2 Musikstunde mit Wolfgang Sandberger, 16. November 2012 Berühmt im Componiren, auf Chören, Orgeln und Claviren - Wege zu, Teil 5 Buxtehude ist tot es lebe Buxtehude. Doch die Nachwelt, meine Damen und Herren, hatte den Komponisten nach seinem Tod 1707 erst einmal vergessen. Selbst durch die berühmte Ehrenpforte von Johann Mattheson ist er nicht auf den Komponistenolymp gezogen obwohl der junge Mattheson einst ja gemeinsam mit Händel nach Lübeck gekommen war, um Buxtehude zu erleben. Einen eigenen Eintrag in diesem berühmten Lexikon von 1740 finden wir also nicht, immerhin aber den Hinweis, dass der hochgeschätzte Buxtehude die Natur oder Eigenschaft der Planeten in sieben Clavier-Suiten artig abgebildet habe. Und immerhin bedauerte es Mattheson, dass so wenige Claviersachen von Buxtehude gedruckt seien. Musik 1 CD 1 Track 37 2.27 Allemande aus der Suite F-dur, BuxWV 238 Ton Koopman, Cembalo Challenge CC 2240 LC Ton Koopman spielte die Allemande aus der Suite F-dur WV 238 von Dieterich Buxtehude. Die Nachwelt also hatte den Komponisten bald vergessen. Erst ein Pionier aus der Gründerzeit der Musikwissenschaft hat Buxtehude Ende des 19. Jahrhunderts wieder aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst: Der Bach- Forscher Philipp Spitta. Im Zuge seiner Arbeiten an der ersten großen Bach- Biographie war Spitta Anfang der 1870er Jahre auch auf die Musik des Marienorganisten in Lübeck gestoßen, ja er machte in der Stadtbibliothek einen sensationellen Fund: Der Musikhistoriker stieß auf einen bis dato unbekannten Kantatenband mit 21 Vokalwerken Buxtehudes notiert in alterehrwürdiger Tabulatur, also nicht in unser modernen Liniennotation. Trotz dieses Kantatenbandes sah Spitta in der Orgelmusik die Hauptwerke des Lübecker Meisters. Damit folgte er der Überlieferung, in der Buxtehude - soweit er überhaupt wahrgenommen wurde - als Komponist eben von Musik für Tasteninstrumente bewundert wurde. Spitta publizierte denn auch 1875 die erste umfassende Ausgabe der Orgelmusik und war der Meinung, dass die Hauptwerke Buxtehudes nicht einmal den höchsten Maßstab zu scheuen brauchten, den Maßstab eben eines Johann Sebastian Bach. Dass Spitta den Lübecker Orgelmeister dennoch auch durch die Brille des Bach-Forschers gesehen hat, verrät seine Terminologie: Die großangelegten, mehrteiligen Präludien Buxtehudes publizierte er unter dem Titel Praeludien und Fugen, eine Bezeichnung, die geradezu irreführend ist. Denn keineswegs bestehen diese Werke wie bei Bach aus zwei Teilen, sondern es handelt sich um einsätzige
3 Kompositionen mit zahlreichen kontrastierenden Abschnitten, d.h. es wechseln freie Teile im Stylus phantasticus mit streng gearbeiteten, fugierten Abschnitten. Für die insgesamt 26 Werke dieses Typs wären Bezeichnungen wie Toccata oder Praeludium sicher angemessener. Hier das Praeludium in g-moll in einer erstaunlichen Aufnahme aus dem Jahr 1903 mit Karl Straube, der damals eine Welterolle bespielte, die vor einigen Jahren technisch überarbeitet wurde: Musik 2 Track 1 8.30 Praeludium g-moll Bux 149 Karl Straube, Welterolle 1903 Deutsches Rundfunkarchiv Musik, die der Buxtehude-Forscher Philipp Spitta als erhaben und nordischmelancholisch bezeichnet hat. Spittas feinsinnige Formulierungen faszinierten einst auch Johannes Brahms, ja der Norddeutsche Brahms war von Buxtehudes fantastischen Orgelwerken tief beeindruckt vor allem die d-moll-passacaglia hatte es ihm angetan. Um dieses einzigartige Werk publik zu machen, wollte Brahms es einem Verleger anbieten. Doch sein Freund Spitta war anderer Meinung: Der Philologe und Historiker war gegen eine Einzeledition und favorisierte von Beginn an eine umfangreichere Ausgabe der Orgelwerke, wie Spitta sie dann ja alsbald bei Breitkopf & Härtel selbst realisieren sollte. Wer den ersten Band aufschlägt, findet als Aufmacher jene besagte Passacaglia. Dass der Band eben mit dieser Musik eröffnet wird, lag sicher auch an der von Brahms geteilten Wertschätzung. Und einig waren sich beide in dem ehrgeizigen Ziel, einen faktisch ganz vergessenen genialen Tonkünstler wieder auf den ihm zukommenden Platz zu setzen so Spitta in einem Brief an Brahms. Bezeichnenderweise schenkte der so geschichtsbewusste Brahms in diesem Gedanken-Austausch zu Buxtehude seinem Freund Spitta seine Handschrift der Haydn-Variationen, jenes Werk also, das in der alten Form der Passacaglia kulminiert, d.h. in Variationen innerhalb von Variationen! Weniger an Bach denn an Buxtehude hatte Brahms damals diese alte Variationstechnik studiert: Musik 3 Track 14 4.01 Johannes Brahms Finale der Haydn-Variationen New York Philharmonic Leonard Bernstein Sony SMK 47 539
4 Brahms und sein Freund der Musikhistoriker Spitta verfolgten das Ziel, Buxtehudes Musik einem breiteren Publikum zu erschießen. Ein ehrgeiziges Ziel, das keineswegs leicht zu erreichen war, wie der Blick auf die letzten 100 Jahre zeigt. Um 1900 nämlich war der Name in einem Lübecker Bürgerhaus kaum geläufig. Ein Blick in die Buddenbrooks von Thomas Mann mag das zeigen: Der Marienorganist Edmund Pfühl ist es, der in diesem Roman den kleinen Hanno in die faszinierende Welt der Musik einführt - der Name Buxtehude fällt in diesem Lübeck-Roman nicht ein einziges Mal. Vierzig Jahre später jedoch taucht Buxtehude im Doktor Faustus von Thomas Mann auf. Dort erscheint er in der Reihe von Komponisten, an denen der Musikenthusiast Wendel Kretzschmar in Orgelkonzerten und Vorträgen Adrian Leverkühn in die Musikgeschichte einführt. In Basel dann hört Leverkühn gemeinsam mit Kretzschmar eine Buxtehude-Kantate, eine Affektmusik, die so Thomas Mann wörtlich - das Bibelwort mit erstaunlicher menschlicher Freiheit, deklamatorischer Ausdruckskühnheit behandelte und es mit einer rücksichtslos schildernden instrumentalen Gestik umkleidete dieser Eindruck war sehr stark und nachhaltig. Diese Stelle im Doktor Faustus kann übrigens auf ein reales Buxtehude-Erlebnis von Thomas Mann zurückgeführt werden: Ein Baseler Programmzettel nämlich vom 14. November 1943 zeigt ein Konzert unter der Leitung von Paul Sacher exakt mit der Programmreihenfolge, die im Doktor Faustus erwähnt wird dabei handelt es sich um die Buxtehude-Kantate Nimm von uns Herr Du treuer Gott, sicher eine der schönsten Kantaten des Lübecker Marienorganisten: Musik 4 Track 1 bis 7.51 Nimm von uns Herr Du treuer Gott BuxWV 78 Collegium Vocale Orchestra Anima Eterna Jos van Immerseel Channel Classics CCs 7895-1 Das waren die ersten beiden Strophen der Kantate Nimm von uns Herr, du treuer Gott von, eine Kantate. Viel hatte sich zwischen 1900 und den 1940er Jahren in der Buxtehude-Rezeption getan. Ausgerechnet der Franzose André Pirro hatte die erste Monographie über den Komponisten aus dem protestantischen Norden geschrieben 1913. Es war der erste Versuch, ein vollständiges Bild des Komponisten zu zeichnen. In den 20er, 30er Jahren kulminierte dann manches, was mit dem kulturellen Umbruch des 1. Weltkrieges begonnen hatte: 1921 gründeten der Schriftsteller und spätere Orgelexperte Hans Henny Jahnn, der Musikforscher Gottlieb Harms
5 und der Bildhauer Franz Buse jene Künstlergemeinschaft, die sich mit religiöser Emphase und einiger Phantasie den Namen Glaubensgemeinde Ugrino gaben. Künstliche Paradiese wurden hier beschworen. Die Musik, konkret: die Musik Buxtehudes, war in ein schillerndes, facettenreiches Kulturprogramm integriert: Man interessierte sich für die ägyptische Bestattungskunst und romanische Architektur, für die polyphone Musik eines Vincent Lübeck, Arnolt Schlick, Samuel Scheidt oder eben Buxtehude, man war begeistert von dem barocken Orgelbau eines Arp Schnitger und Hans Scherer, bewunderte die Literatur eines Ibsen, Strindberg, Kleist oder Büchner: als dies waren die Bezugspunkte eines Traumreichs, oder nüchterner: einer radikalen Abkehr der als degeneriert empfundenen wilhelminischen Ära. Nüchtern ging es dabei aber keineswegs zu: die Orgel-Musik Buxtehudes ließ Hanns Henny Jahnn eindrucksvolle Formulierungen finden. In seinem Monumental-Roman Fluß ohne Ufer heißt es etwa: Mit Tränen in den Augen saß ich vor den weiten Landschaften der Orgelkompositionen Buxtehudes. Ja, ich saß sehnsüchtig an ihrem Gestade und schaute auf das Spiel der Wellen, hinaus auf den unfassbar geläuterten Schein und Widerschein, auf diese süße Melancholie, auf das Meer voll unmittelbarer Sprache, das in der Passacaglia, in den Chaconnen, im Fugen- und Toccatenwerk der Präludien brandet. Musik 5 Track 1 6.43 Praeludium in fis-moll BuxWV 146 Ton Koopman an der Orgel der St. Nicolai Kirche in Altenbruch Challenge CC 72242 Orgelmusik, von der Hans Henny Jahnn so begeistert war. Der Geruch von Meer und Gestade machte Buxtehudes Musik für Jahnn so unverwechselbar. Buxtehude war für die Glaubensgemeinde Ugrino und Jahnn indes keineswegs eine ästhetische Flucht vor der Gegenwart. In der Romantrilogie Fluß ohne Ufer von Jahnn wird so etwa das gesamte traditionelle Notensystem in Frage gestellt, durch den fiktiven Komponisten Gustav Anias Horn. Gerade vor dem Hintergrund seiner Buxtehude-Erfahrungen heißt es da: Es seien die Möglichkeiten einer andersgerichteten Kompositionsweise aufgezeigt worden, Abschaffung des Notensystems, das Vordringen graphischer Darstellung mit der Fülle neuartiger Kombinationen. Das klingt doch erstaunlich modern, ja fast ist man versucht, hier an Klangexperimente eines Skrjabin zu denken oder in Buxtehude gar einen Vorläufer von John Cage zu sehen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus: 1925 begann der Ugrino-Verlag das ehrgeizige Projekt einer Gesamtausgabe von Buxtehudes Vokalwerken, eine schwierige Unternehmung, die eng mit dem Namen des Freiburger Ordinarius Wilibald Gurlitt verbunden ist. Bald schon dümpelte das Projekt vor sich hin. Im ersten Band dieser Edition war übrigens auch eine kleine Aria erschienen, eine Aria, die 1940 von dem
6 legendären dänischen Tenor Aksel Schiotz erstmals aufgenommen wurde: Was mich auf dieser Welt betrübt. Diese Aria gehört sicher zu den einfachsten von Buxtehude, ja sie ist so etwas wie der Prototyp aller Arien, gleichsam ein Extract der Gattung. Die Simplizität, die damals so vielbeschworene Schlichtheit Buxtehudes, dürfte eben auch den dänischen Tenor für dieses Stück eingenommen haben: Musik 6 Track 2 4.45 Was mich auf dieser Welt betrübt Aksel Schiötz, Tenor Ensemble Buxtehude 1940: das war der legendäre dänische Tenor Aksel Schiotz mit der Aria Was mich auf dieser Welt betrübt von Dietrich Buxtehude. Heute ist Buxtehude zwar keineswegs vergessen, auf den ihm zukommenden Platz (Spitta) ist er aber noch längst nicht wieder gesetzt. In den realen oder imaginären Ruhmeshallen der Geschichte sucht man ihn vergeblich. Das Buxtehude-Jahr bietet immerhin die Chance, diesen rätselhaften Komponisten neu zu entdecken. Die Wege zu Buxtehude führen zu einer vielschichtigen Persönlichkeit, zu einem getreuen Kirchendiener, wie er selbst sich in einem memorandum einmal bezeichnete. Zugleich war er ein kühner Unternehmer und guter Geschäftsmann denkt man an seien Abendmusiken. Seine Textauswahl deutet auf einen frommen Gottesmann, das Bild von Johannes Vorhoout zeigt ihn freilich als einen Mann von Welt, vielleicht sogar in einem Bordell. Dieses Nebeneinander von Frömmigkeit und Weltläufigkeit findet sich in den wenigen Quellen immer wieder. Doch viele Spuren führen nicht mehr zu ihm. 1942 sank seine Marienkirche in Schutt und Asche, die Glocken gruben sich in den Boden, die Totentanzorgel verglühte so ging auch der Originalklang aus Buxtehudes Zeit verloren. Immerhin hat sich ein eindrucksvolles Tondokument erhalten,dass ich Ihnen trotz der schlechten Klangqualität am Ende nicht vorenthalten möchte: Der achte Nachfolger Buxtehudes im Amt des Lübecker Marienorganisten, Walter Kraft, spielt in dieser Aufnahme von 1941 an der noch nicht zerstörten Totentanzorgel Buxtehudes das Praeludium in C-dur:
7 Musik 7 Track 1 5.39 Praeludium in C-dur BuxWV 137 Walter Kraft, 1941 an der Totentanzorgel der St. Marienkirche zu Lübeck Veröffentlichung der Stadtbibliothek Lübeck, Dritte Reihe, Band 8: Tonträger