten stellt sich die Frage, inwieweit diese digitale Welt ein Wegweiser, ein Ankerpunkt, ein Zugangsmittel oder ein Faktor im therapeutischen Prozess, in der Kommunikation und Interaktion mit unseren Patienten sein kann. In meinen Recherchen zu meiner Masterthesis und zu meinem Dissertationsthema habe ich viele musiktherapeutische Kollegen und Kolleginnen kennengelernt, die diese Medien mit großem Erfolg u. a. in der Geriatrie, Erwachsenenpsychiatrie/Psychotherapie, Onkologie, in der Arbeit mit ein- oder mehrfachbehinderten Menschen, neurologischen Rehabilitation und in der therapeutischen Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen eingesetzt haben. Was kann einen Musiktherapeuten dazu bewegen und motivieren, im therapeutischen Setting digitale Medien zu verwenden? Der Grund kann in einem speziellen therapeutischen Klientel liegen, das die Verwendung dieser Medien nahelegt, oder auf persönlichen Erfahrungen beruhen. In diesem Kontext sollte auch auf die angemessene Anwendung digitaler Medien geachtet werden:»nicht jedes Medium kann in jedem therapeutischen Setting adäquat sein«(sommerer 2010, S. 6). Eine Kollegin verwendet z. B. in der Geriatrie ihr Keyboard als mobiles, mit vielen Klängen und Rhythmen ausgestattetes Tasteninstrument, das sie von Station zu Station mitnehmen und transportieren kann. Sie nutzt neben dem Klavier- und Akkordeonsound z. B. den Kirchenorgelklang, der viele Bewohner des Seniorenheimes ihr ganzes Leben zu wichtigen Lebensereignissen begleitet hat. Bei einigen Bewohnern weiten sich die Augen, wenn der Orgelklang zum ersten Mal ertönt und eine positive Veränderung der Gesichtsmimik wird erkennbar. Ein weiterer Kollege, der mit schwerst mehrfachbehinderten Menschen arbeitet, nutzt den Soundbeam,
352 Markus Sommerer der jede noch so kleine Fingerbewegung in der Luft mithilfe von Ultraschallköpfen in Töne umwandelt und dadurch für den Patienten eine Möglichkeit schafft, selbstständig Musik zu machen. Auch die Musiktherapieforschung interessiert sich mittlerweile für diese Medien. Leider ist die Forschung auf diesem Gebiet noch sehr jung und hält sich noch in Grenzen. U. a. gibt es aus England von Wendy L. Magee und Karen Burland (2008) eine Studie, die elektronische Musikmedien mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in verschiedenen therapeutisch arbeitenden Einrichtungen untersucht. Weitere Studien wurde von Joseph Nagler (1993) durchgeführt, der in den USA u. a. den Einsatz dieser Medien bei Kindern in Krisen qualitativ erforschte. Der Einsatz von Drumpads (elektronisches Schlagzeug) wurde bei einer Studie von Schneider, Altenmüller und Schönle (2007) im Zusammenhang mit Schlaganfallpatienten in der neurologischen Rehabilitation untersucht. Vertraute Umgebungen Beim Blick auf die Ergebnisse der JIM-Studie (2012) des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest, der das Medienverhalten von Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren erforscht (s. u.), kann man erkennen, wie viel Raum die neue digitale Welt bei Kindern und Jugendlichen einnimmt: Es ist zu vermuten, dass diese Welt für diese Gruppe etwas Vertrautes und ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden ist. Durch den Einsatz digitaler Medien hat der Therapeut die Möglichkeit, an diese vertraute Umgebung anzuknüpfen und den Patienten dort abzuholen. Die folgende Übersicht zeigt einige digitale Medien, die im musiktherapeutischen Rahmen zur Anwendung kommen: Aufnahmegeräte (z. B. MiniDisk-Recorder, Mp3-Recorder, DAT-Recorder, Handy Recorder) (Sommerer 2010) Abspielgeräte mit Veränderung der Abspielgeschwindigkeit, Tonhöhenänderung (z. B. CD-Player, Mp3-Player) (Sommerer 2010) Soundbeam mit Ultraschallköpfen und Soundmodul (Sommerer 2010; Hillmann 2002) Weitere Effektgeräte (z. B. Halleffekt) Sampler (Sommerer 2010) Computer unter Verwendung von: Musikbearbeitungssoftware Kompositionssoftware Aufnahmesoftware Internet (z. B. Musik-, Filmbilbliotheken u. a. Youtube) (Sommerer 2010) Smartphones und Tablets unter Verwendung von: Musikbearbeitungssoftware Kompositionssoftware Aufnahmesoftware
Digitale Medien in der Musiktherapie eine Einführung 353 Internet Stimmwandlersoftware Internen Lage- und Bewegungssensoren zur Steuerung von Instrumenten und zur Soundwiedergabe Übersichtlichen kreativen Bedienoberflächenstrukturen, zur einfachen Bedienung von digitalen Musikanwendungen und Musikinstrumenten (Sommerer 2010) Spielekonsolen (z. B. Nintendo Wii, Playstation 3) unter Verwendung von: Schnurlosen Controllern, die Bewegung in Musik und Töne verwandeln Infrarot und Sensorsystemen, die die Bewegung des Körpers scannen und softwarespezifisch in Musik und Töne verwandeln können Infrarot und Sensorsystemen, die die Bewegung des Körpers scannen und in Musik und Töne verwandeln können Bewegungs-, Rhythmus-, Tanz- und Gesangssoftware (z. B. Singstar) Drumcomputer (Sommerer 2010) Keyboard/Synthesizer (Gessner 2004; Petersen 2009; Moritz 1992; Sommerer 2010) Elektronisches Schlagzeug mit Soundmodul (Schneider 2007; Sommerer 2010) Effektgeräte für die Stimme: Vocalist, Vocoder Mikrofon (Sommerer 2010) Mixer bzw. Mischpulte (Sommerer 2010) Sampler (Sommerer 2010) MIDI- Instrumente mit Trigger/Sensoren-, Lichtschranken- und Lasertechnologie (Sommerer 2010; Post, Orth, Weinberg 2010; toysymphony.net, 2010, opera.media) Was sich seit einigen Jahren nicht nur bei Erwachsenen, sondern vor allem auch bei Kindern und Jugendlichen sehr stark verbreitet hat und auch in der oben gezeigten Zusammenstellung einen großen Raum einnimmt, ist der Gebrauch eines Smartphones. Der neue»mini-pc«ist zu einem ständigen Begleiter im Alltag geworden, der nicht nur ein Telefon, sondern eine Verbindung zur Cyberwelt und zu intimsten Informationen in Form von Bildern, Videos und Lieblingsmusik enthält. Laut der aktuellen JIM-Studie hat knapp jeder zweite Jugendliche ein Smartphone. Abbildung 1 zeigt die Verbreitung des Gerätes.
354 Markus Sommerer Abbildung 1 Auf einem Smartphone sind viele Programme, sogenannte Apps, installiert und können millionenfach aus dem Internet gezogen werden1. Apps haben nicht nur im Bereich Smartphone, sondern auch auf dem Tablet oder Computer als Format Einzug gehalten. Abbildung 2 aus der JIM-Studie zeigt, dass z. B. die Musiksoftware bzw. Musik- App schon auf Platz 6 vor Navigation und Bildbearbeitung liegt und immer mehr Anwendung findet. Eine App mit der Bezeichnung Relax Music ermöglicht es beispielsweise, symbolisch in Kästchen dargestellte Loops zusammenzufügen, und so eine eigene Meditations- und Entspannungsmusik zu kreieren. Es ermöglicht sogar, Alphaoder Thetawellen hinzu zuschalten, die die Entspannung oder Konzentration verbessern sollen. Die Musikaufnahme- und Bearbeitungssoftware Garageband als App beinhaltet verschiedenen Instrumente u. a. Gitarre, Schlagzeug, Bass und Synthesizer. Diese können durch das Berühren des Bildschirms mit den Fingern gespielt werden. Mit mehr oder weniger viel Unterstützung durch schon voreingespielte Melodie- und Rhythmusstrukturen (Loops) können so eigene Kompositionen eingespielt und aufgenommen werden. Die eigene Stimme kann anschließend über das interne oder externe Mikrofon aufgezeichnet, bearbeitet und mit internen Vocodern (Stimmwandlern) in der Tonhöhe und im Klang durch Effekte verändert werden. Zudem 1 Apps für Musiktherapeuten: s. auch den Beitrag von Petra Kern in diesem Themenheft
Digitale Medien in der Musiktherapie eine Einführung 355 Abbildung 2 werden Loops schon z. B. in Stimmungen und Gefühlslagen sortiert, was dem Benutzer die Suche und Auswahl erheblich erleichtert. Ein möglicher Einsatz des Apps Garageband verdeutlicht folgendes Beispiel. Während ich als Musiktherapeut am Klavier improvisiere, spielt mein Patient auf dem Smartphone»Schlagzeug«. Er trommelt dafür mit den Fingern auf einem auf dem Display eingeblendetes Minischlagzeug, und über die Verbindung mit einem Mixer und einer Anlage ertönt aus den Boxen ein rockiger Schlagzeugsound. Es entsteht eine erste gemeinsame Improvisation, ein erstes aufeinander Zugehen mit einem ihm bekannten und sicheren Medium. Ein Heimspiel sozusagen. Anschließend lächelt er mich an und sagt:»das war cool!«ich antworte:»wollen wir das nochmal probieren und aufnehmen?«als wir die Aufnahme anhören, beschreibt er, wie schön das klingt und wie gut es zusammenpasst. Grenzen des Einsatzes digitaler Medien Natürlich hat der Einsatz digitaler Medien in der Musiktherapie auch Grenzen. Sehr wichtig ist zum Einen die Erfahrung und Motivation des Therapeuten im Umgang mit dem Medium und seine Beziehung dazu. Der Therapeut sollte sich selbst gut im Umgang mit dem jeweiligen Medium auskennen, damit die Bedienung der diversen technischen Komponenten den therapeutischen Beziehungsaufbau nicht behindert. Auch sollten Auswahl und Anwendung der jeweils zur Verfügung
356 Markus Sommerer stehenden Funktionen und Möglichkeiten soweit als möglich dem Patienten überlassen werden, um so einerseits die Selbstwirksamkeit zu stärken, und die Gefahr einer möglichen Manipulation durch den Therapeuten weitestgehend zu reduzieren. Gerade im Hinblick auf letztere ist eine regelmäßige Supervision des Therapeuten unerlässlich (Sommerer 2010). Zu überdenken ist der Einsatz digitaler Medien in therapeutischen Feldern, bei denen es in erster Linie um körperlich sinnliche Abbildung 3: Foto: M. Sommerer (2013) Erfahrungen geht, da die natürliche Resonanz des Instrumentariums fehlt. Vorsicht ist auch bei Patienten geboten, die stark zu Kontakt- und Konfliktvermeidungsstrategien neigen, denn die zum Teil komplexe Bedienung und Vielfalt der Einstellungsmöglichkeiten bieten ein weites Feld, sich von der Konfrontation mit therapeutischen Inhalten abzulenken. Fazit Abschließend ist aus meiner praktischen Erfahrung und aus Falldokumentationen von Kollegen durch die vielen unzähligen Möglichkeiten, die der Einsatz digitaler Medien im therapeutischen Setting bietet, vor allem die Förderung der therapeutischen Beziehung für mich der wichtigste Motivationsfaktor für die Anwendung des Mediums. Und nicht zuletzt kann die Verwendung digitaler Medien und somit die Anknüpfung an Vertrautes dabei unterstützen, sich langsam aus dem sicheren, beherrschbaren Raum heraus zu tasten und sich schließlich auch auf das Musizieren mit akustischen Instrumenten einzulassen. Literatur JIM-Studie (2012): Basisstudie zum Medienumgang 12 19-Jähriger in Deutschland; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest; Stuttgart; Online im Internet unter: http://www. mpfs.de/fileadmin/jim-pdf12/jim2012_endversion.pdf; Zugriff: 17. 02. 13. Hillman, M. (2002): Introducing»Soundbeam«. In: M. Hillman, M., C. M. Tomaino (Hg.): Clinical Application of music in neurologic Rehabilitation. S. 51f; USA/Sant Louis: MMB Music. Magee, W. L., Burland K. (2008): Using electronic music technologies in music therapy: opportunities, limitations and clinical indicators. In: British Journal of Music Therapy, Volume 22, No.1, 3 15.
Digitale Medien in der Musiktherapie eine Einführung 357 Moritz, J. A. (1992): Der Synthesizer- elektronische Klänge in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau Band 13, 205 212 Nagler, J. C. (1993): Dissertation über: A qualtitative study of children in crisis: Interventions through music therapy and digital music technology. New York University. Nagler, J. (2002): Digital music technologie in music therapy practice. In: J. Nagler, Tomaino, C. M. (Hg.): Clinical Application of music in neurologic Rehabilitation, S. 41 49. USA/Sant Louis: MMB Music. Orth, M., Weinberg G. (2010): Music Shapers, Online im Internet unter: http://opera.media.mit. edu/projects/shapers.html; Zugriff:18. 02. 13. Schneider, S. (2007): Dissertation über: Objektivierung eines musikunterstützten Trainings motorischer Funktionen nach Schlaganfall. Online im Internet unter: http://diglib.uni-magdeburg. de/dissertationen/2007/ sabschneider.pdf; Zugriff:15. 12. 09. Sommerer, M. (2010):»Das klingt ja wie die Stimme meines Papas!«Musiktherapie mit ausgewählten digitalen Medien Möglichkeiten und Grenzen. Masterthesis, Universität Augsburg. Markus Sommerer, Atzelsbergerstr. 6, 91094 Bräuningshof, Email: Markus.Sommerer@musiktherapie.de. Musiktherapie M. A., Dipl. Musikpädagoge, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Tätigkeitsfelder: Kinder- und Jungendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik, Erwachsenenpsychotherapie, freie Praxistätigkeit.