Invaliditätsversicherung. in Deutschland,



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Transkript:

18 Invaliditätsversicherung in Deutschland Dr. Klaus Mattar, Senior Actuary, AXA Service AG, Köln 1 Einleitung Die Invaliditätsversicherung, d.h. die Absicherung der wirtschaftlichen Folgen des Verlustes von körperlichen Fähigkeiten wegen Unfall oder aus gesundheitlichen Gründen, hat in Deutschland eine lange Tradition. Bereits seit den Anfängen im Rahmen der Bismarckschen Sozialreformen am Ende des 19. Jahrhunderts hat sie ihren Platz im System der Sozialversicherung. Im Rahmen des bekannten «Drei-Säulen-Modells» kommen zu diesen staatlichen bzw. halbstaatlich organisierten Sicherungssystemen die verschiedenen Angebote im Bereich der betrieblichen Altersversorgung und die der Privatversicherungen. Durch diese Vielfalt von Versicherungsträgern mit jeweils unterschiedlichen rechtlichen Rahmen ergibt sich ein recht heterogenes Bild was dadurch noch verstärkt wird, dass gerade dieser Bereich besonders durch staatliche Eingriffe betroffen wurde. Dies wird in erster Linie an der Vielzahl von Definitionen der Invalidität deutlich, die zum Teil erkennbar verschieden, zum Teil aber auch (scheinbar) ähnlich sind und je nach Träger, Beruf, Lebensalter und Produkttyp Anwendung finden. Andererseits gewinnt das Risiko der Invalidität aus den bekannten demographischen Gründen sowohl für die staatlichen Sicherungssysteme als auch für den erwerbswirtschaftlichen Sektor an Bedeutung. Für die in ihrer täglichen Arbeit mit der einen oder anderen oder sogar mit mehreren Ausprägungen der Invaliditätsversicherung befassten Personen stellen sich damit wachsende Herausforderungen. Dies bezieht sich auf die Kalkulation ausreichender Prämien und Reserven und die Prüfung der individuellen und kollektiven Risiken, aber in besonderer Weise auf die Prüfung, Begutachtung und weitere Begleitung von Leistungsfällen. Im Folgenden werden die verschiedenen Träger und Formen der Invaliditätsversicherung in Deutschland, ihre Bedeutung und Unterschiede kurz vorgestellt. Die vorherrschenden Formen und Definitionen der Invalidität in der Privatversicherung werden dabei breiteren Raum einnehmen. Einige wichtige aktuelle Aspekte und Trends werden kommentiert, bevor abschliessend die wichtigsten Schritte und Konzepte der Leistungsbestimmung beschrieben werden.

19 2 Die Invaliditätsversicherung in der deutschen Sozialversicherung 2.1 Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) Das Leistungsspektrum der GRV umfasst neben der Altersrente auch eine Invaliditätsversicherung. Der hier benutzte Begriff der Invalidität erfuhr in den letzten Jahren durch eine Gesetzesreform eine durchgreifende Änderung: Die früher benutzten Begriffe der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit (die im weiten Sinne mit den unten beschriebenen gleichnamigen Begriffen der Privatversicherung vergleichbar sind) gelten nur noch für Personen, die am 1. Januar 2001 das 40. Lebensjahr vollendet hatten und für bestehende Leistungsfälle. Sonst gilt der neue Begriff der Erwerbsminderung. Dabei richtet sich der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente danach, wie viele Stunden Arbeit pro Tag der Betreffende trotz gesundheitlicher Einschränkungen noch leisten kann: Nur wer weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann, hat Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente. Wer in der Lage ist, drei bis sechs Stunden pro Tag zu arbeiten, erhält die halbe Erwerbsminderungsrente. Nur wenn in einem solchen Falle nachweislich keine Stelle auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, kann der Betroffene die volle Erwerbsminderungsrente bekommen. Wer über 6 Stunden täglich arbeiten kann, erhält keine Rente. Es wird grundsätzlich nicht in Bezug auf den letzten ausgeübten Beruf geprüft, sondern es werden die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zugrunde gelegt. 2.2 Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) Die Leistungen der GUV decken nur Leistungsfälle durch Berufsunfälle bzw. Berufskrankheiten ab. Neben den Kranken- und Rehabilitationsleistungen werden in schweren andauernden Fällen auch Renten gezahlt. Träger der Versicherung sind die Arbeitgeber organisiert durch die Berufsgenossenschaften. 2.3 Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) In der gesetzlichen Krankenversicherung wird neben den Krankheitskosten auch die Arbeitsunfähigkeit (AU) abgedeckt. AU liegt vor, wenn der Versicherte seine berufliche Tätigkeit aus medizinischen Gründen nicht ausüben kann. Der Begriff der

20 AU unterscheidet sich dabei von anderen Invaliditätsbegriffen vor allem durch das Fehlen zeitlicher Vorgaben: AU kann auch für einen Tag bestehen. Nachgewiesen wird der Leistungsfall durch vom Arzt ausgestellte sogenannte AU-Bescheinigungen. Die Sozialversicherung zahlt in einem solchen Fall für die Dauer der AU ein Krankengeld, soweit nicht ein Anspruch auf Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber besteht. Die Höhe des Krankengeldes hängt vom Einkommen ab. Wenn die Einschränkung einen dauernden Charakter hat, wird der Fall «ausgesteuert», d. h. in die Invaliditätssysteme der GRV überführt. Da die Begriffe jedoch nicht deckungsgleich sind, ist es nicht auszuschliessen, dass ein Fall als Dauerfall nicht mehr arbeitsfähig ist, aber noch nicht berechtigt für eine andere Invaliditätsleistung ist. 2.4 Die Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung ist eine Pflichtversicherung, die Sachleistungen bzw. Gelderstattung für nötige Pflegekosten oder Heimunterbringung bietet. Der Leistungsfall ist so beschrieben, dass durch entsprechend schwere gesundheitliche Behinderungen ein täglicher Pflegebedarf entsteht. Je nach der Dauer des täglichen Bedarfs sind die Leistungen gestaffelt. Eine Beziehung zum ausgeübten Beruf besteht nicht. 2.5 Der Begriff der Schwerbehinderung Der Grad der Behinderung (GdB), der nach dem Schwerbehinderungsgesetz durch die Versorgungsämter gewährt wird, hat nichts mit Versicherungsleistungen zu tun, sondern berechtigt zu bestimmten Leistungen bzw. Erleichterungen, z.b. einem zusätzlichen Steuerfreibetrag. Die Massstäbe für die Festlegung des GdB entsprechen jedoch denen der MdE-Beurteilung in der GRV, jedoch wird der GdB unabhängig von der Berufstätigkeit bestimmt. 3 Die Invaliditätsversicherung im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung (bav) Die betriebliche Altersversorgung ist in Deutschland von geringer Bedeutung. Im 2003 betrugen die Gesamtleistungen aus der bav lediglich 0,8% des BIP im Vergleich zu 32,6% der Sozialversicherung. Nur 43% der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten besassen eine Anwart-

21 schaft auf eine bav und vom Durchschnittseinkommen eines Rentners entfielen 74 Euro auf die bav und 1286 Euro auf die GRV. Der Grund für diese geringe Bedeutung ist einerseits in der schlechten wirtschaftlichen Situation zu suchen, die bei vielen Unternehmen zur Reduktion oder sogar zur Abschaffung der bav- Zusagen führte. Dazu kommt, dass die steuerlichen und anderen Anreize offenbar die Belastungen und Risiken derartiger Zusagen nicht aufwiegen. Seit dem zum 1.1.2005 in Kraft getretenen Alterseinkünftegesetz muss jeder Arbeitgeber allen Beschäftigten den Zugang zu einer Form der bav bieten. Man erwartet jedoch nicht, dass dies zu einer deutlich erhöhten Zahl von arbeitgeberfinanzierten Modellen führen wird. Eher wird erwartet, dass die Mehrzahl arbeitnehmerfinanziert sein wird. Dabei handelt es sich jedoch im wesentlichen um Einzelversicherungen die nur in steuerlich begünstigter Weise über den Arbeitgeber abgewickelt werden. Eine Invaliditätsabeckung ist in der Regel, wenn auch in unterschiedlicher Höhe, enthalten und folgt den Regeln und Begriffen der Privatversicherungen. Bei den arbeitgeberfinanzierten Modellen, von denen, wie erwähnt, viele für den Neuzugang geschlossen wurden, gilt in der Regel der Invaliditätsbegriff der GRV. In diesen Fällen besteht wegen der Änderung der GRV-Definition eine gewisse Inkongruenz, bei der im Einzelfall Klärungsbedarf besteht. 4 Die Invaliditätsversicherung in der deutschen Privatversicherung 4.1 Die Berufsunfähigkeitsversicherung Der Begriff der Berufsunfähigkeit (BU) ist der vorherrschende Invaliditätsbegriff in der Privatversicherung. Die hierbei in den Versicherungsbedingungen verwendeten Definitionen unterscheiden sich zwar im Gefolge der mit der Deregulierung geschaffenen Produktvielfalt mehr und mehr von Unternehmen zu Unternehmen, die überwiegend verwendete Definition lautet jedoch wie folgt: «Vollständige BU liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen ausserstande ist,

22 ihren Beruf auszuüben, und auch keine andere Tätigkeit ausübt, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.» Bei der Prüfung der BU wird der so genannte Berufsunfähigkeitsgrad festgelegt, d. h. ein Prozentsatz. In der Regel leisten die Versicherungsprodukte ab einem Grad von 50% die volle versicherte Rente, Teilleistungen sind unüblich. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist sowohl als Zusatzversicherung (BUZ) (zu einer Versicherung mit Sparcharakter oder einer reinen Todesfallversicherung) oder auch als selbständige Police erhältlich. Die Leistungen sind durchgängig Renten (bei BUZ einschliesslich der Beitragsbefreiung der Hauptversicherung). 4.2 Bedingungsdifferenzierung bei der Berufsunfähigkeitsversicherung 4.2.1 Berufsunfähigkeitsgrad In seltenen Fällen werden höhere Grade (z. B. 75% oder 100%) als Kriterium für die volle Leistung oder aber eine Staffelregelung vereinbart. Bei einer Staffelregel beginnt die Leistungspflicht des Versicherers bereits bei einem Berufsunfähigkeitsgrad von z. B. 25%, steigt dann linear an, um bei z. B. 75% die volle Leistung zu erreichen. 4.2.2 Verweisung Die Definition in 4.1 sieht keine Leistung vor, wenn der Versicherte in einem Beruf, der seiner bisherigen Lebensstellung entspricht, tatsächlich arbeitet. Diese Einschränkung wird als «konkrete Verweisung» bezeichnet und der Beruf als «Verweisungsberuf». Es ist auch möglich durch Ersatz dieses Passus durch:...ausserstande ist, ihren Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.» auf andere zumutbare Berufe zu verweisen, die der Versicherte nicht konkret ausübt, aber ausüben könnte. Diese Leistungseinschränkung nennt man «abstrakte Verweisung» und war bis vor wenigen Jahren allgemein üblich. Heute ist sie aus Wettbewerbsgründen und wegen mangelnden Durchsetzbarkeit nur noch selten zu finden, z.b. in preisgünstigen Basisprodukten

23 bzw. für gefährdete Berufsgruppen. Speziell bei so genannten «Kammerberufen», d. h. Berufe, die zur Berufsausübung die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Organisation benötigen (z. B. Ärzte, Anwälte, Wirtschaftsprüfer) ist die abstrakte Verweisung seit langem unüblich. 4.2.3 Prognosezeitraum und rückwirkende Leistung Nach der Definition in 4.1 muss nachgewiesen werden, dass die gesundheitliche Einschränkung voraussichtlich ununterbrochen mindestens 6 Monate anhalten wird. Hier sind auch längere Zeiträume gebräuchlich, besonders für gefährdete Berufsgruppen. Die konkrete Angabe eines Zeitraums wie 6 Monate ist aus einer kürzlich erfolgten kundenfreundlichen Abschwächung der Bedingungen hervorgegangen, davor war der Begriff «voraussichtlich dauernd» üblich, der in der Regel als «mindestens 3 Jahre» zu verstehen war. Eine Zunahme von Leistungsfällen eher kurzfristiger Natur (z. B. Knochenbrüche) in Folge dieser Änderung ist nicht auszuschliessen. Üblicherweise wird bedingungsgemäss das Vorliegen einer 6-monatigen BU und die Fortdauer dieses Zustandes als Nachweis der BU akzeptiert. In vielen Fällen wurde früher in einem solchen Falle eine rückwirkende Leistung erbracht. Seit neuestem bieten die Produkte jedoch eine unbegrenzte rückwirkende Leistung an, wenn der Beginn der BU entsprechend weit in der Vergangenheit festgestellt wird. 4.3 Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit (EU) berücksichtigt bei der Prüfung nicht den ausgeübten Beruf, sondern stellt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Die Versicherungsbedingungen sehen daher in Abänderung der BU-Definition in 4.1 keine Einschränkung auf «ihren Beruf» oder bestimmte Kenntnisse oder die Lebensstellung vor. Alternativ bedient sich die Privatwirtschaft auch des neuen Erwerbsminderungsbegriffes der Sozialversicherung (siehe 2.1). Bei bestimmten Berufen mit schwer versicherbaren Berufsbildern (z. B. Künstler) wird auch in der Berufsunfähigkeitsversicherung über eine «EU-Klausel» lediglich die EU versichert.

24 4.4 Die Unfallversicherung In der Unfallversicherung wird die Invalidität anhand der so genannten Gliedertaxe gemessen. Diese Gliedertaxe versteht sich als eine Liste mit körperlichen Beeinträchtigungen und einem jeweils zugehörigen Prozentsatz, der den Invaliditätsgrad angibt. Sollte der Versicherte durch einen Unfall eine der aufgeführten Beeinträchtigungen erleiden, so erhält er den entsprechenden Prozentsatz der versicherten Summe. Für hohe Invaliditätsgrade sind überproportionale Zahlungen («Progression») oder auch lebenslange Renten möglich. Ob und inwieweit durch diese Beeinträchtigung eine Folge für die ausgeübte Berufstätigkeit entsteht, ist unerheblich. 4.5 Andere Versicherungsformen mit Invaliditätsaspekten Es gibt weitere Versicherungsformen, die Leistungsfälle abdecken, die mit Invalidität in Verbindung stehen. Hier muss die private Variante der Kranken- und Pflegeversicherung genannt werden, die für nicht versicherungspflichtige Personen (Selbständige, Beamte und Personen mit höherem Einkommen) zugänglich ist. Die Leistungen entsprechen im wesentlichen denen der GKV. Ferner ist auf Teil- und Ausschnittsdeckungen wie die Dread Disease (auch als Critical Illness oder Schwere-Krankheits-Vorsorge) und die Grundfähigkeitsversicherung hinzuweisen. Erstere bietet eine Summenzahlung bei der Diagnose einer schweren Erkrankung, wobei hier je nach Produkt bis zu 35 Erkrankungen versichert sind unter denen Herzinfarkt, Hirnschlag und Krebs dominieren. Letztere bietet eine Rentenzahlung für den Fall, dass der Versicherte eine bestimmte Anzahl von Grundfähigkeiten wie Gehen, Heben, Treppensteigen usw. gar nicht oder nur in einer bestimmten Weise nicht mehr ausführen kann. Beide Produkttypen leisten unabhängig von der Berufstätigkeit und sind aus dem angelsächsischen Ausland nach Deutschland gekommen. Sie werden nur von wenigen Unternehmen angeboten und sind derzeit von geringer Bedeutung. Im Zuge der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Produktwelt beobachtet man einen Trend zur Bündelung von Produkten bzw. Produktelementen zu neuen und weniger vergleichbaren Versicherungsformen. Hier sind Mischformen von Erwerbsunfähigkeit, Dread Disease, Grundfähigkeit, Pflegeversi-

25 cherung und Unfallversicherung bzw. einigen aus dieser Liste zu nennen. 4.6 Aktuelle Aspekte und Trends in der privaten Invaliditätsversicherung 4.6.1 Rating Wie bereits angesprochen, ist die Privatversicherung seit der Deregulierung von einem starken Wettbewerb geprägt, der auch die Versicherungsbedingungen betrifft. Eine immer stärkere Rolle spielen dabei die Ratingagenturen, die über ihre Produkt- und Unternehmensratings eine vielbeachtete Entscheidungshilfe für Kunden und Vermittler liefern und damit über den Markterfolg eines Versicherers entscheiden. Die Agenturen gehen dabei zunehmend über den Vergleich der Preise, Bedingungen und Unternehmenskennzahlen hinaus. Gerade im Segment BU werden «Kompetenzratings» erstellt, die das Know How, die Erfahrung und die operationellen Prozesse des Versicherers im Hinblick auf Risk Management und Controlling des BU-Risikos einordnen sollen. Die Qualität der Antrags- und Leistungsprüfung steht dabei mit im Vordergrund. 4.6.2 Die Leitbilddiskussion Der starke Wettbewerb hat im Segment der Invalidität zu einer Differenzierung der Versicherungsbedingungen geführt, die auch den Gesetzgeber auf den Plan gerufen hat. Durch die Deregulierung der Versicherungsaufsicht findet eine Genehmigung der Produkte zwar nicht mehr statt, über das Vertragsrecht hat der Gesetzgeber jedoch weiterhin Eingriffsmöglichkeiten. Mit Verweis auf den Verbraucherschutz ist bei der derzeit diskutierten Novelle des Versicherungsvertragsgesetzes geplant, den Begriff der BU über ein so genanntes Leitbild zu normieren. Aus Sicht der Versicherungsbranche bedeutet dies eine Einschränkung des Wettbewerbs. Darüber hinaus sind Probleme zu erwarten, wenn aus Gründen des Risk Managements und des Risikoverlaufs Änderungen an den Produktbedingungen nötig sein sollten. 5 Feststellung der Berufsunfähigkeit 5.1 Erklärung des Versicherten Im Falle eines BU-Leistungsantrags wird zunächst über entsprechende Formulare an den Kunden wie an

26 dessen Arzt versucht, eine Anamnese der beruflichen und der gesundheitlichen Situation vorzunehmen. Bei der Arbeitsanamnese wird eine ausführliche Beschreibung des schulischen und beruflichen Werdegangs, etwaiger erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten und der zuletzt ausgeübten Tätigkeit gefordert. Beurteilt wird nicht ein abstraktes Berufsbild, sondern die konkrete Tätigkeit. Über die Arbeitsanamnese hinaus muss der Versicherte Auskunft über die Erkrankungen und Verletzungen geben, die ihn beeinträchtigen und erklären, welche Funktionsstörungen und seit wann dadurch hervorgerufen werden. Daneben sind Berichte über ärztliche Behandlungen, Arbeitsunfähigkeitszeiten (siehe 2.3) und über mögliche Leistungsanerkennungen durch die GRV, die GUV oder die Pflegeversicherung vorzulegen. Daneben ist darzulegen, welche Tätigkeiten wie lange täglich noch ausgeführt werden können. 5.2 Ärztlicher Bericht Die Ergebnisse der Arbeitsanamnese werden dem Hausarzt bzw. den behandelnden Fachärzten zur Kenntnis gegeben. Trotzdem sollte der Arzt selbst auch den Versicherten ausführlich zu seiner beruflichen Tätigkeit vor Eintritt der Beeinträchtigung befragen. Bei den Diagnosen sind nur die für die BU relevanten in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit und mit Angabe, seit wann sie bestehen, zu nennen. Eine kurze Schilderung objektiver Befunde (inklusive Mitgabe vorhandener Berichte) und Funktionsbeeinträchtigungen, Angaben über das Ausmass von Bewegungseinschränkungen bei Gelenkserkrankungen sowie über die Belastbarkeit erleichtert das Verständnis einer Erkrankung als mögliche Ursache einer BU. Die genaue Angabe der bisherigen Arbeitsunfähigkeitszeiten ermöglicht die schnelle Festlegung des Berufsunfähigkeitsbeginns. Die Information, wie lange voraussichtlich noch mit einer Beeinträchtigung durch die Erkrankungen zu rechnen ist, erleichtert die Festlegung, ob es sich um eine dauernde oder um eine vorübergehende BU handelt bzw. des Rentenbeginns. Des Weiteren ist die Einschätzung notwendig, ob mit einer Besserung zu rechnen ist und ob weitere Behandlungen oder Rehabilitationsmassnahmen erforderlich sind. Der Arzt soll Auskünfte zu Funktionseinschränkungen der angegebenen Teiltätigkeiten anhand vorgegebener

27 Kategorien «überhaupt nicht leicht mittel stark völlig» oder auch durch Angabe der prozentualen Minderung erteilen. Hilfreich ist die Angabe des negativen und des positiven Leistungsbildes, also zu welchen Tätigkeiten der Versicherte nicht mehr in der Lage ist und was für Handlungen er noch ausführen kann. Hinzu kommt die Auskunft über andere Tätigkeiten, auf die der Versicherte ggf. verwiesen werden könnte. Während viele Versicherungen aus den Beeinträchtigung der Teiltätigkeiten den BU-Grad berechnen, bitten andere Gesellschaften den Auskunft gebenden Arzt um die Festlegung des BU-Grades bezogen auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit unter Berücksichtigung aller Teiltätigkeiten. Bei Beeinträchtigung einer besonders wichtigen Teiltätigkeit (Kerntätigkeit) kann jedoch eine BU vorliegen, obwohl der BU-Grad, bezogen auf alle übrigen Tätigkeiten, unter 50% liegen würde. Da die gesamte Leistung bereits bei einem BU-Grad von 50% zuerkannt wird, ist bei nahe an dieser Grenze liegenden BU-Grade mit besonderer Sorgfalt vorzugehen. 5.3 Aussenregulierung In bestimmten komplexen Fällen entscheiden einige Unternehmen, den Versicherten persönlich aufzusuchen, um sich vor Ort ein Bild über die BU zu machen. 5.4 Gutachten Wenn die oben beschriebenen Unterlagen für eine Entscheidung über die BU nicht ausreichen oder bei Streitigkeiten werden Gutachten angefordert. Der Gutachter wird dabei in Kenntnis der bereits erhobenen Unterlagen eigene ausführliche Analysen der beruflichen und gesundheitlichen Situation vornehmen. In der Regel werden verschiedene Gutachter benötigt, wobei ein Hauptgutachter die Bewertungen zusammenfasst und den BU-Grad festlegt. Insbesondere ist oft eine Arbeitsanamnese durch einen berufskundlichen Gutachter unverzichtbar, um eventuelle Widersprüche zu der Darstellung des beruflichen Sachverhalts beurteilen zu können. Daneben ist häufig eine juristische Stellungnahme nötig. Im medizinischen Gutachten muss nachvollziehbar durch Bezug auf objektivierbare Umstände dargestellt werden, welche Tätigkeit/ Beanspruchung durch welche dia-

28 gnostizierte Erkrankung erschwert oder unmöglich ist (negatives Leistungsbild). Die Einschränkungen sollten quantitativ und qualitativ so genau wie möglich definiert werden. Auf dieser Grundlage sollte abgeleitet werden, zu welchem Prozentwert die ausgeübte Tätigkeit eingeschränkt ist. Dabei ist sowohl (und oft in erster Linie) die zeitliche Einschätzung (z. B. Tätigkeit 4 6 Stunden pro Tag möglich) als auch die Beeinträchtigung von Kerntätigkeiten und -fähigkeiten Grundlage der prozentualen Beurteilung. Zur Bestimmung der Restleistungsfähigkeit (d.h. des positiven Leistungsbildes) und zur Beurteilung eventuell möglicher beruflicher Umorganisationsmöglichkeiten / Wiedereingliederungsmassnahmen und gegebenenfalls, je nach Vertragsbedingungen, auch Verweisungstätigkeiten (siehe 4.2.2) muss angegeben werden, welche Tätigkeiten / Beanspruchungen für den Versicherten noch möglich sind. Abschliessend sollte das Gutachten eine Einschätzung zur Prognose und, soweit möglich, einen Vorschlag zu weiteren Heil- und Rehabilitationsmöglichkeiten enthalten. In diesem Zusammenhang kommt es auch bei unsicherer Prognose zu so genannten befristeten Anerkennungen. Hierbei handelt es sich allerdings rechtlich um eine normale Leistungsanerkennung mit einer bereits avisierten Nachprüfung, z.b. nach 2 Jahren.