Vier Interpretationsansätze zu Franz Kafka: Das Urteil

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Transkript:

Germanistik Julia Siebert Vier Interpretationsansätze zu Franz Kafka: Das Urteil Studienarbeit

Franz Kafka: Das Urteil. Vier Interpretationsansätze Julia Siebert Inhalt 1. Einleitung... 3 2. Das Urteil... 3 3. Vier Interpretationsansätze... 5 3.1 Biographischer Interpretationsansatz...5 3.1.1 Die Protagonisten...5 3.1.2 Das Heiratsthema im Urteil...8 3.1.3 Die Beziehung zwischen Vater und Sohn...10 3.2 Psychologischer Interpretationsansatz...13 3.2.1 Der ödipale Konflikt...13 3.2.2 Das Korrespondenzverhältnis zwischen Georg und dem Freund..14 3.3 Soziologischer Interpretationsansatz...17 3.3.1 Die Sprache der Macht...18 3.4 Dekonstruktiver Interpretationsansatz...22 Literatur... 26

1. Einleitung Die Vielzahl unterschiedlicher Deutungsversuche, die im Laufe der Zeit unternommen worden sind, um die Werke Kafkas im besten Sinne zu begreifen, deuten bereits darauf hin, dass es den Interpretationsansatz schlechthin nicht zu geben scheint. Es liegt ja eben in der Natur literarischer Texte, dass in ihnen unterschiedliche Sinnsysteme vereint sind, die sich überlagern und ineinander verflochten sind, so dass sie gleichermaßen auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Eine ganzheitliche Interpretation kann also nur als ein aus vielen unterschiedlichen Lesarten bestehendes Geflecht verstanden werden. Dies gilt im Besonderen auch für Das Urteil, dessen Untersuchung hinsichtlich unterschiedlicher Lesarten Gegenstand dieser Arbeit sein soll. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auf die vier gängigsten Interpretationsansätze des Urteils eingehen. Diese sind der biographische, der soziologische, der psychologische bzw. psychoanalytische und der dekonstruktive Ansatz. 2. Das Urteil Die Erzählung Das Urteil ist in der Nacht vom 22. September 1912 entstanden. Über diesen Tag schreibt Kafka ein halbes Jahr später an seine Verlobte, Felice Bauer, er wollte nach einem zum Schreien unglücklichen Sonntag anfänglich einen Krieg beschreiben 1. Im Zusammenhang mit dieser Grundstimmung ist es nicht verwunderlich, dass sich im Verlauf der Geschichte tatsächlich ein Krieg zwischen Vater und Sohn entwickelt, der auf dem Schlachtfeld der verbalen und nonverbalen Kommunikation ausgetragen wird. 1 Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 394.

4 Dass Kafkas Texte häufig von Begriffen wie Schuld, Urteil, Strafe und Verhör geprägt sind, ist sicherlich auch seiner Tätigkeit als Jurist und der damit einhergehenden intensiven Auseinandersetzung mit diesen Begriffen zuzuschreiben. Besonders Titel wie Der Prozeß, Vor dem Gesetz, In der Strafkolonie und eben auch Das Urteil lassen die enge Verbindung Kafkas mit einer juristisch geprägten Sprache erkennen. Häufig begegnet der Leser Figuren, die in irgendeiner Form verurteilt werden, wobei es sich bei der urteilenden Instanz sowohl um konkrete Personen handeln kann, wie dies im Urteil, in Elf Söhne oder auch beim Amerika-Roman der Fall ist, als auch um eine unbestimmbare und somit unberechenbare Menge von Urteilsinstanzen, deren Richtgewalt sich sogar auf Leben und Tod bezieht, wie es sich im Prozeß abspielt. Dass Kafka seinen eigenen Vater als urteilende Instanz betrachtet hat, wird dadurch deutlich, dass in Verbindung mit ihm häufig von Urteil, Verurteilung und Schuld die Rede ist. Im Brief an den Vater heißt es bereits zu Beginn: Faßt Du Dein Urteil über mich zusammen, so ergibt sich, dass Du mir zwar etwas geradezu Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst [...], aber Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit. Und zwar wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als hätte ich etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können, während Du nicht die geringste Schuld daran hast, es wäre denn die, daß Du zu gut zu mir gewesen bist. 2 So wird doch Kafka seit jeher begleitet von Fragen der Schuld oder Unschuld und von dem, im Falle der Schuld, verhängten Urteil des Vaters, und schuldig gemacht hat sich Kafka gegenüber seinem Vater - schenken wir seinen Schilderungen glauben - eigentlich bei allem, was er tat. Wie aber wird im Falle des Urteils Schuld zugewiesen? Gerhard Neumann sieht die Antwort auf diese Frage in dem Moment, in dem das Gespräch zwischen Vater und Sohn zu einem Ritual der Wahrheitsfindung deklariert und umfunktioniert 3 wird. Dies geschieht, als der alte Bendemann fordert, 2 Franz Kafka: Brief an den Vater. Hrsg. Michael Müller. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co. 1995, S. 8. 3 Gerhard Neumann: Franz Kafka. Das Urteil. Text, Materialien, Kommentar. München: Carl Hanser Verlag 1981, S. 98.