Phlebologische und lymphologische Erkrankungen der unteren Extremitäten



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medicaledition PAUL HARTMANN AG 89522 Heidenheim Deutschland PAUL HARTMANN Ges.mbH 2355 Wiener Neudorf Österreich IVF HARTMANN AG 8212 Neuhausen Schweiz Besuchen Sie uns im Internet: www.hartmann.info ISBN 978-3-929870-70-1 Aktuelle Themen aus den Bereichen Medizin und Pflege behandelt die Schriftenreihe der HARTMANN medical edition. Dabei steht nicht nur Basiswissen im Vordergrund, sondern auch die Vorstellung fachbezogener und interdisziplinärer Entwicklungen. Der produktübergreifenden Information kommt hierbei ein besonderer Stellenwert zu. In einer Zeit rasch aufeinander folgender wissenschaftlicher Erkenntnisse muss Information vor allem auch aktuell sein. Mit diesem Anspruch will diese Buchreihe nicht nur erfahrenen Fachkräften ein Ratgeber sein. Auch denjenigen, die sich erstmalig auf neue Gebiete in Medizin und Pflege begeben, werden zeitgemäße Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt und nützliche Tipps gegeben. Damit setzen wir den Leitgedanken unseres Unternehmens in die Praxis um. HARTMANN hilft heilen. B109 (0809) 86 318/2 HARTMANN medicaledition Phlebologische und lymphologische Erkrankungen der unteren Extremitäten Phlebologische und lymphologische Erkrankungen der unteren Extremitäten Wundbehandlung

Herausgegeben von der PAUL HARTMANN AG 89522 Heidenheim http://www.hartmann.info Redaktion: DGÄF DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ÄRZTLICHE FORTBILDUNG mbh Pasinger Straße 2 82152 Planegg/München Tel.: 089 / 8646680-0 Email: matthias.riecker@dgaef.de www.dgaef.de Autoren: Prof. Dr. med. Eberhard Rabe Facharzt für Hautkrankheiten Allergologie, Phlebologie Klinik und Poliklinik für Dermatologie Rhein. Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Dr. med. Wolfgang Justus Brauer Facharzt für Radiologie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie Chefarzt der Radiologischen Abteilung und Praxis für Nuklearmedizin Kreiskrankenhaus Emmendingen Gartenstraße 44 79312 Emmendingen Tel.: 07641 / 4542280 Email: wolfgang.brauer@gmx.net www.krankenhaus-emmendingen.de Dr. med. Franz-Xaver Breu Facharzt für Allgemeinmedizin Phlebologie Tegernseer Straße 101/1 83700 Rottach-Egern (Weißach) Tel.: 08022 / 1218 Email: f.x.breu@t-online.de Dr. med. Erika Mendoza Fachärztin für Allgemeinmedizin Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für CHIVA e.v. Speckenstraße 10 31515 Wunstorf Tel.: 05031 / 912781 Email: info@venenpraxis-wunstorf.de www.chiva.info Prof. Dr. med. Wilfried Schmeller Facharzt für Dermatologie Hanse-Klinik, Fachklinik für Liposuktion und operativ-ästhetische Dermatolgie St.-Jürgen-Ring 66 23564 Lübeck Tel.: 0451 / 502720 Email: ws@hanse-klinik.com www.hanse-klinik.de Dr. med. Christian Schuchhardt Facharzt für Innere Medizin, Haematologie und internistische Onkologie Chefarzt der Klinik Pieper OHG / Prävention - Rehabilitation Vorderdorfstr. 17 79837 St. Blasien-Menzenschwand Tel.: 07675 / 168464 Email: chrischuchhardt@web.de Konzept und Co-Autorin: Dr. med. Carmen Martin Fichtenweg 2 86938 Schondorf Tel: 08192/ 8967 Email: martinmed@t-online.de PAUL HARTMANN AG August 2008 ISBN 978-3-929870-70-1 Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier

Phlebologische und lymphologische Erkrankungen der unteren Extremitäten

Inhaltsverzeichnis 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen 8 1.1 Schwellung als Leitsymptom phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen 9 1.2 Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung zur Abklärung der Ödemgenese 10 1.3 Differenzialdiagnostische Hinweise 15 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen 20 2.1 Tiefe Bein-/Beckenvenenthrombose (TVT) 21 2.2 Thrombophlebitis, Varikophlebitis 33 2.3 Varizenblutung 37 2.4 Lymphödem durch Entzündung 37 2.4.1 Lymphangitis 38 2.4.2 Lymphadenitis 38 2.4.3 Erysipel (Wundrose) 39 3 Chronische Erkrankungen 44 3.1 Chronische venöse Insuffizienz (CVI) 45 3.1.1 Definition 45 3.1.1.1 Varikosis, Varikose 48 3.1.1.2 Posttrombotisches Syndrom 51 3.1.2 Klinik der CVI (Blickdiagnose) 51 3.1.3 Ätiologie/Pathophysiologie 54 3.1.4 Stadieneinteilung 55 3.1.5 Abklärung der Diagnose 59 3.1.6 Therapie 61 3.1.7. Differenzialdiagnosen (DD) 62 3.1.8 Komplikationen 63 3.2 Lymphödem 64 3.2.1 Primäres Lymphödem 72 3.2.2 Sekundäres Lymphödem 75 3.2.2.1 Malignes Lymphödem 77 3.2.2.2 Prätibiales Myxödem 78 3.3 Lipödem 80 4 Diagnostische Verfahren 84 4.1 Labor 85 4.1.1 D-Dimer-Test 85 4.1.2. Thrombophilie-Screening 85 4.2 Bildgebende Nachweisverfahren in der Phlebologie 86 4.2.1 Dopplersonographie 86 4.2.1.1 Bestimmung des Knöchel-Arm-Index 87 4.2.2 Zweidimensionale Ultraschalltechnik (B-Bild, Kompressionssonographie) 87 4.2.3 Farbduplexsonographie 88 4.2.3.1 Duplexsonographie mit Valsalva-Pressmanöver 88 4.2.4 Phlebographie 89 4.2.5 Magnetresonanztomographie (MRT)- und Computertomographie (CT)- Phlebographie 89 4.3 Bildgebende Nachweisverfahren in der Lymphologie 90 4.3.1 Überblick 90 4.3.2 Lymphszintigramm 92 4.3.2.1 Quantitatives Lymphszintigramm = Funktionslymphszintigraphie 93 4.3.2.2 Qualitatives Lymphszintigramm 97 4.3.3 Sonographie 98 4.3.4 Indirekte Lymphangiographie 100 4.3.5 Interstitielle Magnetresonanztomographie 101 5 Therapiekonzepte 102 5.1 Konservative Maßnahmen 103 5.1.1 Kompressionstherapie 103 5.1.2 Manuelle Lymphdrainage 111 5.1.3 Komplexe physikalische Entstauungstherapie 112 5.1.4 Wundbehandlung des Ulcus cruris venosum 113 5.2 Invasive Maßnahmen bei Varikose 138 5.2.1 Behandlung von Besenreiservarizen und retikulären Varizen 138 Inhaltsverzeichnis [2.3]

Verzeichnis der Abkürzungen 5.2.2 Ausschaltung von Perforansvenen 138 5.2.3 Behandlung der Stamm- und Seitenastvarikose 138 5.2.3.1 Krossektomie, Stripping und Kryoexhairese 138 5.2.3.2 Endovenöse Radiofrequenzablation (RFA) 139 5.2.3.3 Endovenöser Laser 139 5.2.3.4 Duplexkontrollierte Schaumsklerosierung 140 5.2.3.5 Venenerhaltende Verfahren: Die CHIVA-Methode 140 5.3 Invasive Maßnahmen beim Lymphödem 141 5.4 Invasive Maßnahmen beim Lipödem: Liposuktion 142 5.5 Pharmakotherapie 145 5.5.1 Pharmakotherapie bei der chronischen venösen Insuffizienz 145 5.5.2 Pharmakotherapie beim Lymphödem 147 6 Tipps und Tricks für den Alltag 148 6.1 Verhaltensregeln bei Venenerkrankungen 149 6.2 Verhaltensregeln bei Beinlymphödem 151 7 Anatomie und Physiologie 158 7.1 Venöses Gefäßsystem der unteren Extremitäten 159 7.2 Lymphgefäßsystem der unteren Extremitäten 164 AIK apparative intermittierende Kompression BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit CHIVA Cure Hémodynamique d Insuffisance Veneuse en Ambulatoire CT Computertomographie CVI chronische venöse Insuffizienz KPE komplexe physikalische Entstauungstherapie MKS medizinische Kompressionsstrümpfe/ -strumpfhose MLD manuelle Lymphdrainage MRT Magnetresonanztomographie PKV phlebologischer Kompressionsverband S. Seite TVT tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose 8 Wichtige Internetadressen 166 9 Weiterführende Literatur 167 9.1 Fachbücher 167 9.2 Ratgeber für Patienten 169 9.3 Leitlinien für Diagnostik und Therapie 170 9.4 Publikationen 176 10 Sachwortverzeichnis 180 11 Bildnachweis 182 Inhaltsverzeichnis [4.5]

Vorwort Phlebologische und lymphologische Erkrankungen der unteren Extremitäten müssen heute als eine der häufigsten Krankheitsgruppen in unserer Bevölkerung angesehen werden. Über 20 % unserer Bevölkerung leiden unter einer Varikose und ca. 15 % haben eine chronische venöse Insuffizienz von der Ödembildung bis hin zum offenen Bein. Die Krampfaderoperation gehört mit ca. 300.000 Eingriffen zu den häufigsten Operationen in Deutschland. Ca. 2% haben ein manifestes Lymphödem. Neue Verfahren wie die endovenöse Behandlung und die Schaumsklerosierung der Varikose haben das Therapiespektrum in den letzten Jahren erweitert. Trotz der erschreckend hohen Prävalenz dieser Krankheitsbilder lässt der Kenntnisstand der Ärzteschaft noch Wünsche offen. Auch haben nur etwa 40% der Patienten mit einem Krampfaderleiden oder einem venösen Ödem jemals eine spezifische phlebologische Behandlung erfahren. Dieses Buch, verfasst von erfahrenen Phlebologen und Lymphologen, bietet einen guten Überblick über akute und chronische Venenkrankheiten von der Diagnose bis hin zu den therapeutischen Konzepten und bietet damit eine hervorragende Grundlage für die Auseinandersetzung mit phlebologischen und lymphologischen Krankheitsbildern in der täglichen Praxis. Prof. Dr. med. Eberhard Rabe (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie) Vorwort [6.7]

1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen Ziel jeder Beurteilung phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen ist es, differenzierte Informationen über die Ursachen sowie den Umfang des Krankheitsgeschehens zu erhalten, um eine effiziente Therapie durchführen zu können. Hierbei helfen detaillierte Informationen über mögliche Ursachen von Ödemen sowie eine klinische Diagnostik, die aus Anamnese, Inspektion, Palpation und Volumenmessung besteht. Gleichermaßen hilfreich sind Kenntnisse über die wichtigsten Differentialdiagnosen. 1.1 Schwellung als Leitsymptom phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen F.X. Breu, C. Martin Schwellungen der unteren Extremitäten gehören zum Praxis-/Klinikalltag in der Allgemeinmedizin, Inneren Medizin, Dermatologie und Chirurgie. Der interdisziplinäre Charakter dieses klinischen Symptoms erklärt sich durch die Vielzahl der möglichen exogenen und endogenen Krankheitsursachen von Beinschwellungen. Eine Übersicht gibt Tabelle 1. Mögliche Ursachen für Schwellung der unteren Extremitäten n Steigerung des rechtsventrikulären Drucks und damit Steigerung des venösen hydrostatischen Kapillardrucks (Stauungsödeme bei Rechtsherzinsuffizienz) n gestörte venöse Hämodynamik (z.b. chronische venöse Insuffizienz, Postthrombotisches Syndrom) n Veränderung der Kapillarpermeabilität bei entzündlichen Erkrankungen oder Ischämie n Ineffektivität der Gelenk-/Muskelpumpfunktion (z.b. Inaktivitätsödem bei Querschnittlähmung oder Rollstuhlfahrern) n allergische oder toxische Gefäßerkrankung n idiopathisches Ödem n Änderung der Blutzusammensetzung bei: Hypalbuminämie (renale und hepatische Erkrankungen) Salz-/Wasserretention (z.b. Niereninsuffizienz, Arzneimittelnebenwirkung) n Lymphabflussbehinderung (z.b. primäres oder sekundäres Lymphödem) n Fettverteilungsstörung (Lipödem) n Ablagerung von Gykosaminoglycanen im Interstitium (bei Myxödem) Tabelle 1: Pathogenese von Schwellungen der unteren Extremitäten Ödeme (subkutane Flüssigkeitsansammlungen) treten an den unteren Extremitäten bei Varizen, bei Thrombose und Thrombophlebitis aber auch bei gestörtem Lymphabfluss auf. Sie sind Folge der venösen Blutrückflussstörung und/oder der Entzündung bzw. des behinderten Lymph- 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [8.9]

abflusses. Ein Beinödem wird dann klinisch manifest, wenn die interstitielle Flüssigkeitseinlagerung in der Extremität mehr als 1 Liter beträgt. Beinschwellungen, die nicht mit einer Flüssigkeitseinlagerung im Sinne der Extremitätenödem-Definition einhergehen, sind das Lipödem, das eine Fettverteilungsstörung darstellt, und das Myxödem, verursacht durch Proteoglycanablagerungen im Interstitium. Venöse und lymphatische Ödeme verursachen ein Schweregefühl und Spannungsschmerzen in den Beinen und können zu Bewegungs- und Leistungseinschränkung, starker psychischer Belastung und weiteren Komplikationen führen. Das Behandlungsziel ist, die Beschwerdesymptomatik zu verrringern, Komplikationen zu vermeiden sowie bei berufstätigen Patienten die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, bzw. wiederherzustellen. 1.2 Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung zur Abklärung der Ödemgenese W.J. Brauer, C. Martin Während Ödeme an den Armen in der Regel sehr einfach zu diagnostizieren sind, bestehen an den Beinen häufig Kombinationsödeme mehrerer Ödemkrankheiten. Die einzelnen Ödemkomponenten herauszudifferenzieren und die auch oft notwendigen Kombinationstherapien einzuleiten, ist oft nicht einfach und bedarf großer Erfahrung. Die klinische Diagnostik basiert auf Anamnese, Inspektion und Palpation sowie Volumenmessungen (Tabelle 2). Anamnese, Inspektion, Palpation und Messungen zur Abklärung der Ödemgenese Anamnese n Aktuelle Symptome (Auftreten des Ödems, Schmerzen) n Vor-/Begleiterkrankungen, Operationen, Traumen in der betreffenden Region n Schwellungs-/Haematomneigung n Vor- und Begleittherapie (Arzneimittel/physikalische Therapie) n Schwangerschaften/Geburten n Beruf, Sport n Familiäre Disposition Körperliche Untersuchung A. Untersuchung im Stehen (Vor- und Rückseite): n Gesamthabitus n Gewicht n Beinstatik n Fußform (Fuß von Schwellung mitbetroffen?) n Gewebekonsistenz, transiente Dellenbildung durch Fingerdruck, Druckschmerz n Asymmetrien der Schwellung (Messung des Wadenumfangs) n Venenbefund B. Untersuchung im Liegen: n Hautveränderungen (Farbe, Temperatur, Entzündungszeichen, Ulcera, Narben, Behaarung) n Lymphknoten n Analyse der Ödemformen: typische Symptome, z.b. Faltenbildung, Tiefe der natürlichen Hautfurchen, Stemmer sches Zeichen, Druckschmerz (spezielle Druckpunkte bei Thromboseverdacht) n Fußpulse n orthopädische Aspekte (z.b. Fehlhaltung, Arthrose) Tabelle 2: Anamnese und körperliche Untersuchung zur Abklärung der Ödemgenese Serologische Untersuchungen sind nur selten erforderlich, wie bei kombinierten Krankheitsbildern, z.b. der exudativen Enteropatie oder bei lymphatischen Refluxkrankheiten. Anamnese Die Anamnese sollte sich neben der Eigen- und Familienanamnese gezielt auf aktuelle Symptome, Erkrankungsbeginn, Operationen und Traumata in der betreffenden Region, Erysipele, Hämatomneigung bei geringfügigen Traumen, Schmerzhaftigkeit und laufende physikalische 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [10.11]

Entstauungstherapie sowie Medikamentenanamnese beziehen. Ein ursächlicher Tumor muss im Vorfeld ausgeschlossen werden. Druckpunkte bei Thromboseverdacht, Tabelle 7a, S. 25). Lymphödeme sind nicht druckschmerzhaft, nicht therapierte Lipödeme dagegen immer. Abbildung 1: Typisches Zeichen eines Lymphödems: Ödem des Fußrückens und vertiefte natürliche Hautfalten an den Zehen am linken Bein Inspektion Bei der Inspektion ist auf Varizen, Kollateralvenen, Verformungen, Asymmetrien, Volumenvermehrung, Beschaffenheit der Cutis, vertiefte natürliche Hautfalten an Extremitäten und Körperstamm zu achten. Volumenmessung Abbildung 4, rechts: Stemmer sches Zeichen (Hautfaltenzeichen nach Kaposi und Stemmer); Verdickung und Sklerosierung der Cutis am 2. Zehengrundglied, die Hautfaltendicke liegt über 2 mm. Abbildung 4, links: unauffälliger Befund. Abbildung 2: Typisches Zeichen eines Lymphödems: Kastenzehen Abbildung 3: Typische Hautveränderung beim primären Lymphödem: Papillomatose 1 2 3 Palpation Mit der Palpation werden die Dellbarkeit und die Konsistenz der Haut beurteilt. Wenn sich die Cutis z.b. über dem 2. Zehengrundglied nur als über 2 mm breite Falte abheben lässt, liegt ein positives Stemmer sches Zeichen vor; es beweist eine Fibrosklerose und somit ein Lymphödem. Es wird die Druckschmerzhaftigkeit geprüft (spezielle Die Volumenmessung gehört zur Basisdiagnostik von lymphologischen Arm- oder Beinschwellungen, wird aber auch zur Sicherung des Therapieeffekts angewendet. Die drei wichtigsten Methoden zur Volumenbestimmung sind: n Volumenbestimmung mit dem Maßband und die Berechnung des Volumens nach dem Scheibenmodell von Kuhnke, 23 n Volumenverdrängungsmessung durch Eintauchen in eine Flüssigkeit (Plethysmographie), n die optoelektronische Volumenerfassung z.b. mit dem Perometer (Schattenrissmessung in zwei Ebenen) nach Göltner. 18 Diese Methode wird auch vermehrt zur Anmessung von Kompressionsstrümpfen angewendet. Jede der drei Methoden weist Vor- und Nachteile auf ( Tabelle 3). 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [12.13]

Vorteil Nachteil Maßband n billig n überall durchführbar n rasche Kontrolle des Therapieergebnisses n relativ ungenau n zeitaufwendig n umständlich n zunehmender Messfehler mit Volumenrückbildung Abbildung 5: Optoelektronische Volumenmessung mit dem Perometer im Sitzen und im Stehen. Die Schattengrenzen des Beines werden berührungsfrei mittels lichtemittierender Dioden (LEDs) beleuchtet und abgetastet (LED-Scanner). Die Scannereinheit befindet sich im Messrahmen, der berührungsfrei über die Extremität gefahren wird. Die Daten werden auf einen Rechner mit entsprechender Software übertragen. (Bilder: Pero-System GmbH) Plethysmographie n billig n erfasst auch unregelmäßige Armformen n Hand mit erfasst n methodischer Fehler n proximaler Arm nicht erfasst n zeitaufwendig n Hygiene Perometer n schnelle Messung n gute Reproduzierbarkeit n sofortige Dokumentation n teuer n Hand/Fuß nicht erfasst Tabelle 3: Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Methoden zur Messung des Ödemvolumens (nach Weissleder und Brauer) 37 Merksätze: n Inspektion und Palpation des Beinödems sollte am stehenden Patienten erfolgen. n Bei Verdacht auf eine tiefe Venenthrombose sollte der Umfang beider Waden an der dicksten Stelle gemessen werden, um Asymmetrien zu erkennen. n Die Beurteilung der Hautveränderung (z.b. Stemmer sches Zeichen) kann auch im Liegen erfolgen. n Immer auch Beurteilung der Rückseite des Patienten, da hier die Lymphödeme früher auftauchen (dorsaler Oberschenkel, Retromalleolarraum). 1.3 Differenzialdiagnostische Hinweise F.X. Breu, C. Martin Ein bilaterales Ödem wird gewöhnlich durch systemische Ursachen oder eine Veneninsuffizienz verursacht. Kann letztere ausgeschlossen werden, ist nach einer Nieren-, Herz- oder Lebererkrankung zu suchen. Das Lymphödem ist ein eigenständiges, chronisches, zur Progression neigendes Krankheitsbild, bedingt durch eine Transportstörung des Lymphgefäßsystems durch angeborene Fehlentwicklung des Lymphgefäßsystems (primäres Lymphödem) oder durch postnatale Schädigung (sekundäres Lymphödem). Bei Erkrankungen der Venen, z.b. bei chronischer venöser Insuffizienz (CVI) sind immer benachbarte Lymphgefäße gefährdet. Langfristig führt dies wegen der Dauerbelastung der Lymphgefäße zur Dekompensation des epi- und subfascialen Lymphgefäßsystems und im Stadium III der CVI zum Verschluss der initialen Lymphgefäße ( Kapitel 7.2 Lymphgefäßsystem der unteren Extremitäten, S. 162) Bei der Bein- oder Beckenvenenthrombose entwickelt sich das üblicherweise unilaterale Ödem erst allmählich. Die Ödembildung hängt vom Ausmaß und der Lokalisation der Thrombosierung ab. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen symmetrischer und asymmetrischer Beinschwellungen sind in Tabelle 4 und in Tabelle 5 gelistet. 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [14.15]

Diagnose Schmerz Weitere Hinweise n Herzinsuffizienz nein reversibles Stauungsödem, leicht eindrückbar, Belastungsdyspnoe, nächtliche Orthopnoe, Tachykardie n Leberzirrhose nein reversibles Stauungsödem, leicht eindrückbar n Nephrotisches Syndrom nein reversibles Ödem, leicht eindrückbar, Labor: Proteinurie, Hypoproteinämie n Lipödem gelegentlich irreversibles Ödem, teigig und schwer eindrückbar, ( S. 80) druckschmerzhaft supramalleolärer Fettkragen, Füße werden von der Schwellung immer ausgespart n orthostatisches Ödem nein eindrückbares Ödem gewöhnlich am Abend durch langdauernde Steh- oder Sitzbelastung n Arzneimittelneben- nein Unterschenkel-/Knöchelödeme, z.b. Calciumwirkung Kanalblocker Tabelle 4: Symmetrische Beinödeme (bilateral) Differenzialdiagnostische Hinweise Diagnose Schmerz Weitere Hinweise n Chronische venöse möglich Ödem im Frühstadium reversibel, im Spätstadium Insuffizienz teigig und schwer eindrückbar, schwere Beine, ( S. 45) Besserung beim Gehen, Varizen, Corona phlebectatica paraplantaris, Depigmentierung (Atrophie blanche), braune Hyperpigmentation (Purpura jaune d ocre), florides oder vernarbtes Ulcus n tiefe Bein- oder Becken- Beinschmerz Ödem entwickelt sich erst allmählich, Linderung venenthrombose möglich beim Hochlagern des Beines, Thrombosefrühzei- ( S. 21) chen (schmerzhafte Druckpunkte) sind unspezifisch und können fehlen (siehe Tabelle 7, S. 24, S. 25) ansteigende Pulsfrequenz ( Kletterpuls ), subfebrile Temperatur n Thrombophlebitis im Verlauf einer Rötung, tastbarer Strang ( S. 33) oberflächlichen Vene n Lymphödem nein Ödem am Fußrücken und Retromalleolarraum, ( S. 64) Ödem im Frühstadium reversibel, leicht eindrückbar, im Spätstadium irreversibel, teigig und schwer eindrückbar, Faltenbildung im Bereich des oberen Sprunggelenkes, Verdickung der Zehen ( Kastenzehen : ( Abb. 2, S. 12), positives Stemmer sches Hautfaltenzeichen ( Abb. 4, S. 13) n Chronisch- nein irreversibles Ödem bei rheumatischen Erkrankungen, entzündliches Ödem Kollagenosen oder chronischen Hauterkrankungen n Ischämisches Ödem nein arteriosklerotische Erkrankungen, Diabetes mellitus n Erysipel Berührungs- scharf begrenzte, flammende Rötung, Überwärmung, ( S. 39) empfindlichkeit Lymphknotenschwellung, Fieber, Krankheitsgefühl, Leukozyten, BSG, ASL-Titeranstieg erst nach 1-2 Wochen n Arthrose gelenknah Bewegungseinschränkung n Gicht Großzehen- anfallsartige Schwellung von Gelenken grundgelenk n Muskelfaserriss/ plötzlicher ausgeprägtes subfasziales Ödem nach schwerer Muskelkater Wadenschmerz starker körperlicher Anstrengung, CPK n rupturierte Baker-Zyste plötzlicher starke Unterschenkelschwellung, heftige lokale Wadenschmerz Entzündungsreaktion möglich (Gewebsmasse in der Fossa poplitea in der Anamnese) Tabelle 5: Asymmetrische Beinödeme (unilateral oder bilateral) - Differenzialdiagnostische Hinweise 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [16.17]

Abbildung 6: Typische Zeichen eines Lymphödems: Ödeme am Fußrücken und retromalleolär (hier: primäres Lymphödem) Abbildung 7: Typische Zeichen eines Lipödems: supramalleolärer Fettkragen ohne Schwellung des Fußrückens 1 Beurteilungskriterien phlebologischer und lymphologischer Erkrankungen [18.19]

2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen Zu den akuten phlebologischen und lymphologischen Erkrankungen der unteren Extremitäten zählen neben der tiefen Bein- und Beckenvenethrombose ebenfalls Thrombophlebitis und Varikophlebitis sowie Varizenblutung. Ebenfalls gehören dazu die durch Bakterien oder Parasiten hervorgerufenen Entzündungen wie die Lymphangitis, Lymphadenitis oder das Erysipel 2.1 Tiefe Bein-/Beckenvenenthrombose (TVT) F.X. Breu, C. Martin Definition und klinische Problematik Bei einer akuten tiefen Bein- und Beckenvenenthrombose (TVT) auch Phlebothrombose genannt handelt es sich um eine partielle oder vollständige Verlegung der Leitund/oder Muskelvenen durch ein Blutgerinnsel (Thrombus = Blutpfropf), das zum appositionellen Wachstum und zur Embolisation in die Lunge (Thromboembolie) neigt. Eine weitgehende, die Venenklappen erhaltende Auflösung der Thromben erfolgt spontan oder unter Standardtherapie nur ausnahmsweise. Im weiteren Verlauf kommt es teilweise zu einer bindegewebigen Organisation, überwiegend mit Rekanalisation und Zerstörung der Klappen. Die Entwicklung einer chronischen venösen Insuffizienz (CVI) ist relativ häufig. Abbildung 8: Tiefe Beinvenenthrombose links Klinik Eine Blickdiagnose der TVT ist nicht möglich. Der objektive Befund einer TVT ist oft wenig eindrucksvoll (insbesondere bei bettlägrigen Patienten). Eine Umfangdifferenz der Beine, livide Verfärbung im Stehen (Strömungszyanose), 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [20.21]

die Ausbildung von Kollateralvenen, besonders in Leiste und Unterbauch, sowie die so genannten Pratt-Warnvenen über der Tibia werden nur bei ausgeprägten Beinvenethrombosen beobachtet, die hämodynamisch wichtige Abstromabschnitte blockieren. Phlegmasien (Sonderformen der TVT) mit schmerzhaftem, sich rasch entwickelndem Beinödem und stasebedingter Ischämie im Bereich der Mikrozirkulation sind selten: Phlegmasia alba dolens ( Milchbein ) Ein hochgradiges, blasses, schmerzhaftes unilaterales Beinödem bei Oberschenkel- und/oder Beckenvenenthrombose. Phlegmasia rubra dolens Ein plötzliches, schmerzhaftes unilaterales Beinödem mit Rotfärbung der Haut bei ausgedehnter TVT und Periarteriitis, manchmal Übergang in die Phlegmasia coerulea dolens. Phlegmasia coerulea dolens Ein perakutes, hochdramatisches Krankheitsbild mit meist sehr schmerzhaftem (oft nur auf Morphine ansprechendem), anfangs weichem, später holzigem Beinödem mit rotzyanotischer Verfärbung ( phlébite bleue ) infolge fulminanter Gerinnung des Blutes in allen Venen des Beines mit arterieller Minderdurchblutung. Periphere Arterienpulse sind abgeschwächt oder fehlen. Die Hauttemperatur ist leicht erniedrigt oder wegen der Phlebitiden erhöht. Die Krankheit zeigt rasche Progredienz mit Entwicklung eines hypovolämischen Schocks und eines ischämischen Syndroms mit akraler Gangrän ( venöse Gangrän ). Ätiologie Für die Entstehung der Thrombose gilt die Virchow-Trias mit den drei pathogenetischen Mechanismen: Strömungsverlangsamung (Stase), Aktivierung der plasmatischen Gerinnung (Hyperkoagulabilität), Schädigung der Gefäßwand (Endothelläsion). Beckenvenethrombosen treten möglicherweise wegen des Beckenvenensporns häufiger links auf. Die wichtigsten Thromboseauslöser sind Schwangerschaft bzw. Geburt, die Einnahme von oralen Kontrazeptiva oder Östrogentherapie (vor allem in Kombination mit Rauchen - Malignome), Überanstrengung ( thrombose par effort ) und schwere Erkrankung, insbesondere aber Immobilisierung kombiniert mit Operationen und Traumen, oder langes Sitzen (z.b. Reisethrombose). Die Gefahr von Venenthrombosen besteht nicht nur nach Interkontinentalflügen. Auch Autofahrer oder Bus- und Bahnreisende sind gefährdet. Nach den Ergebnissen einer Fall-Kontrollstudie (1999-2002) verdoppelt sich das Risiko bereits ab einer vierstündigen Immobilisierung. 9 Für Menschen mit einer Mutation des Faktor-V war das Risiko um den Faktor 8 erhöht, für Übergewichtige mit einem Bodymass-Index (BMI) von über 30 kg/m 2 um den Faktor 10 und für Frauen, die orale Kontrazeptiva einnahmen, um den Faktor 20. Auch große Menschen (> 1,90 m) und kleine Menschen (< 1,60 m) hatten ein 4- bzw. 5-fach erhöhtes Thromboserisiko. Thrombusbildung Histologisch werden drei Arten von Thromben unterschieden: Der Gerinnungsthrombus (roter Thrombus: Fibrinlamellen mit Erythrozyten und Leukozyten) entsteht durch Blutgerinnung bei zu langsam fließendem Blut bzw. Stase und füllt das Gefäßlumen meist vollständig aus (Gefäßobliteration). Dieser Thrombus haftet der Gefäßwand nur partiell an. Daher können sich Teile dieses Thrombus leicht lösen (Embolus) und über das rechte Herz zu einer Lungenembolie führen (venöse Embolie). 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [22.23]

Der Abscheidungsthrombus (Thrombozyten + Fibrin) entsteht durch Läsion der Gefäßwand und sitzt der Gefäßwand fest an. Der gemischte Thrombus besteht aus einem Kopfteil (Abscheidungsthrombus) und einem Schwanzteil (Gerinnungsthrombus). Abklärung der Diagnose Anamnese n Beginn, Art und Intensität der Symptome? n Risikofaktoren? ( Tabelle 6) Risikofaktoren nach pathogenetischen Gesichtspunkten (Virchowsche Trias) Gefäßwandläsion (Endothelläsion) durch: Frakturen, Traumen (Hämatome, Verstauchungen), Operationen, Geburt, Entzündung Strömungsverlangsamung (Stase) durch: Immobilisierung, Paresen, langes Sitzen (z.b. Operation, Bettlägrigkeit, Reisethrombose), Herzinsuffizienz mit hoher Vorlast durch einen venösen Rückstau, Varizen, chronische venöse Insuffizienz, frühere Thrombosen (inkomplett rekanalisierte Venenlumina, pathologischer Reflux infolge Klappenzerstörung), Schwangerschaft (Behinderung des venösen Rückstroms durch den vergrößerten Uterus, veränderte Hormonsituation) Exsikkose, Adipositas (BMI > 30 kg/m 2 ) Veränderung der Blutzusammensetzung (Hyperkoagulabilität) durch: Thrombozytose, Polyglobulie, Polyzythämie, Hyperfibrinogenämie, Plasminogenmangel, hereditäre/erworbene Thrombophilie: Antithrombinmangel, Protein-C-Mangel, Protein-S-Mangel, APC-Resistenz (Faktor-V-Leiden-Mutation), Prothrombinmutation, Antiphospholipid-Syndrom (Lupusantikoagulanzien, Antikardiolipin-Antikörper), persistierende Faktor-VIII-Erhöhung, u.a. Malignom, Kontrazeptiva, Östrogentherapie, Steroide Tabelle 6: Risikofaktoren für eine tiefe Bein-/Beckenvenenthrombose Klinische Untersuchung ( Tabelle 7a + 7b) Inspektion: Stauungssymptome, Seitendifferenz, Farbe und Temperatur der Haut, Varizen, Kollateralvenen Palpation: Konsistenz der Haut, Dellenbildung, typische Druckschmerz-Punkte, subfasziales Ödem Symptom Tabelle 7a: Klinische Zeichen einer tiefer Bein-/Beckenvenenthrombose (sog. Thrombosefrühzeichen) Eigenname Schmerzen Schmerzen im Bein beim Husten und Pressen Louvel-Zeichen Fußsohlendruckschmerz im Bereich der medialen Plantarmuskulatur, entspricht dem Schmerz, den der Patient spontan beim Auftreten angibt spontaner Fußsohlenschmerz, ohne Druck Plantarüberempfindlichkeit Druckschmerz in der Regio calcaneo-malleolaris / Kulissendruckschmerz Druckschmerz entlang der betroffenen Vene medial der Tibiakante Wadenschmerz bei Dorsalflexion des Fußes Wadenschmerz bei manueller Kompression der Wadenmuskulatur Wadenkompressionsschmerz bei Druck >100 mmhg: langsames Aufpumpen einer Blutdruckmanschette im Bereich beider Waden bis zur Schmerzgrenze. Bei Seitendifferenz > 20 mmhg Verdacht auf TVT in dem Bein mit dem niedrigeren Druckwert Druckschmerz 3-4 cm unterhalb der Kniekehle und in der Kniekehle selbst Schmerzen in der Kniekehle bei Überstreckung Druckschmerz im Bereich des Adduktorenkanals Leistenschmerz Payr-Zeichen Deneke-Zeichen Rössle-Zeichen Bisgaard-Zeichen Meyer-Druckpunkte Hohmans-Zeichen Ducuing-Zeichen Lowenberg-May Test Pratt-Zeichen Sigg-Zeichen Rielander-Zeichen 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [24.25]

Symptom lokale Schwellung Umfangdifferenz der Wade Hautveränderung Schwere in den Beinen (meist einseitig), Spannungsgefühl, verstrichene Gelenkkonturen, gesteigerter Gewebeturgor (Frühsymptome), eindrückbares Ödem am symptomatischen Bein (Spätsymptom); CAVE: rasche Extremitätenschwellung bei Phlegmasia coerulea dolens! Unterschenkelschwellung > 3 cm gegenüber Gegenseite einseitige leichte Zyanose im Stehen Überwärmung, evtl. Glanzhaut Eigenname Hautvenendilatation prall gefüllte subkutane Venen über der Tibia nach lateral Prattsche Warnunten verlaufend venen Kollateralvenen oberflächliche Leiste, Schamgegend (oft in der Schambehaarung versteckt!), Unterbauch Herzfrequenz Pulsanstieg bei zunächst normaler bis subfebriler Körper- Mahler-Zeichen temperatur; im fortgeschrittenen Stadium bis 38 C und oft überproportionaler Pulsanstieg ( Kletterpuls ); CAVE: Lungenembolie! Fußpuls normal oder fehlend normal (außer bei starkem Ödem oder zusätzlicher arterieller Verschlusskrankheit); CAVE: pulslose Extremitätenschwellung bei Phlegmasia coerulea dolens! Tabelle 7b: Klinische Zeichen einer tiefer Bein-/Beckenvenenthrombose (sog. Thrombosefrühzeichen) Bestimmung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer TVT ( Tabelle 8) Mittels Anamnese und körperlicher Untersuchung kann eine TVT nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Eine große Bedeutung kommt heute der Bestimmung der klinischen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer TVT mittels Scores zu, die anamnestische Angaben und klinische Befunde berücksichtigen (z.b. Score nach Wells et al., siehe Tabelle 8). Daraus ergibt sich eine Graduierung in zwei Kategorien für die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer TVT (hohe und nicht hohe Wahrscheinlichkeit). Kriterium Score aktive Krebserkrankung 1 Lähmung oder kürzliche Immobilisation der Beine 1 Bettruhe (> 3 Tage); große Chirurgie (< 12 Wochen) 1 Schmerz/Verhärtung entlang der tiefen Venen 1 Schwellung ganzes Bein 1 Unterschenkelschwellung > 3 cm gegenüber Gegenseite 1 eindrückbares Ödem am symptomatischen Bein 1 Kollateralvenen 1 früher dokumentierte TVT 1 alternative Diagnose mindestens ebenso wahrscheinlich wie TVT -2 Score 2: Wahrscheinlichkeit für TVT hoch Score < 2: Wahrscheinlichkeit für TVT nicht hoch TVT= tiefe Venenthrombose Tabelle 8: Bestimmung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer tiefen Bein-/Beckenvenenthrombose nach Wells et al. 2003 39 Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf TVT ( Abbildung 9) Für den eindeutigen Ausschluss bzw. Nachweis einer TVT sind weitere Untersuchungen notwendig. Ihr Einsatz erfolgt je nach Einstufung der klinischen Wahrscheinlichkeit. Falls klinische Wahrscheinlichkeit für TVT nicht hoch: n D-Dimer-Test ( Kapitel 4.1.1, S. 85) Falls klinische Wahrscheinlichkeit für TVT hoch: n Kompressionssonographie kombiniert mit Farbduplexsonographie der Bein- und Beckenvenen ( Kapitel 4.2.2, S. 87 und Kapitel 4.2.3, S. 88) n Phlebographie ( Kapitel 4.2.4, S. 89) 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [26.27]

antikoagulieren Sonographie der Beinvenen positiv nicht eindeutig Verdacht auf TVT klinische Wahrscheinlichkeit hoch negativ Kontrollsonographie oder Phlebographie antikoagulieren positiv negativ nicht hoch D-Dimer positiv negativ nicht antikoagulieren nicht antikoagulieren nicht antikoagulieren Abbildung 9: Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf tiefe Venenthrombose (TVT) 12 Zusatzdiagnostik n Bei Verdacht auf proximale TVT: n Magnetresonanz- und Computertomographie- Phlebographie ( Kapitel 4.2.5, S. 89) n Wenn TVT-Diagnose wahrscheinlich ist (vor Antikoagulation): Vitalparameter, Blutbild, BSG, Leukozyten, GOT, GPT, Gamma-GT, Kreatinin, Gerinnungsparameter. n Besonders bei idiopathischer TVT: - Malignom-Screening - Thrombophilie-Screening ( Kapitel 4.1.2, S. 85, Tabelle 17, S. 86) Merksätze: n Viele tiefen Beinvenenthrombosen (TVT) verlaufen klinisch oligo- oder asymptomatisch, insbesondere bei bettlägrigen Patienten. Ein unauffälliger klinischer Befund schließt eine TVT nicht aus! n Gelegentlich sind rezidivierender Thoraxschmerz und/oder Dyspnoe durch Lungenembolie einzige Symptome bei fehlenden Beinbeschwerden! n Mittels Anamnese und körperlicher Untersuchung kann eine TVT nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. n Verdächtig sind unklare subfebrile Temperatur, BSG- Erhöhung, Leukozytose, vor allem wenn postoperativ, posttraumatisch oder im Wochenbett persistierend. Treppenförmiges Ansteigen des Pulses ( Kletterpuls ) bei gleichbleibender Temperatur können ein Frühzeichen der Thrombose oder der Lungenembolie sein (Mahler-Zeichen). n Der diagnostische Prozess sollte mit einer Einschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit beginnen. n Bei niedriger klinischen Wahrscheinlichkeit und einem negativem D-Dimer-Test lässt sich eine TVT mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen. n Bei hoher klinischer Wahrscheinlichkeit für eine TVT ist die Kompressions- und Duplex-Sonographie die wesentliche Standarduntersuchung. n Spezielle Untersuchungen sind bei idiopathischer TVT zu empfehlen (Malignom-Screening, Thrombophilie- Screening). Differenzialdiagnosen Die wichtigsten Differenzialdiagnosen der TVT sind in Tabelle 9 zusammengefasst. 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [28.29]

Wichtigste Differenzialdiagnosen der TVT n Hämatom (sichelförmige Verfärbung hinter dem Innenknöchel) n posttraumatische Schwellung n Muskelriss, Muskel- und/oder Bänderzerrung n Baker-Zyste (Ultraschall der Kniekehle!) n Postthrombotisches Syndrom, Lipodermatosklerose n Hypodermitis n Phlebitis superficialis, Vaskulitis n Erysipel ( S. 39) n Lymphangitis ( S. 38) n Acrodermatitis chronica atrophicans (ödematöses, präatrophisches Stadium bei Borreliose) n Lymphödem ( S. 64) n Lipödem ( S. 80) n Selbststauartefakte n kardiale, nephrogene, dysproteinämische Ödeme n Kompartmentsyndrom n Medikamentennebenwirkung (Diuretika, Laxantien, Lipidsenker, Antihypertonika, u.a.) n Thrombophobie (Thromboseangst, vorwiegend bei Patienten mit Thromboseerfahrung) Tabelle 9: Differenzialdiagnosen der tiefen Beinvenenthrombose 30 Therapie Die Therapie der Venenthrombose hat zum Ziel, eine Lungenembolie und das postthrombotische Syndrom zu verhindern. Die Therapie kann auch ambulant von erfahrenen niedergelassenen Ärzten korrekt durchgeführt werden. n Heparinbehandlung Die therapeutische Antikoagulation muss sofort begonnen werden, um die bestmögliche Reduktion des Lungenembolierisikos zu erreichen (auch bei schwangeren Patientinnen und Tumorpatienten). Die initiale Antikoagulation erfolgt üblicherweise subkutan mit niedermolekularem Heparin. n Sekundärprophylaxe mit Vitamin-K-Antagonisten Die orale Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten (z.b. Marcumar) wird in der Regel am ersten oder zweiten Tag begonnen (überlappend mit Heparin über mindestens vier bis fünf Tage) mit dem International Normalized Ratio (INR) Zielwert 2,0 bis 3,0. Bei den meisten Patienten genügt die derzeit übliche sechs- bis zwölfmonatige orale Antikoagulation zur Rezidiv- Prophylaxe. Etwa ein Drittel der Patienten mit TVT erleidet jedoch ein Rezidiv in den nächsten fünf bis acht Jahren. In einer Studie an 914 Patienten mit spontaner Thromboembolie wurde bei den 100 Patienten mit Rezidiv ein signifikant erhöhter Thrombin-Wert im Vergleich zu den rezidivfreien Patienten nachgewiesen (bei einem Thrombin-Wert von über 400nM betrug das Rezidivrisiko 20 Prozent). 21 Die optimale Dauer einer Langzeittherapie mit Vitamin K-Antagonisten ist nicht bekannt. Prospektive klinische Studien haben gezeigt, dass der D-Dimer Spiegel des Patienten nach Absetzen der oralen Antikoagulation einen hohen Vorhersagewert für das Auftreten einer erneuten Venenthrombose besitzt. So erleiden Patienten mit einem erhöhten D-Dimer Spiegel signifikant weniger Rezidive, wenn die Therapie mit Vitamin K-Antagonisten weitergeführt wird. 27 n Kompressionstherapie und Gehübungen Die Kompressionstherapie (Kompressionsverband oder Unterschenkelkompressionsstrumpf der Klasse II) reduziert die Inzidenz und die Schwere des postthrombotischen Syndroms. Sie sollte so früh wie möglich begonnen werden, kombiniert mit kontrolliertem Gehen (3x täglich 20-30 Minuten bewusst spazieren gehen). Die Immobilisierung des Patienten mit einer TVT jedweder Lokalisation ist nicht indiziert, es sei denn zur Linderung der Beschwerden bei stark schmerzhafter Beinschwellung. 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [30.31]

n Lysetherapie Eine frühzeitige Lyse kann die Entstehung des postthrombotischen Syndroms verhindern (Wiederherstellung der venösen Strombahn ohne Schädigung der Venenklappen). Die Dauer der Lyse ist vom Präparat abhängig (z.b. Streptokinase maximal 5 Tage). Die Indikationsstellung muss kritisch unter sehr strenger Beachtung der Kontraindikationen und der teilweise lebensbedrohenden Komplikationen erfolgen (intrazerebrale Blutungen). Eine Lysetherapie ist zu diskutieren bei jungen Patienten (Alter < 45 Jahre), frischer Thrombose (höchstens 3 Tage alt) und ausgedehnten proximalen Thrombosen. n Thrombektomie Die operative Thrombusentfernung ist nicht Therapie der ersten Wahl. Sie ist indiziert bei sehr ausgeprägten proximalen Thrombosen und bei der Phlegmasia coerulea dolens mit Gefährdung der Extremität. n Cavafilter Die Implantation eines Cavafilters kann nach sorgfältiger Abwägung in Einzelfällen indiziert sein (z.b. Kontraindikation gegen Antikoagulation oder rezidivierende Lungenembolie trotz Antikoagulation), sollte aber wegen der möglichen Langzeitfolgen zeitlich stark begrenzt bleiben (z.b. Cavathrombose, Rezidiv einer Lungenembolie). n Die Bestimmung des Dimer-Spiegels im Blut vier bis fünf Wochen nach Ende der Koagulation klärt das Rezidiv-Risiko (erhöhter D-Dimer-Spiegel bedeutet erhöhte Rezidiv-Gefahr; d.h. Fortsetzung der Antikoagulation erforderlich). 2.2 Thrombophlebitis, Varikophlebitis F.X. Breu, C. Martin Definition und klinische Problematik Bei einer Thrombosierung epifaszialer Venen handelt es sich um eine Gerinnselbildung (Thrombus) in einer oberflächlichen Vene mit lokalen Entzündungszeichen. Für dieses Krankheitsbild, das häufiger bei Vorhandensein von Varizen entsteht (Krampfaderentzündung) werden die Begriffe Varikothrombose, Varikophlebitis oder Thrombophlebitis superficialis verwendet. Davon abzugrenzen ist die Phlebitis superficialis (migrans oder saltans), bei der die Gefäßentzündung im Vordergrund steht. Abbildung 10: Phlebitis der Vena saphena magna Komplikationen n Lungenembolie (akute Dyspnoe, plötzlicher Thoraxschmerz und Synkope, Tachypnoe, Zyanose) n Postthrombotisches Syndrom (Kapitel 3.1.1.2, S. 51) n Chronische venöse Insuffizienz (Kapitel 3.1, S. 45) Merksätze: n Wegen der Gefahr der Lungenembolie Heparintherapie schon bei Verdacht beginnen. Klinik (Blickdiagnose) Die Leitsymptomatik der Varikothrombose umfasst die klassischen Entzündungszeichen Tumor, Dolor, Rubor und Calor: Die betroffene Vene schmerzt, die Umgebung ist 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [32.33]

gerötet, heiß und geschwollen, eine Resistenz ist tastbar. Die Schmerzen verringern sich gewöhnlich innerhalb einer Woche. Die Entzündung klingt nach zwei bis sechs Wochen ab, die thrombosierte Vene kann aber noch monatelang Symptome verursachen. Ätiologie Die Hauptursache der Varikothrombose ist eine lokale Stase. Sie betrifft Patienten mit Varikose, chronisch-venöser Insuffizienz oder einem postthrombotischen Syndrom. Die Phlebitis superficialis des Beines dagegen betrifft Patienten ohne ausgeprägte Venenerkrankung. Sie tritt auf nach intravenösen Injektionen, Intimaverletzung durch Traumen, nach Infektionen durch Bakterien (z.b. nach Drogeninjektion), Viren oder Parasiten und bei Systemerkrankung (Paraneoplasie, Gerinnungsstörungen, Kollagenosen, z.b. bei der Behçet-Krankheit und der Winiwater-Buerger-Krankheit =Thrombangiitis obliterans). Abklärung der Diagnose Die Diagnostik muss darauf gerichtet sein herauszufinden, ob der entzündliche oder der thrombotische Prozess im Vordergrund steht. Bei einer Varikothrombose in der Gegend der Vena saphena parva (Wade) oder ab der Mitte des Oberschenkels nach poximal muss die Beteiligung der tiefen Venen abgeklärt werden (aszendierende Varikothrombose). Differenzialdiagnosen n Tiefe Venenthrombose ( Kapitel 2.1, S. 21) n Lymphangitis ( Kapitel 2.4.1, S. 38) n Erysipel ( Kapitel 2.4.3, S. 39) n Insektenstichreaktion n Hypodermitis Therapie Die Behandlung ist lokal und Symptomorientiert. Bei aszendierender Phlebitis ist die Gabe von niedermolekularem Heparin (NMH) in prophylaktischer oder therapeutischer Dosierung nötig. n Kompressionsbehandlung Die Basisbehandlung der Varikothrombose aber auch der Phlebitis superficialis besteht in einer exakten Kompressionstherapie (auch nachts), was zu einer prompten Schmerzlinderung führt. Der Kompressionsdruck kann evtl. durch Druckpolster erhöht werden. n Lokaltherapie Heparinhaltige Salben und lokale Kälteapplikation (z.b. Kryopack auf den Verband legen). n Häufiges Gehen Mindestens 3-mal täglich eine halbe Stunde gehen; in Ruhe das Bein hochlagern. n Schmerzmittel bei Bedarf n Stichinzision In allen dazu geeigneten Fällen soll die Varikothrombose durch eine Stichinzision mit dem Skalpell nach vorheriger Lokalanästhesie (Chlorethyl) entfernt werden. Die Schmerzen lassen dann schlagartig nach. Durch diese Maßnahme werden große Teile des Thrombus und damit die Ursache für das weitere Wachstum der Varikothrombose eliminiert. n Antikoagulation Bei einer ausgedehnten Varikothrombose, einer Aszension und Mitbeteiligung des tiefen Venensystems, ist eine Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin und überlappend mit oralen Antikoagulantien zu empfehlen. n Krossektomie/Varizenoperation ( Kapitel 5.2.3.1, S. 138) Eine Varizensanierung nach Abklingen der akuten Symptome ist mit dem Patienten zu besprechen. Bei 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [34.35]

Abbildung 11: Varikophlebitis Anamnese (46 Jahre, 70 kg/kg): n Seit 3 Tagen Schmerzen und Schwellung einer varikösen V. saphena magna li. n Varikose seit über 10 Jahren. Beginn der starken Schmerzen am Tag des Rückfluges aus dem Urlaub (Flugdauer über 20 Stunden). Schon im Urlaub leicht ziehende Schmerzen im Varizenbereich n Keine Thromboembolien in der Eigen- und Familienanamnese n Familiäre Varikosebelastung einer Krossenthrombose ist die notfallmäßige Operation zu erwägen. Die orale Antikoagulation und die Kompressionsbehandlung werden im Allgemeinen 4-6 Wochen durchgeführt. Bei einer Phlebitis superficialis im Rahmen einer Grunderkrankung muss nach dieser entsprechend gesucht werden. Komplikationen n Tiefe Beinvenenthrombose n Lungenembolie Merksätze: n Die Behandlung der oberflächlichen Venenthrombose ist Symptomorientiert. n Eine tiefe Venenthrombose kann zeitgleich mit der oberflächlichen Venenthrombose auftreten oder auch verzögert (Tage bis Wochen nach der Diagnose einer oberflächlichen Venenthrombose). n Der D-Dimer-Test eignet sich nicht für die Differenzialdiagnose zwischen einer oberflächlichen und einer tiefen Thrombosierung. 2.3 Varizenblutung F.X. Breu, C. Martin Klinik und Ätiologie Gerade bei ausgeprägten Varizen können schon kleinste Verletzungen (z.b. bei der Gartenarbeit) zu mitunter starken Blutungen führen. Therapie Steriler Druckverband und Hochlagerung des betroffenen Beines. Evtl. Operation oder Sklerosierung. Komplikation In seltenen Fällen kommt es zu einem starken Blutverlust, der eine Bluttransfusion notwendig macht. 2.4 Lymphödem durch Entzündung Ch. Schuchhardt Die Entwicklung chronischer Lymphödeme durch infektiös entzündliche Prozesse ist in den gemäßigten Zonen eher selten. Weltweit gesehen stellt jedoch die tropische Filariasis die häufigste Ursache aller infektiös bedingten, sekundären Lymphödeme dar. Der Zusammenhang zwischen chronischen Lymphödemen und bakteriellen Hautinfekten oder Infekten der abführenden Lymphgefäße ist eindeutig. So stellt die Erysipelinfektion (Wundrose) die häufigste Komplikation chronischer Lymphödeme dar. Weniger bekannt ist, welche Erkrankung als primär ursächlich für welche Komplikation zu gelten hat: Primär chronisches Lymphödem mit Entwicklung der Komplikation Erysipelinfekt oder primär Erysipelinfekt mit Entwicklung chronischer Lymphödeme. 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [36.37]

Aus lymphologischer Sicht ist in der Regel eine latente Vorschädigung des Lymphgefäßsystems, welche sich klinisch noch nicht als Lymphödem manifestiert hat, verantwortlich für zahlreiche Erysipelinfekte oder Lymphangitiden. Ohne Vorschädigung des Lymphgefäßsystems (Anlagestörung) im Sinne eines primären Lymphödems, oder eines drohenden Lymphödems nach z.b. Axillarevision, führt ein einmaliger Erysipelinfekt nicht zu einem chronischen Lymphödem. Erst wenn mehrfach bakterielle Hautinfekte aufgetreten sind, z.b. bei immer wieder auftretenden Verletzungen mit Infektionen oder z.b. bei chronischen Hautekzemen mit immer wieder auftretenden bakteriellen Infekten, ist die Diagnose Sekundärkomplikation chronisches Lymphödem zu akzeptieren. 2.4.3 Erysipel (Wundrose) Definition Das Erysipel ist eine akute entzündliche, auf die Subkutis übergreifende Infektion des Koriums, in der Regel verursacht durch beta-hämolysierende Streptokokken (Streptococcus pyogenes der Serogruppe A), gelegentlich auch durch Staphylokokken. Eintrittspforten sind kleine Hautläsionen (häufig Tinea pedum). 2.4.1 Lymphangitis Unter Lymphangitis versteht man eine bakterielle Infektion von Lymphkollektoren in der Regel an Arm oder Bein. Meist ist eine Eintrittspforte mit peripherem Hautinfekt festzustellen. Klinisch zeigt sich ein schmaler, druckschmerzhafter, geröteter, etwas derberer Strang vom Ort der Infektion bis zum jeweiligen regionären Lymphknoten. Dieser ist meist vergrößert, druckschmerzhaft und überwärmt tastbar (Lymphadenitis). 2.4.2 Lymphadenitis Unter Lymphadenitis versteht man eine durch Bakterien oder Parasiten verursachte Entzündung des Lymphknotens. Die früher häufigste Lymphadenitis war tuberkulosebedingt, bei Abszedierungen kam es gelegentlich zur Einschmelzung des Lymphknotens (tuberkulotisches Skrofulose). Lymphadenitiden sind sicher häufiger als Lymphangitiden. Häufig sind auch virale Infekte mit im Spiel. Klinik Die Krankheit beginnt subakut aus vollem Wohlbefinden heraus mit Schüttelfrost gefolgt von hohem Fieber, zuweilen verbunden Kopfschmerzen und Übelkeit/Erbrechen. Der Patient fühlt sich schwer krank. Klinisch imponieren flächige, gerötete, überwärmte, schmerzhafte Hautbezirke, mal komplett im Hautniveau, gelegentlich auch das Niveau leicht überschreitend (Erisipela rubeosum). In schweren Fällen kommt es zu Gewebsuntergängen in Form von Blasen (Erysipela bullosum) oder Nekrosen (Erysipela gangraenosum). Eine Abbildung 12: Erysipel: scharf begrenzte, flammende Rötung, die sich von der oberflächlichen Wunde (Eintrittspforte der Krankheitserreger) flächenhaft ausbreitet. 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [38.39]

lebensgefährliche Komplikation stellt die Fasciitis necroticans dar, welche die katastrophalste Komplikation eines Erysipela bullosums mit jetzt Erreichen auch der tiefen Hautschichten bis zur Fascie darstellt. Diagnose Klinische Symptome Labor: BSG, CRP, Leukozyten ; ASL-Titer kann positiv sein Abbildung 13: Erysipela bullosum Differenzialdiagnosen Thrombophlebitis, Beinvenenthrombose, akutes Ekzem (Bläschen, Schuppung), Lymphangitis, Lymphangiosis carcinomatosa. Ätiologie Diese flächige bakterielle Hautinfektion ist die häufigste Komplikation chronischer Lymphödeme. Die sekundären Gewebsveränderungen der Haut und auch des Unterhautgewebes bei chronischer Lymphostase begünstigen das Eindringen der immer auf der Haut angesiedelten Bakterien. Da zusätzlich die chronische Lymphostase zu einer schlechteren Drainage des Interstitiums führt, können sich diese eingedrungenen Bakterien rasch unkontrolliert vermehren. Über die dilatierten initialen Lymphgefäße der Haut breiten sich die Bakterien blitzschnell innerhalb von Stunden über großflächige Hautareale aus. Therapie n Hochlagerung und Kühlung (feuchte Umschläge) der betroffenen Extremität n Penicillin (systemisch oder oral) über 10 Tage; bei Penicillin-Allergie: Erythromycin, neuere Makrolid- Antibiotika oder Clindamycin n Erysipelprophylaxe: Hautpflege, Vermeidung von Bagatellverletzungen an der betroffenen Extremität, Sanierung interdigitaler Mykosen, bei Lymphödem zusätzlich Kompressionstherapie Bei einem dritten Rezidiv innerhalb von neun Monaten: antibiotische Langzeittherapie Kontraindikation Während der Entzündung keine manuelle Lymphdrainage in dem betroffenen Bezirk! Komplikationen n Zunahme des Lymphödems bei chronisch-rezidivierendem Verlauf n Fasciitis necroticans bei schwerer Verlaufsform des Erysipels: Lebensgefahr durch raschen Muskelzerfall binnen Stunden bis Tagen (sofort breite chirurgische Eröffnung, Ruhigstellung, offene Wundbehandlung, hochdosierte parenterale Antibiotikatherapie) 2 Akute phlebologische und lymphologische Erkrankungen [40.41]