S P E R R F R I S T: Redebeginn Es gilt das gesprochene Wort. Dr. Hermann Otto Solms Vizepräsident des Deutschen Bundestages Grußwort anlässlich des Parlamentarischen Abends zu Ehren der Gebrüder Grimm am 16. April 2013 im Reichstag zu Berlin
1 Anrede, die Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm gehören zu den am meisten gelesenen Büchern der Welt. Aus diesem Grund will ich Ihnen, verehrte Gäste, zuerst einmal eine Frage stellen. Welche Märchenfigur sagt folgenden Satz: Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; (Auflösung: Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß. ) Sehen Sie, genau das habe ich erwartet: Nicht nur in Kassel und Nordhessen ist man mit den Grimmschen Märchen vertraut, sondern auch hier in Berlin! Hänsel und Gretel, Schneewittchen, Frau Holle, Der Froschkönig, ja alle Grimmschen Märchen sind schließlich Teil unserer Kultur genau wie Schillers Glocke und Goethes Faust.
2 Indes waren Jacob und Wilhelm Grimm nicht nur fleißige Märchensammler. Nein! Sie gehören zu den bedeutendsten Gelehrten des 19. Jahrhunderts und zählen zu den Mitbegründern der Germanistik. Werke wie das monumental zu nennende Deutsche Wörterbuch oder die Deutsche Grammatik sind Meilensteine der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Wollte man die beiden zeitlebens unzertrennlichen, wenn auch zeitweilig getrennten Grimm-Brüder auf Stichworte wie Märchenonkel oder Elfenbeinturm-Gelehrte reduzieren, täte man ihnen allerdings unrecht. Sie waren KEINE Repräsentanten einer lieblichen und märchenhaften Biedermeier-Idylle, sondern politisch interessierte Intellektuelle, die sich auch nicht scheuten, politische Verantwortung zu übernehmen.
3 1785 bzw. 1786 in Hanau geboren werden sie an verschiedenen Lebensstationen Zeugen einer höchst unruhigen, von tiefgreifenden Veränderungen geprägten Epoche kontinentaleuropäischer Geschichte. Französischen Revolution, Napoleonische Kriege, das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation; Befreiungskriege und französische Fremdherrschaft erleben sie ebenso hautnah wie bewusst. Mehr noch: Jacob Grimm nimmt 1814/15 als Diplomat am Wiener Kongress teil. Der Länderschacher, wie er es nennt, ist ihm freilich schnell zuwider und es zieht ihn zurück in die Bibliotheken und Hörsäle. Gemeinsam mit fünf weiteren Göttinger Professoren werden Jacob und Wilhelm Grimm 1837 wenn auch unbeabsichtigt zu Symbolfiguren der erstarkenden liberalen Opposition in Deutschland:
4 Als der neue König von Hannover die vergleichsweise liberale Staatsverfassung im Königreich Hannover außer Kraft setzt, protestieren sieben der 32 Göttinger Professoren gegen diesen Schritt. Sie fühlen sich an den Eid auf das Staatsgrundgesetz gebunden. Alle sieben Professoren werden daraufhin ihrer Ämter enthoben. Drei von ihnen müssen das Königreich binnen drei Tagen verlassen. Unter den Ausgewiesenen auch Jakob Grimm. Die Göttinger Sieben werden zu Helden der liberalen Kräfte, zu Symbolfiguren des Widerstandes gegen die Restaurationsbestrebungen der Obrigkeit. Der mutige Protest wird zum Fanal im Vormärz und europaweit kommentiert. Der Grund: Nicht radikalisierte Studenten Nein! Professoren wenden sich gegen Monarchenwillkür und Verfassungsbruch.
5 In der politisch unruhigen Zeit des Vormärz weckt der Skandal Hoffnungen auf Reformen, politische Teilhabe und ein Ende der Repression. Kein Wunder also, dass nicht nur Jacob Grimm sondern auch drei weitere Professoren aus dem Kreis der Göttinger Sieben als Abgeordnete in das Paulskirchenparlament gewählt werden. Man will gemeinsam eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeiten! Die Weichen für die Einheit Deutschlands stellen! Persönlicher Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Freizügigkeit den Weg bereiten! Zwar hat sich Jacob Grimm schon im Oktober 1848 frustriert vom politischen Alltag aus der Nationalversammlung zurückgezogen, doch sein Antrag zu den Grundrechten des deutschen Volkes besticht auch heute noch durch seinen Inhalt. Darin der zentrale Satz: Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft."
6 Das hätten DDR-Bürger und Bürgerrechtler 1989 den DDR- Grenzern im Wortlaut zurufen können. Was 1989/90 gelang, die friedliche Revolution und die deutsche Einheit nämlich, scheitert 1848/49. Wie Heinrich August Winkler in seinem exzellenten Werk Der lange Weg nach Westen klar analysiert, waren die liberalen Kräfte in den 1830er bis 1850er Jahren mit dem Anspruch von Einheit UND Freiheit überfordert. Meine sehr geehrten Damen und Herrn, für die beiden, für Jacob Grimm vielleicht noch mehr als für seinen Bruder war die deutsche Einheit eine zentrale Lebenssehnsucht. Die Kleinstaaterei, den deutsche Flickenteppich des widernatürlich gespaltenen Vaterlandes lehnten sie ab möglicherweise wegen ihrer eigenen Erfahrungen in den deutschen Mittelstaaten. Jacob Grimm schreibt in einem Brief an seinen Freund Friedrich Christoph Dahlmann 1832:
7 Dieses Bedürfnis, gemeinschaftlich regiert zu werden, fühlen wir so wesentlich, dass eben die Gemeinschaft uns naturnothwendig das Verlangen, gut regiert zu werden fast nur sittlich nothwendig erscheint. Als Grundlage einer deutschen Einigung galt den Brüdern die gemeinsame deutsche Sprache. Jacob Grimm formuliert beim ersten deutschen Germanistenkongress 1846: Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden. Auch hierbei drängen sich sogleich die Bilder der deutschdeutschen Wiedervereinigung in den Sinn und das Motto, mit dem die Menschen friedlich protestieren: Wir sind das Volk. Liebe Gäste, nun könnte man den Eindruck gewinnen, die Grimms seien veritable Vertreter der liberalen Bewegung des Vormärz und der 1848er Revolution gewesen.
8 Es fällt mir als ausgewiesenem Liberalen zwar schwer, doch diesem Eindruck muss ich widersprechen: Jacob und Wilhelm Grimm waren keine Liberalen, wie wir sie aus der Gegenwart kennen. Das liberale Spektrum im Vormärz und zur Zeit der Nationalversammlung war sehr breit und ist nicht mit unserer Zeit zu vergleichen. Und die Quellen geben eine unzweifelhafte politische Standortbestimmung nicht her. Zudem haben sich die Brüder zeitlebens gewehrt, in Kategorien gesteckt zu werden. Das gilt im Übrigen auch für ihre Wissenschaft. Am ehesten könnte man die Grimms wohl ohne sie vereinnahmen zu wollen! als liberal-konservativ bezeichnen. Sie zählten zu den Anhängern der konstitutionellen Monarchie und wünschten sich eine Teilung der Macht zwischen Monarch und Parlament, wobei der Monarch verantwortungsvoll und gerecht zu regieren hatte und nicht über dem Recht stehen sollte.
9 Einen revolutionären Bruch zur Durchsetzung von Veränderungen um jeden Preis lehnten die Grimms ab. Vielmehr sollten sich Veränderungen organisch fortentwickeln in Einklang mit deutscher Tradition und Geschichte. Ihr Lebenskonzept war eben eines der Mäßigung und keines der Extreme. Gleichwohl gibt es Zeugnisse, dass sich Jacob Grimms liberalkonservative Ansichten mit fortschreitendem Alter verändert haben. In einem Brief an Freund Dahlmann schreibt er 1858 Wie oft muss einem das traurige Schicksal unseres Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen, und das Leben verbittern. Es ist an keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch große Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich.
10 Sie sehen: Die Sehnsucht nach der Einheit Deutschlands war groß. Die Hoffnung, sie erleben dürfen, blieb freilich unerfüllt. Verehrte Gäste, zum Schluss nun will ich ein wenig spekulieren: Ich denke, die Grimms wären recht angetan, wenn sie sehen könnten, was aus dem preußisch-österreichischen Dualismus und dem Flickenteppich-Deutschland ihrer Zeit geworden ist: Ein demokratischer Rechtsstaat mit einer soliden Verfassung, die Menschen- Bürger- und Freiheitsrechte garantiert. Funktionierende Parlamente. Pressefreiheit. Versammlungsfreiheit. Freizügigkeit. Unverletzlichkeit des Eigentums. Freiheit von Lehre und Forschung. Das meiste davon ist übrigens schon in der Verfassung von 1848 angelegt! Dazu kommen Frieden, Freiheit und Einheit in ganz Europa.
11 Ich bin der Auffassung, dass auch die Grimm-Brüder mit ihren Werken und ihrem Wirken ihren Teil zu den Entwicklungen beigetragen haben: als Märchensammler, als Kulturwissenschaftler und politisch interessierte Intellektuelle. Liebe Gäste, jetzt ist die Geschichte aus und wir wollen es halten, wie die Figuren am Ende vieler Märchen der Gebrüder Grimm: Wir wollen glücklich und vergnügt sein, bis an unser Lebensende und am heutigen Abend damit anfangen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.