Christiane zu Salm WEITERLEBEN

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Transkript:

Christiane zu Salm WEITERLEBEN

Christiane zu Salm WEITERLEBEN Nach dem Verlust eines geliebten Menschen

Originalausgabe Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich. Verlagsgruppe Random House FSC N001967 1. Auflage Copyright der Originalausgabe 2016 by Christiane zu Salm Copyright dieser Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Hermann Hülsenberg Studio, Berlin Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-31382-2 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Nur Lie be und Tod än dern alle Din ge. Khalil Gibran

Dem Nicht-Verstehenmüssen gewidmet

Aufstehen und Weiterleben Was fühlt ein Mensch, wenn er ei nen ge lieb ten Men schen ver liert? Was geht in ihm vor, wenn von heu te auf morgen sein Part ner, sein Kind, sei ne El tern oder Ge schwis ter sterben, ein geliebter Familienangehöriger plötzlich nicht mehr da ist? Wie kann er da nach über haupt weit er le ben? Der Tod ei nes ge lieb ten Men schen ver än dert das eige ne Le ben für im mer. Nicht nur das ei ge ne, son dern auch das von gan zen Fa mi li en. Als ich sechs Jah re alt war, starb mein klei ner Bru der vor mei nen Au gen. Es war bei uns zu Hau se, und es war ein Un fall. Ich weiß noch heu te, über vier zig Jah re da nach, wie das Wet ter war, erin ne re, dass ich ein blau-weiß ge streif tes Som mer kleid trug, sehe die rote Far be mei ner Schu he vor mir und die lan gen Zöp fe, die mei ne Mut ter mir an je nem Sonntag mor gen ge floch ten hat te. Ich habe die ver stei ner ten Ge sich ter mei ner El tern vor Au gen, glas klar, bis heu te. Die ses trau ri ge Er eig nis hat das Le ben un se rer ge sam ten Fa mi lie für im mer ver än dert. Tod und Trauer beschäftigen mich seither. Vor einigen Jahren machte ich eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin 9

in ei nem Ber li ner Hos piz. Ich lern te, wie für Men schen, die um ihr bal di ges Ster ben wis sen, am Ende noch ein würdi ger Raum ent ste hen kann, zu sich sel ber zu fin den, mit sich ins Reine zu kommen. Viele Sterbende erzählten mir, wie sie ihr Le ben im Rück blick be trach te ten. Jede ein zel ne Lebensgeschichte hat mich tief berührt. Darüber habe ich mein erstes Buch geschrieben. Bei mei ner Hos piz-ar beit bin ich auch mit vie len Angehörigen ins Gespräch gekommen. Zu manchen habe ich noch Jah re nach dem Ver lust ih rer ge lieb ten Frau, ihres Kin des, des Va ters oder des Bru ders Kon takt. Wie haben sie es ge schafft, sich dem Le ben wie der zu öff nen? Wie ha ben sie nach oft lan gen Jah ren der Trau er dem Leben wieder etwas Positives abgewinnen können? Darum geht es in diesem Buch. Hinterbliebene haben mir er zählt, wie sie ei nen oder so gar meh re re gro ße Verlus te ver schmerzt ha ben. Wie sie zu nächst un ter Schock stan den, dann trau er ten, und ir gend wann mit dem Weiterleben begonnen haben. So, wie je der Mensch an ders liebt, trau ert je der an ders. Je der Ver lust ist ein an de rer und mit kei nem wei te ren vergleich bar. Es gibt auch kei nen leich te ren oder schwe re ren Schick sals schlag, selbst wenn das von au ßen manch mal so erscheinen mag. Was hilft es ei nem schon, wenn es heißt:»es war besser so für ihn«? Ein Ver lust wiegt ge nauso schwer, wie er von dem trau ern den Men schen emp fun den wird. Ganz gleich, ob El tern ihr Kind ver lo ren oder die Ehe frau ih- 10

ren geliebten Ehemann. Während aller Gespräche habe ich ge spürt: Man kann sei ne See le nicht vor dem Ge fühl der Trau er schüt zen. Ich kann mir kei ne grö ße re emoti o na le Wucht im Le ben vor stel len als die, mit der der Mensch im Ver lust ei nes ge lieb ten Men schen auf sich selber zurückgeworfen wird. Auch kann man sich auf Trau er nicht vor be rei ten. (Vielleicht können es einige buddhistische Mönche, denen es auch ge lingt, sich angst frei auf das Ster ben vorzu be rei ten, aber sie sind eine Aus nah me.) Es gibt kei nen Maß stab, kei nen Deal, kei ne Ver mitt lung, kei nen Pakt, kein Ende, auf das man hin lei den könn te. Trau er fühlt sich so tief, weit und bo den los an wie ein un end li ches Meer. Kein Land in Sicht, kei ne Zu kunft. Des we gen haben die al ler meis ten Men schen auch Angst vor die sem Gefühl. Ich gehöre sicher dazu. Ge ra de in der Zeit, in der wir le ben, fin det die Trau er keinen angemessenen Platz. Trauern steht für Unglück, und das ent spricht nicht dem Zeit geist: Al les For schen, Den ken und Han deln ist auf das im mer bes se re, glück lichere Leben ausgerichtet. Auf das Wachsen und das Werden, auf das Sein und auf den Er halt des Seins. Irgendwann auf den vielen Fortschrittswegen, die wir alle täg lich ge hen, ha ben wir aber ver lernt, ver ge hen zu kön nen. Und noch viel we ni ger kön nen wir die ses Ver gehenmüssen bewusst akzeptieren. Als Gesellschaft tun wir vielmehr alles dafür, dem Vergehen zu entgehen. Immer wie der. Wir tun un ser Mög lichs tes, den Tod zu ver hin- 11

dern, und we nig, ihn als et was eben so Na tür li ches wie das Leben anzunehmen. Ge nau das aber ist un se re Auf ga be, wenn wir ei nen ge lieb ten Men schen ver lie ren. Und die se Auf ga be ist sehr groß. Viel leicht ge hört sie so gar zu den größ ten und wich tigs ten Auf ga ben, die das Le ben an uns stellt. Denn es geht um nichts Ge rin ge res als um das Los las sen können. Wer je mals ei nen an de ren Men schen ge liebt hat, dem wird das Le ben die se Auf ga be stel len, frü her oder spä ter. Und zwar, be vor er sel ber stirbt. Es gibt also kein Entkommen. Des we gen bin ich den Men schen, die mir für die ses Buch von ihrer Verlusterfahrung erzählt haben, äußerst dankbar: für ih ren Mut, über das trau rigs te, schmerz haf tes te Kapitel ihres Lebens zu sprechen. Für ihre Bereitschaft, längst oder auch nur ge ra de eben ge heil te Wun den wieder auf rei ßen zu las sen durch das Spre chen über ihren Schmerz. Ganz gleich, ob der Ver lust zehn, vier zig oder nur zwei Jah re her ist. Ohne ih ren Mut, sich ih rem Schmerz er neut durch das Er zäh len zu stel len, gäbe es die ses Buch nicht. Vie le ha ben dies vor al lem ge tan, um an de ren, die ihre Ge schich te le sen, Mut zum Wei ter leben zu ma chen nach dem auch sie je man den ver lo ren ha ben oder noch ver lie ren wer den. Fast alle er leb ten es als heil sa men, wenn auch harten Prozess, ihre Verlustgeschichte in Worte zu fas sen und sich das ei gent lich Un sag ba re von der See le zu re den. Ei ni ge, die ich frag te, konn ten ein fach nicht da rü- 12

ber spre chen, weil es noch oder wie der zu schmerz haft ge we sen wäre. Auch ih nen möch te ich dan ken, da für, dass sie sich ge nau das be wusst ge macht ha ben. Wie schwer es ist, über den Tod ei nes ge lieb ten Menschen in ner halb der Fa mi lie zu spre chen, ist für mich eine er schüt tern de Er kennt nis. To ta le Sprach lo sig keit. Jahr zehn te lang, manch mal für im mer. Schock star re der See le. Zu groß ist für vie le Men schen der Tod, um ihn zu be grei fen. Zu groß der Schmerz, um Wor te zu fin den. Um da rü ber zu re den. Da rü ber, was die ser Ver lust mit der hinterbliebenen Mutter, dem hinterbliebenen Ehemann, den zu rück ge las senen Ge schwis tern und auch Freun den macht. Was sie füh len, wel che Ge dan ken ihnen kommen, was dieses Nichtmehrdasein eines Menschen für sie be deu tet. Da rü ber, wie sehr er oder sie fehlen. Über mögliche Schuldgefühle. Wie verzweifelt man ist. Wie we nig man es noch ge schafft hat, die sen Ver lust anzunehmen. Wie schwer es ist, morgens aufzustehen und weiterzuleben. Nicht-Spre chen hat lei der oft wei te res Un glück zur Folge. Vielleicht zerbräche manche Familie nicht, könnten ihre Mit glie der mit ei nan der re den über das, was am meis ten weh tut. Mich be rührt zu tiefst, wie die Er zäh len den in die sem Buch es ver mocht ha ben, nach dem Ver lust ei nes oder meh re rer wich ti ger, na he ste hen der Men schen Kraft zum Wei terleben zu schöp fen. Wie sie nach für mich un vor stell ba ren 13

Tra gö di en, die vie le er lebt ha ben, Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückfanden. Denn während die Außenwelt schon kurz nach dem Be gräb nis zur Ta ges ord nung über geht, bleibt die In nen welt der Hin ter blie benen für immer verändert, bis zu ihrem eigenen Tod. Die Erzählenden haben sich Hilfe von Psychologen geholt, haben Halt im Glau ben ge fun den, auch in der Ar beit, ha ben Fami li en zu sam men halt er fah ren, oder sie ha ben ein Kind adoptiert. Sie haben es irgendwann geschafft, den Verlust als Teil ih res Le bens zu ak zep tie ren und auch zu in teg rieren. Selbst wenn das be deu te te, dass das be ste hen de Familiensystem zusammenbrach und sich ein neues zusammenfügte. Dass nach dem Tod eines gemeinsamen Kindes die Ehe auseinanderbrach oder, im Gegenteil, dieser Verlust ein Paar umso mehr zu sam men schweiß te. Sie ha ben sich helfen lassen von Freunden, Verwandten, Therapeuten oder Seelsorgern. Aus al len Le bens ge schich ten er fah ren wir, dass der Schmerz über den Ver lust eine trans for ma ti ve Kraft hat oder sel ber ist: durch das Lei den und die Trau er sind die Er zäh len den zu an de ren Men schen ge wor den. Zu stär ke ren, ein fühl sa me ren und acht sa me ren Men schen. Der Ver lust lehrt ei nen, das We sent li che in si ch sel ber zu se hen. Das ist für mich die gro ße und wich ti ge Bot schaft dieses Bu ches: dass es mög lich ist, nach ei ner ge wis sen Zeit, wie lan ge sie auch im mer dau ert, ei nen ge lieb ten Men- 14

schen los zu las sen. Dass man es schaffen kann, sich ir gendwann wie der dem Le ben zu öff nen, ei nem neu en Le ben. Dass der Sinn des Le bens nicht in der im mer wäh ren den Trau er lie gen kann. Son dern ir gend wo im Le ben. Im Weiterleben. 15

Andrea Gunthert Es gibt kei nen Tag, an dem ich nicht da ran den ke Ich habe be gon nen, Ju li an zu ver lie ren, nicht, als er starb, son dern, als ich ihn auf die Welt brach te. Das war die Zeit des Ver lus tes, und es war die al ler schlimms te Zeit meines Le bens. Denn mir war von der ers ten Se kun de an klar, was da Schreck li ches auf uns zu kommt. Das habe ich sofort gewusst. Es war eine ganz nor ma le Schwan ger schaft, aber ich bin ja so ein Or gani sat i ons- und Kon troll- und Si cherheits fa na ti ker, also habe ich jede Art von Vor sor ge gemacht, die der Mensch nur ma chen kann. Ich war auch nicht mehr die Jüngs te, schon Mit te drei ßig. Es war mein ers tes Kind. Da habe ich ein fach alle Vor sor ge un ter suchungen mitgemacht. Drei Wo chen vor dem er rech ne ten Ge burts ter min wach te ich mor gens auf und be kam den Ein druck, dass da et was nicht stimm te. Auch wenn es mei ne ers te Schwangerschaft war und ich keine Gynäkologin bin, sondern Haut ärz tin, aber hier stimm te et was nicht. Die Kinds bewegungen hatten stark nachgelassen. Daraufhin bin ich so fort in die Kli nik ge fah ren. Ich war schon vom nie dergelassenen Arzt an die Klinik überwiesen worden, damit 17

die ei nen ken nen ler nen, be vor man zur Ent bindung dort auftaucht. Mein Arzt sel ber war noch im Ur laub. Er wäre zum er rech ne ten Ge burts ter min da ge we sen. Ich wur de von ei nem Ober arzt un ter sucht, der mich zu be ru hi gen versuch te:»ma chen Sie sich kei ne Ge dan ken, die ses Kind ist schon so groß, der kann sich gar nicht mehr be wegen, der liegt schon im klei nen Be cken.«und so wei ter. Na ja, ich ging halb wegs be ru higt da weg. Ich bin auch je mand, der sich auf Fach leu te ver lässt. Dann war auch viel zu tun, es war un ter der Wo che, und ich ar bei te te im mer noch. Zwei, drei Tage spä ter kam das Wo chen en de, ich kam zur Ruhe und be merk te: Mein Kind be wegt sich nicht nur nicht. Mein Ge fühl war: Mein Sohn hängt da drin wie ein nas ser Sack. Also bin ich wie der in die Kli nik gefah ren und habe ge sagt:»hö ren Sie mal, ich bin nicht ange mel det, tut mir leid, und jetzt ist auch noch Wo chen ende, aber ich glau be, da stimmt was nicht. Ich wür de sa gen, mein Kind hängt da in mir drin wie ein nas ser Sack. Das kann doch nicht nor mal sein.«dies mal ha ben die Ärz te die Notsituation erkannt. Es gab einen Notkaiserschnitt, eine Dreiviertelstunde dauerte das. Obwohl, wie ich später von den An wäl ten hör te, das Baby bei ei nem Not kaiser schnitt in 13 Mi nu ten drau ßen sein muss. Es war an ei nem Sonn tag. Ich lag noch in Nar ko se, als mein Kind zur Welt kam. Mit Ap gar null. Ap gar ist ein Punk te sche ma, in das man die Kin der nach der Ge burt ein teilt. Das be steht aus Punk ten für Spon tan at mung, 18

Mus kel span nung, Herz schlag und Haut far be etc. Die Kin der, die man so kennt, ha ben fast im mer zehn Punkte. Es gibt wel che, die ha ben neun Punk te. Man mag auch das eine oder an de re Kind ken nen, das acht Ap gar-punkte hat. Mein Sohn hat te null. Wenn man das in die Umgangssprache übersetzt, heißt das: Totgeburt. Als ich auf wach te, sah ich die Ge sich ter um mich herum und hör te: Ap gar null. Da war mir al les klar. Mir war wirk lich al les klar. So fort. Ich weiß noch, am ers ten Abend, wir sa ßen im Dun keln, mein Mann Ste fan und ich, und furcht bar. Furcht bar! Es ka men dann auch die Schwes tern und sag ten:»ach, war ten Sie mal ab. Es hat sich schon so viel noch ge wen det.«aber mir war von An fang an klar, was die Null be deu ten wür de. Wir hat ten uns Ju li an so sehr ge wünscht. Es hat jah re lang ge dau ert, bis es über haupt zu die ser Schwan ger schaft gekom men war. Die Schwan ger schaft mit Ju li an war das Ergebnis von elf Inseminationen und dreimal Reagenzglas. Und jetzt lag er auf der In ten siv sta ti on, an alle Ma schi nen und Schläu che an ge schlos sen, die so ein Kran ken haus zu bie ten hat. Wo war sein Le ben? Ich hat te gleich zu Ste fan ge sagt:»also ich glau be, das Ein zi ge, was uns hier je wie der raus führt, ist so schnell wie mög lich so vie le wei te re Kin der wie mög lich zu krie gen.«aber das war na tür lich al les Wunsch den ken. Und nun kam die schlimms te Zeit, die ich mir je hatte vor stel len kön nen. Ich war wirk lich in der dun kels ten Ecke vom fins ters ten Jam mer tal. Zwei Jah re lang. 19

Bei so ei nem neu ge bo re nen Baby kannst du na türlich alle mög li chen Funk ti o nen noch gar nicht tes ten. Du hast keine Ahnung vom Intellekt, vom Sehvermögen, vom Hör ver mö gen usw. Das geht nur schritt wei se. Ist ja klar, je äl ter ein Baby wird, des to mehr Tests kannst du dann auch ma chen. Und so durf test du dich als ei gentlich glückliche frischgeborene Mutter schrittweise verabschie den von dei nem Kind, das ein mal lau fen wird, von ei nem Kind, das mal spre chen wird, von dem Kind, das über haupt und un ge fähr ver steht, was du sagst, ge schweige denn ge nau. Und das war das Furcht bars te an die ser gan zen Geschich te. Der Tod nach her aber jetzt grei fe ich schon vor, der Tod mei nes ge lieb ten Ju li an, das war wie eine Art Riesenpaukenschlag am Ende. Aber diese finsterste, schreck lichs te, trau rigs te Zeit war vor her, denn man hat dann doch ein biss chen Hoff nung. Eine schreck li che Zä sur kam un ge fähr drei Wo chen nach der Ent bin dung. Man gab sich furcht ba re Mühe, al les für uns zu tun, sehr vie le Ärz te hal fen mit, über leg ten mit, machten Vorschläge. Ich wurde von Pontius zu Pilatus ge schickt mit mei nem Neu ge bo re nen, weil man irgend wie se hen woll te, wem kann hier in die sem schreckli chen Fall noch ir gend was ein fal len. Ich wur de zu ei ner besonderen Ultraschalluntersuchung in ein spezialisiertes Krankenhaus geschickt. Die Schädigung von Julian war im Ge hirn. Und vom Ge hirn aus wer den ja alle Funk ti o- nen gesteuert: Laufen, Sprechen, Denken, Fühlen, Sehen. Alles findet im Gehirn statt, der Zentrale sozusagen. Da 20

war der Haupt scha den. Es war ein Sau er stoff scha den. Es wur de nie ge klärt, was die Ur sa che sei ner Krank heit war. Ob mein Kind sich sel ber mit der Schul ter die Na belschnur ab ge drückt hat te? Man wuss te es nicht. Und man wird es nie wis sen. Die Fra ge nach dem Wa rum konn te nie beantwortet werden. Nach drei Wo chen wur de ich also in die ses Kran kenhaus geschickt zu einer Ultraschall-Spezialistin. Ich war wie im mer bei die sen vielen Be su chen ganz al lei ne. Ich fuhr mit dem Taxi dort hin, mei nen klei nen Sohn in einer Wolldecke eingewickelt auf dem Arm. Ich war aufgelöst! Ich wuss te ge nau, jetzt wird die Büch se der Pan do ra wieder geöffnet, und ich kriege irgendwelche Ausblicke auf die Zu kunft, ir gend wel che Ideen, wie die ses Ge hirn wohl von in nen ge nau aus sieht. Die Frau war furchtbar nett. Sie sah, dass ich auf ge löst war. Ich konn te kaum spre chen. Sie war sehr warm her zig, sehr freund lich und sag te:»kom men Sie doch erst mal rein.«und lä chel te mich an:»jetzt war ten Sie mal ab, jetzt wol len wir doch erst mal schau en.«dann be gann sie mit der Un ter suchung. Sie sprach kein Wort. Sie sprach über haupt kein Wort. Und als sie dann end lich fer tig war, schau te sie in Unterlagen auf ihrem Schreibtisch nach. Was war pas siert? Ich glau be, ich habe die Sze ne rie genau rich tig ge deu tet: Sie rang mit ih rer ei ge nen Fas sung, weil sie in die ses Ge hirn rein schau te. Es hieß nach her, die gan zen Ka ver nen und Win dun gen wä ren mit Wasser ge füllt. Ich habe das Mo na te spä ter noch wie der holt:»mit was ha ben Sie ge sagt? Mit Was ser ge füllt?«es stell te 21

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Christiane zu Salm Weiterleben Nach dem Verlust eines geliebten Menschen ORIGINALAUSGABE Gebundenes Buch, Pappband mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-442-31382-2 Goldmann Erscheinungstermin: Oktober 2016 Wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt über das Wesen der Trauer und die Kraft des Weiterlebens Der Tod eines geliebten Menschen des Partners, des Kindes, eines engen Familienangehörigen ist ein zutiefst erschütterndes Ereignis, das das Leben für immer verändert. Oft geht dieser Verlust mit Sprachlosigkeit einher. Weil der Schmerz zu groß, zu verzehrend ist. Und weil Tod und Trauer in unserer Gesellschaft immer noch mit einem stillschweigenden Tabu belegt sind. Bereits in ihrem SPIEGEL-Bestseller»Dieser Mensch war ich«versammelte Christiane zu Salm Nachrufe von Sterbenden auf das eigene Leben und bewegte damit viele Leser. In ihrem neuen Buch nun verleiht sie mit großer Einfühlsamkeit denjenigen eine Stimme, die Kraft zum Weiterleben gefunden haben, nachdem ein geliebter Mensch von ihrer Seite gerissen wurde. Ein oft erschütterndes, immer ergreifendes Buch von beispielhaftem Mut und existenzieller Ehrlichkeit.