Schlussbericht der Schweizerischen Unfalluntersuchungsstelle. über den Arbeitsunfall bei Zug vom Mittwoch, 14. November 2012

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Transkript:

Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST Service d enquête suisse sur les accidents SESA Servizio d inchiesta svizzero sugli infortuni SISI Swiss Accident Investigation Board SAIB Bereich Bahnen und Schiffe Schlussbericht der Schweizerischen Unfalluntersuchungsstelle SUST über den Arbeitsunfall bei Zug 8459 vom Mittwoch, 14. November 2012 in Koblenz AG Reg.-Nr.: 12111402 Monbijoustrasse 51A, 3003 Bern Tel + 41 31 322 54 30, Fax +41 31 323 00 76 info@sust.admin.ch www.sust.admin.ch

Allgemeine Hinweise zu diesem Bericht Dieser Bericht wurde ausschliesslich zum Zweck der Verhütung von Unfällen beim Betrieb von Eisenbahnen, Seilbahnen und Schiffen erstellt. Die rechtliche Würdigung der Umstände und Ursachen von Unfällen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung gemäss Art. 25 der Verordnung über die Meldung und Untersuchung von Unfällen und schweren Vorfällen beim Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel (VUU, SR 742.161). Es ist daher auch nicht Zweck dieses Berichts, Schuld- und Haftungsfragen zu klären. 0 Zusammenfassung 0.1 Kurzdarstellung Am Mittwoch, 14. November 2012 um ca. 15.45 Uhr kam es in Koblenz Gleis 1 bei der Ausfahrt von Regionalzug 8459 zu einem Arbeitsunfall. Ein Mitarbeiter einer privaten Baufirma wurde vom Richtung Bad Zurzach ausfahrenden Zug erfasst und schwer verletzt. Er wurde durch einen Helikopter der REGA ins Kantonsspital Aarau geflogen, wo er wenig später verstarb. 0.2 Untersuchung Die Meldung traf um 16.03 Uhr ein. Die Untersuchung wurde am gleichen Tag durch die Unfalluntersuchungsstelle SUST in Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei Aargau eröffnet. 0.3 Ursache Der Unfall ist darauf zurückzuführen, dass sich der Verunfallte trotz der Weisung des Sicherheitswärters, sich im Fluchtraum von Gleis 40 aufzuhalten, zur Baugrube im Profil von Gleis 1 begeben hat und Höhe Mast 53 vom ausfahrenden Zug 8459 erfasst wurde. Zum Unfall haben beigetragen: - dass der Sicherheitswärter 1 austreten musste; - dass sich der Verunfallte entgegen den Anweisungen des Sicherheitswärters ins Profil des Gleises 1 begeben hat; - dass Zug 8459 trotz rechtzeitig eingeleiteter Schnellbremsung nicht rechtzeitig anhalten konnte. 0.4 Sicherheitsempfehlungen - Keine Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 2/18

1 Festgestellte Tatsachen 1.1 Vorgeschichte Der Bahnhof Koblenz wird im Jahre 2013 total umgebaut. Die bisherigen nicht schienenfreien Perrons werden durch ein Mittelperron ersetzt, welches durch eine Unterführung erschlossen wird. Die Gleisanlagen werden entsprechend angepasst und die Bahnsicherungsanlagen ersetzt. Im Herbst/Winter 2012 wurden Vorarbeiten, wie das Erstellen von Mastfundamenten für die neue Gleislage, ausgeführt. Gleisplan Ist-Zustand Koblenz siehe Anlage 1. Bauarbeiten in Gleisnähe wurden durch Sicherheitswärter gesichert. Für Arbeiten innerhalb des Gleisprofils hat der Sicherheitswärter jeweils beim Fahrdienstleiter kurzfristige Gleissperrungen verlangt. Diese Gleissperrungen wurden in der Checklisten CL-F 11 A (Einführung) und CL-F 11 B (Aufhebung) protokolliert (Anlage 3). Für diese Vorarbeiten wurde keine Betriebliche Anordnung erstellt. Das Sicherheitsdispositiv wurde am 13. August 2012 durch die Firma SiBau im Auftrag der SBB erstellt (im Vieraugenprinzip durch die SBB überprüft). Die Sicherheitswärter wie auch der Fahrdienstleiter waren im Besitze dieses Sicherheitsdispositivs. 1.2 Ablauf des Ereignisses Am Mittwochnachmittag, 14. November 2012 waren zwei Baugruppen einer privaten Baufirma auf der Ostseite des Bahnhofes Koblenz mit Bauarbeiten beschäftigt. Die eine Baugruppe befand sich zwischen den Gleisen 2 und 3 am Ende des Zwischenperrons, die zweite Baugruppe ca. 100 m weiter weg zwischen den Gleisen 40 und 1 Höhe Fahrleitungsmast 53 (Bahnkm 41.290 bzw. 48.210). Bei beiden Arbeitsgruppen befand sich ein Sicherheitswärter (Situation siehe Anlage 1). Drei Mitarbeiter der privaten Baufirma waren mit dem Schalen und Betonieren des neuen Mastfundamentes bei Mast 53 (alt) zwischen den Gleisen 40 und 1 beschäftigt. Ein erstes Mastfundament wurde am richtigen Ort erstellt, aber nicht richtig ausgerichtet. Es musste vorgängig wieder entfernt werden. Da sie auf den Beton warten mussten, benutzte der Sicherheitswärter 1 die Gelegenheit, um auszutreten. Er wies die drei Mitarbeiter der privaten Baufirma an, sich ausschliesslich in Gleis 40 (definierter Fluchtraum) oder auf der Freiverladeseite ausserhalb des Gleisbereichs aufzuhalten und während seiner Abwesenheit keinesfalls Gleis 1 zu betreten. Als er sich entfernt hatte, begab sich der Baggerführer plötzlich zur Schalung des Mastfundamentes beim Gleis 1. Als seine beiden Kollegen den ausfahrenden Zug bemerkten, warnten sie ihn mit Zurufen. Er rannte Richtung Mast 53 davon. Er wurde vom Steuerwagen erfasst und schwer verletzt. Unfallstelle Schalung des Mastfundamentes. Aufenthaltsbereich der Bauarbeiter in Gleis 40 Gleis 40 Gleis 1 Foto 1: Unfallstelle beim Mast 53 (Foto: Quelle SBB). Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 3/18

Der Sicherheitswärter 1 der Arbeitsgruppe beim Mast 53 sagte gegenüber der Kantonspolizei und der SUST aus, dass die Arbeitsgruppe ab ca. 08.30 Uhr zuerst das falsch erstellte Fundament mit dem Spitzhammer wieder entfernt habe. Am Nachmittag seien dann die Schalungsarbeiten für das neue Fundament ausgeführt worden. Um ca. 14.30 Uhr seien diese Arbeiten abgeschlossen gewesen. Die Arbeiter hätten die neue Schalung nochmals ausgemessen und danach auf den Beton gewartet. Er habe den drei Bauarbeitern gesagt, dass die Arbeiten nun unterbrochen würden und sie sich vom Gleis weg ins Gleis 40 begeben sollen, um hier im sicheren Bereich zu warten. Er selber habe das WC aufsuchen müssen und den drei Arbeitern nochmals gesagt, dass sie sich nicht mehr in den Gleisbereich begeben dürften. Der Sicherheitswärter 2 der Arbeitsgruppe zwischen den Gleisen 2 und 3 sagte gegenüber der Kantonspolizei aus, dass er bei Zugsabfahrt einen Bauarbeiter bei der Schalung des Mastfundamentes bei Gleis 1 gesehen habe. Da er den zuständigen Sicherheitswärter nicht gesehen habe, habe er sofort zwei Hornsignale (Signal zum sofortigen Räumen aller Gleise) abgegeben. Ein Achtungssignal des Zuges habe er nicht gehört. Zug 8459 war fahrplanmässig in Koblenz Gleis 1 eingefahren. Nach erfolgtem Fahrgastwechsel fuhr er Richtung Bad Zurzach ab. Die Lokführerin sagte gegenüber der Kantonspolizei und der SUST aus, dass sie gemäss Gestes métier (vorgeschriebener Abfahrprozess bei SBB Personenverkehr) abgefahren sei. Beim Beschleunigen habe sie einen Bauarbeiter bei der Schalung etwas nahe am Gleis gesehen und sofort eine Schnellbremsung eingeleitet. Sie habe die Kollision mit dem Bauarbeiter nicht verhindern können. Vor der Kollision habe sie das Gefühl gehabt, dass der Bauarbeiter den herannahenden Zug gesehen habe. Mast 53 Foto 2: Blick vom Führerstand (vom normalen Halteort des Zuges) Richtung Mast 53 (Quelle SUST). Die beiden Bauarbeiter im Warteraum Gleis 40 sagten gegenüber der Kantonspolizei und der SUST aus, dass ihnen der Sicherheitswärter 1 die Anweisung gegeben habe, auf Gleis 40 auf den Beton zu warten. Er selber müsse austreten. Sie dürften bis zu seiner Rückkehr keinesfalls den Gleisbereich betreten. Der Verunfallte sei plötzlich zur Grube gelaufen und sei zwischen der Grube und Gleis 1 gestanden mit dem Rücken zum Bahnhof. Sie hätten den Verunfallten mit Zurufen über den abfahrenden Zug gewarnt. Der Verunfallte sei Seite Gleis 1 um die Grube herum gelaufen und da vom Zug erfasst worden. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 4/18

1.3 Personenschäden Bahnpersonal Reisende Drittpersonen Tödlich verletzt: 1 1.4 Sachschaden an der Infrastruktur An den Anlagen von SBB Infrastruktur entstanden keine Schäden. 1.5 Sachschäden am Rollmaterial Am Rollmaterial von SBB Personenverkehr entstanden keine Schäden. 1.6 Sachschäden Dritter Weitere Dritte kamen beim Ereignis keine zu Schaden. 1.7 Ökologische Schäden An der Umwelt entstanden keine Schäden. 1.8 Beteiligte Personen 1.8.1 Bahnpersonal Bei den Mitarbeitern der Verkehrs- und Infrastrukturunternehmungen sind keine Verstösse gegen arbeitsrechtliche Bedingungen festgestellt worden. 1.8.1.1 Lokführerin SBB, Jahrgang 1988, BAV-Ausweis vorhanden. 1.8.1.2 Fahrdienstleiter SBB, Jahrgang 1949. 1.8.2 Reisende In Zug 8459 befanden sich ca. 30 Reisende. 1.8.3 Drittpersonen 1.8.3.1 Sicherheitswärter 1, Mitarbeiter der Firma Sersa, Standort bei Mast 53. Jahrgang 1988. 1.8.3.2 Sicherheitswärter 2, Mitarbeiter der Firma Sersa, Standort zwischen den Gleisen 2 und 3. Jahrgang 1972. 1.8.3.3 Baggerführer der Firma Birchmeier AG, Standort bei Mast 53. Jahrgang 1960 (Verunfallter) 1.8.3.4 Bauarbeiter der Firma Birchmeier AG, Standort auf Gleis 40. Jahrgang 1962. 1.8.3.4 Lehrling der Firma Birchmeier, Standort auf Gleis 40. Jahrgang 1994. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 5/18

Alle auf der Baustelle beschäftigten Mitarbeiter haben die vorgeschriebene Sicherheitsausrüstung getragen. Die Stimmung auf der Arbeitsstelle war gut. Es herrschte keine Stresssituation. 1.9 Medizinische Feststellungen Es gibt keine Anhaltspunkte für gesundheitliche Störungen des Bahnpersonals, welche das Unfallgeschehen hätten beeinflussen können. Der Alkoholtest bei der Lokführerin wie auch bei den Sicherheitswärtern war negativ (0,00 ). 1.10 Überlebensaspekte Bei einem Aufenthalt aller Bauarbeiter im zugewiesenen sicheren Raum von Gleis 40 wäre es nicht zum Unfall gekommen. 1.11 Schienenfahrzeuge NPZ Domino, Formation Spitze Schluss: Steuerwagen ABt 5085 39-43851-7 Zweitklasswagen B 5085 29-43119-1 Triebwagen RBDe 560 262-8. Zugslänge 75 m. Zug- und Bremsverhältnis R 125%, vmax 140 km/h. Eigentümerin: SBB AG Division Personenverkehr, Wylerstrasse 123/125, 3000 Bern 65. 1.12 Feststellung an den Schienenfahrzeugen Die visuelle Kontrolle der Schienenfahrzeuge (NPZ-Domino) durch die SUST ergab keine Beanstandungen. Die Schienenfahrzeuge waren in einem guten Zustand. 1.13 Strassenfahrzeuge Für die Bauarbeiten am Mastfundament zwischen den Gleisen 40 und 1 wurde ein Bagger der Firma Birchmeier AG eingesetzt. Der Bagger war nicht am Ereignis beteiligt. 1.14 Wetter, Schienenzustand Tag, leichte Bewölkung. Temperatur +7. Sicht gut (keine Blendwirkung). Schienen trocken. 1.15 Bahnanlagen und Sicherungssysteme 1.15.1 Bahnanlagen Der Bahnhof Koblenz verfügt über keine schienenfreie Zugänge. Die Reisezüge benützen die Gleise 1 3. Jeweils zur Minute 15 und 45 finden regelmässige Zugskreuzungen der Züge von/nach Waldshut, Bad Zurzach und Döttingen statt. Die Zugsein- und Ausfahrten werden durch den Fahrdienstleiter vor Ort überwacht. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 6/18

Die Höchstgeschwindigkeit im Perronbereich beträgt gemäss Dienstfahrplan 20 km/h (keine schienenfreie Zugänge zu den Mittelperrons). Der Bahnhof Koblenz wird zur Zeit umgebaut. 1.15.2 Sicherungssysteme Infrastruktur Der Bahnhof Koblenz ist mit einer Sicherungsanlage des Typs Integra-Domino 67 mit gesicherten Rangierfahrstrassen ausgerüstet. Zum Zeitpunkt des Ereignisses befand sich die Sicherungsanlage im Modus Ortsbetrieb (OB) und wurde durch den Fahrdienstleiter vor Ort bedient. Die Bahnsicherungssysteme haben normal funktioniert. Sie sind für den Ablauf des Ereignisses nicht relevant. 1.15.3 Sicherungssysteme Fahrzeuge Der NPZ-Domino ist mit der elektronischen Sicherheitssteuerung und mit der automatischen Zugsicherung mit Magnetfeldsonde sowie mit der Zugbeeinflussung ZUB 262c (SBB/BLS) ausgerüstet. 1.16 Fahrdatenschreiber Der Triebwagen RABDe 560 262-8 ist mit einer elektronischen Geschwindigkeitsmessanlage Hasler Teloc 2000 ausgerüstet. Die Fahrdaten werden elektronisch aufgezeichnet. Sie wurden durch die Verkehrsunternehmung ausgelesen und ausgewertet (Anlage 2). Die Auswertung der Fahrdaten ergab, dass der Zug unmittelbar vor dem Ereignis mit einer Geschwindigkeit von 42,370 km/h gefahren war und somit die für diesen Streckenabschnitt vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h nicht überschritten hatte (siehe auch 1.18). Die Lokführerin hatte die Schnellbremsung unverzüglich eingeleitet, der Anhalteweg betrug 69 m. Die Abgabe eines Achtungssignals wurde nicht registriert. 1.17 Übermittlung Zwischen dem Fahrdienstleiter und den beiden Sicherheitswärtern bestand Funkkontakt (SBB-Analogfunk). Betriebliche Anordnungen wie das Einführen und Aufheben von Gleissperrungen usw. wurden über Funk angeordnet, Sperrungen entsprechend protokolliert (Anlage 3). Die Funkgespräche werden nicht aufgezeichnet. 1.18 Resultate aus den besonderen Untersuchungen Für die Bauarbeiten wurde das gemäss den Schweizerischen Fahrdienstvorschriften FDV 300.12 Arbeiten im Gleisbereich Abschnitt 3.1.4 bzw. der RTE 20100 Sicherheit bei Arbeiten im Gleisbereich Abschnitt 2.2 vorgeschriebene Sicherheitsdispositiv erstellt. Die im Sicherheitsdispositiv aufgeführten Bahnkilometer beziehen sich auf die Strecke (Turgi) Koblenz Waldshut. Im Sicherheitsdispositiv ist eine Fahrgeschwindigkeit im Bahnhofbereich von 40 km/h, im Perronbereich von 20 km/h vorgeschrieben. Die normale Ausfahrgeschwindigkeit von Koblenz nach Bad Zurzach via Gleis 1 beträgt 60 km/h. Dies wurde im Sicherheitsdispositiv nicht berücksichtigt. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 7/18

Im Perronbereich beträgt die Höchstgeschwindigkeit gemäss Dienstfahrtplan 20 km/h. Die Ein- und Ausfahrgeschwindigkeit Seite Waldshut und Seite Döttingen beträgt 40 km/h und musste daher nicht speziell signalisiert werden. Da für die Ausfahrt Seite Bad Zurzach (vmax gemäss Dienstfahrplan 60 km/h) im Sicherheitsdispositiv keine Geschwindigkeitsbeschränkung vorgeschrieben war, wurde weder im elektronischen Fahrplan der Lokführerin noch mittels Langsamfahrsignalen gemäss den Schweizerischen Fahrdienstvorschriften FDV 300.2 Signale, Abschnitt 2.3.4 Langsamfahrsignale eine Reduktion der Geschwindigkeit auf 40 km/h angezeigt (Anlagen 4 und 5). 2 Analyse 2.1 Technische Aspekte - Die visuelle Kontrolle der am Ereignis beteiligten Schienenfahrzeuge durch die SUST ergab keine Beanstandungen. - Die Bahnsicherungsanlagen haben normal funktioniert. 2.2 Betriebliche Aspekte - Gemäss den Schweizerischen Fahrdienstvorschriften FDV (R 742.173. 001), R 300.12 Arbeiten im Gleisbereich Kapitel 3.2 bzw. der R RTE 20100 Sicherheit bei Arbeiten im Gleisbereich sind betriebliche Massnahmen zu planen und mit dem zuständigen Dienst der Infrastrukturbetreiberin rechtzeitig abzusprechen. Eine Betriebliche Anordnung wurde für die Bauphase der Vorarbeiten im Bahnhof Koblenz nicht erstellt (Anlage 7). - Das Sicherheitsdispositiv wurde am 13. August 2012 durch die Firma SiBau im Auftrag der SBB erstellt und im Vieraugenprinzip durch die SBB überprüft. Der Sicherheitschef privat wurde durch die Firma Birchmeier AG gestellt. Die Broschüre Ich schütze mich der SBB wurde den beteiligten Mitarbeitern der Firma Birchmeier AG gegen Unterschrift in der jeweiligen Landessprache abgegeben. Das Sicherheitsdispositiv enthält die für die Arbeitsstelle notwendigen Angaben zu den Sicherheitsmassnahmen. Die im Sicherheitsdispositiv aufgeführten Bahnkilometer beziehen sich auf die Strecke (Turgi) Koblenz Waldshut. Für die Strecke (Eglisau) Koblenz Stein-S. besteht eine andere Kilometrierung (siehe auch Plan Anlage 1). Zusätzliche Anordnungen wie das Aufstellen von Langsamfahrsignalen sind durch die Sicherheitsleitung bei SBB I-FN-IE zu bestellen. Die Ausführung vor Ort (Aufstellen der Langsamfahrsignale) erfolgt durch SBB I-IH (Infrastruktur Instandhaltung). Im vorliegenden Fall wurde im Sicherheitsdispositiv für Ausfahrten Richtung Bad Zurzach keine Geschwindigkeitsreduktion vorgeschrieben und daher wurden auch keine Langsamfahrsignale aufgestellt bzw. kein Eintrag in den elektronischen Fahrplan LEA II veranlasst. Die Geschwindigkeitsreduktion auf 40 km/h hätten die Kollision mit dem Mitarbeiter der Firma Birchmeier AG allerdings nicht verhindert. - Der Sicherheitswärter 1 der Baugruppe bei Mast 53 musste austreten. Er hat den drei Mitarbeitern der Firma Birchmeier AG den sicheren Aufenthaltsraum in Gleis 40 zugewiesen und ihnen untersagt, bis zu seiner Rückkehr den Gefahrenraum von Gleis 1 zu betreten. Dieses Vorgehen entspricht den Vorschriften in der RTE 20100, Abschnitt 2.4.3.10 (Anlage 6). Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 8/18

- Zug 8459 ist nach erfolgtem Fahrgastwechsel nach Angaben der Lokführerin gemäss dem Abfahrprozess Gestes métier von SBB P abgefahren. - Zug 8459 ist mit einer Geschwindigkeit von 42.370 km/h gefahren und hat die für diesen Streckenabschnitt vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h nicht überschritten. Die im Sicherheitsdispositiv vorgeschriebene Geschwindigkeitsreduktion auf 40 km/h war weder signalisiert (keine Langsamfahrsignale) noch im elektronischen Dienstfahrplan LEA II vermerkt. - Beim Erkennen der Gefahrensituation hat Zug 8459 eine Schnellbremsung eingeleitet. Da die Kollision unmittelbar nach dem Einleiten der Schnellbremsung erfolgte, wurde kein Achtungssignal mehr abgegeben. - Der verunfallte Mitarbeiter der Firma Birchmeier AG hat die vorgeschriebenen Sicherheitskleidung (Helm / Sicherheitsschuhe / orange Arbeitskleidung) getragen. - Bei den vorgängigen Arbeiten im Gleisbereich wurde das Gleis 1 jeweils gemäss den Vorschriften gesperrt bzw. wieder freigegeben. Diese Sperrungen wurden ordnungsgemäss protokolliert (Anlage 3). 2.3 Menschliche Aspekte - Auf der Baustelle herrschte kein Zeitdruck. Die mit der Erstellung des Mastfundamentes bei Mast 53 beauftragten Mitarbeiter hatten die Vorarbeiten (Aushub und Schalung sowie Nachmessen) abgeschlossen und warteten auf die Betonlieferung. - Das Arbeitsklima auf der Baustelle war gut. 3. Schlussfolgerungen 3.1 Befunde Für die Bauarbeiten im Bahnhof Koblenz wurde keine Betriebliche Anordnung erstellt. Das Sicherheitsdispositiv wurde erstellt und den beteiligten Sicherheitswärtern sowie dem Sicherheitschef instruiert. Das eingesetzte Personal der Firma Birchmeier AG war über die besonderen Gefahren des Eisenbahnbetriebes informiert. Zug 8459 hat nach dem Abfahrprozess gemäss Gestes métier normal beschleunigt. Die im Sicherheitsdispositiv vorgesehene Geschwindigkeitsreduktion auf 40 km/h im Baubereich war weder signalisiert (keine Langsamfahrsignale) noch im Dienstfahrplan LEA II enthalten. Beim Erkennen der Gefahrensituation hat Zug 8459 eine Schnellbremsung eingeleitet. Die Abgabe eines Achtungssignals ist in den Fahrdaten nicht aufgezeichnet. Der Sicherheitswärter 1 hat vor dem Verlassen der Baustelle bei Mast 53 die drei Mitarbeiter der Firma Birchmeier AG angewiesen, sich bis zu seiner Rückkehr im sicheren Bereich des Gleises 40 (definierter Fluchtraum) aufzuhalten und den Gefahrenbereich bei Gleis 1 keinesfalls zu betreten. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 9/18

3.2 Ursache Der Verunfallte hat aus nicht nachvollziehbaren Gründen den sicheren Bereich verlassen und sich kurz vor der Durchfahrt von Zug 8459 ins Profil von Gleis 1 begeben. Der Unfall ist darauf zurückzuführen, dass sich der Verunfallte trotz der Weisung des Sicherheitswärters, sich im Fluchtraum von Gleis 40 aufzuhalten, zur Baugrube im Profil von Gleis 1 begeben hat und Höhe Mast 53 vom ausfahrenden Zug 8459 erfasst wurde. Zum Unfall haben beigetragen: - dass der Sicherheitswärter 1 austreten musste; - dass sich der Verunfallte entgegen den Anweisungen des Sicherheitswärters ins Profil des Gleises 1 begeben hat; - dass Zug 8459 trotz rechtzeitig eingeleiteter Schnellbremsung nicht rechtzeitig anhalten konnte. 3.3 Risikoabschätzung Werden betriebliche Massnahmen wie Geschwindigkeitsreduktionen usw. nicht im Sicherheitsdispositiv erwähnt, so kann das zu gefährlichen Situationen auf Baustellen führen. 4 Sicherheitsempfehlung 4.1 Sicherheitsdefizit Im vorliegenden Ereignis wurde im Sicherheitsdispositiv für die Ausfahrt Richtung Bad Zurzach keine Geschwindigkeitsreduktion angeordnet. 4.2 Getroffene Massnahmen Seit dem Unfall umgesetzte Massnahmen: Keine. 4.3 Sicherheitsempfehlung - Keine. Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 10/18

Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST Bereich Bahnen und Schiffe Bern, 06. Juni 2013 Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST Bereich Bahnen und Schiffe Dieser Untersuchungsbericht wurde von der Geschäftsleitung der Schweizerischen Unfalluntersuchungstelle SUST genehmigt (Art. 3 Abs.4g der Verordnung über die Organisation der Schweizerischen Unfalluntersuchungsstelle vom 23. März 2011). Bern, 18. Juli 2013 Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 11/18

Gleisplan Koblenz Anlage 1 Gelber Pfeil = Fahrrichtung Zug 8459 Vom Sicherheitswärter 1 zugewiesener Aufenthaltsraum der Baugruppe Unfallstelle Standort Sicherheitswärter 2 Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 12/18

Fahrdaten Zug 8459 Anlage 2 RBDe 560 262-8 Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 13/18

Checkliste Anlage 3 CL-F 11 A und 11 B (Gleis sperren, Gleissperre aufheben) Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 14/18

Anlage 4 LEA-Fahrordnung Zug 8459 Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 15/18

Schweizerische Fahrdienstvorschriften FDV Anlage 5 R 300.2 Signale Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 16/18

Sicherheit bei Arbeiten im Gleisbereich Anlage 6 RTE 20100 Schweizerische Fahrdienstvorschriften FDV (R 742.173.001) Anlage 7 FDV 300.12 Arbeiten im Gleisbereich Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 17/18

Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST 18/18