Politikverdrossenheit - Vorgeschichte Vorformen in der deutschsprachigen Literatur Legitimationskrise und Unregierbarkeit (Die wissenschaftliche Kritik an den Parteien) 1
Vorformen in Deutschland PV taucht in wissenschaftlicher Literatur Anfang der 1980er Jahre, in den Wörterbüchern erst ab Anfang/Mitte der 1990er Jahre auf Bundes-, Staats-, Parlaments- und Parteienverdrossenheit bereits Ende der 50er Jahre nachweisbar (Schramm, Hessenauer, Kindler, Fraenkel) Kaum Interesse an Empirie Begriff/Forschungsprogramm nicht systematisch entwickelt Ähnliche Argumente, aber (fast) kein direkter Einfluß auf PV-Debatte 2
Legitimitätskrise/Unregierbarkeit Eine der wichtigsten Debatten der deutschen und der angelsächsischen Politikwissenschaft während der 70er Jahre Existiert in neo-marxistischer und in konservativer Variante Beide können als typische Vertreter einer Krisendebatte gelten (Kaase/Newton 1995): mass alienation, political distrust, dissatisfaction with democracy declining political participation, falling membership of established parties & groups increase in electoral volatility, support for extremist / antidemocratic politics & movements rise of direct political participation Konservativer Strang geht später in PV-Debatte über 3
Ausgangspunkt: Die Miller-Citrin-Kontroverse Debatte zwischen Miller (1974a,b) und Citrin (1974) um den Rückgang der Trust-In-Government-Werte in den USA Seit 1958 Bestandteil der US-amerikanischen Wahlstudien Items: How much of the time do you think you can the government in Washington to do what is right -just about always, most of the time, or only some of the time? Would you say the government is pretty much run by a few big interests looking out for themselves or that it is run for the benefit of all the people? Do you think that the people in the government waste a lot of money we pay in taxes, waste some of it or don't waste very much of it? Do you feel that almost all of the people running the government are smart people who usually know what they are doing, or do you think that quite a few of them don't seem to know what they are doing? Do you think that quite a few of the people running the government are a little crooked, not very many are, or do you think hardly any of them are crooked at all? Problem: Was bzw. auf welcher Ebene mißt die Skala? 4
Entwicklung Trust in Government (Auswahl) 80 60 "trust: most of the time" Zustimmung 40 20 "for a few big interests" 0 1960 1970 1980 1990 2000 5
Bedeutung von Trust in Government Schon die Erfinder warnten vor Interpretation im Sinne von Unterstützung für das regime, trotzdem immer wieder in diesem Sinne benutzt Citrin kann zeigen, daß auch mißtrauische Amerikaner dem System keineswegs die Unterstützung entziehen Diskussion zwischen Miller und Citrin kreist vor allem um die Frage, ob Meßwerte eher von issue- Distanzen oder eher von Bewertung der Amtsinhaber beeinflußt wird. Weder Citrin noch Miller sehen Daten als Beleg für Legitimitätskrise. Von der Nachwelt wurden ihre Artikel aber als der empirische Beweis für eine 6
A Crisis of Democracy? Ca. 200 Seiten starke Studie von Crozier/Huntington/Watanuki (1975) Knüpft direkt an Miller (1974) an. Außerdem: Neue Soziale Bewegungen und Ölkrise Enthält die Regierbarkeitsdebatte in kondensierter Form: Demokratien sind nicht mehr souverän, sondern in ein Netz von Abhängigkeiten eingebunden ( Globalisierung ) Wirtschaftliche und soziale Wandlungsprozesse führen zum Wertewandel, aus dem eine Schicht anti-autoritärer Leistungsverweigerer hervorgeht, die den Bestand der Demokratie gefährdet Im Zusammenhang damit müssen sich die Demokratien den intrinsic challenges stellen, die sie selbst hervorbringen. Es kommt zur Überlastung des Staates. 7
Die deutsche Unregierbarkeitsdebatte Beginnt mit dem DVPW-Kongreß 1975, nachzulesen vor allem in zwei Sammelbänden (Hennis et al. 1977/79) Schließt an Crozier/Huntington/Watanuki an, setzt aber stärker philosophisch-geistesgeschichtliche Akzente Brückenfunktion: Ende der 70er Jahre Übergang zur PV-Debatte (Rönsch 1977) Akzentverschiebung zur PV-Debatte orientiert sich nicht am System, sondern am Bürger ist stark auf Umfragedaten ausgerichtet hat weniger normative Unterströmungen Bei diesem Übergang spielen Medien und Demoskopie eine wichtige Rolle 8
Politikverdrossenheit - Bedeutungsanalyse Quantitative Untersuchung der deutsprachigen Literatur 1977-1999 Ausgangspunkt 1977: Erste Studie, die sich ausdrücklich auf Parteienverdrossenheit bezieht Endpunkt: Arbeitsökonomie Auswahlkriterien: Verwendung Verdrossenheitsbegriff Wissenschaftlicher Anspruch Zentrale Bedeutung von PV für betreffende Studie Problem: selbst bei starker Reduktion ca. 170 Titel, die berücksichtig werden müssen Entwicklung einer generischen Erklärung 9
Ein generisches Erklärungsmodell für PV Fokus auf Mass Politics mehrere Analyseebenen (ähnlich wie Hummell/Opp, Coleman, Esser) besonderes Interesse für Mikro-Ebene (Einstellungen) Vielfältige und sehr komplexe Annahmen über die Interaktionen zwischen den Ebenen werden selten explizit gemacht und fast nie überprüft 10
Generisches Erklärungsmodell II Makro- Ebene Politisch-ökonomische Situation Verhalten der politische Akteuere gesellschaftlicher Wandel Mikrobzw. Meso- Ebene Wahrnehmung/Wirkung Werte/Ideologien Formation von politischen Einstellungen Intermediäre Strukturen Medien Sozialisationsinstanzen Bezugsgruppen Vorhandene Einstellungen Aggregation Individuelles politisches Verhalten 11
Raster für Bedeutungsanalyse analytische Aspekte Welche Begriffe werden verwendet theoretische Vernetzung etc. inhaltliche Aspekte Einstellungen, Objekte, Verhaltensweisen Ursachen, Folgen etc. methodologische Aspekte Datenbasis, Operationalisierung politische Aspekte Schuldzuweisungen, Therapie 12
Verdrossenheits- Veröffentlichungen 13
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Ergebnisse: analytische Dimensionen Zahl der Verdrossenheitspublikationen folgt einem Konjunkturmuster Politik-, Parteien-, Politiker- und Staatsverdrossenheit werden am häufigsten verwendet, unterliegen aber eigenen Konjunkturzyklen Die meisten Autoren kombinieren mindestens zwei Begriffe und verwenden diese wie Synonyme Definitionen von PV sind uneinheitlich, falls sie überhaupt vorgenommen werden PV als intervenierende Variable in einem komplexen Prozeß Viele Autoren äußern Kritik an Forschung 20
Ergebnisse: inhaltliche Dimensionen Objekte: Selbst wenn man große Klassen bildet, ist die Literatur extrem heterogen. Am häufigsten sind Politiker und Parteien betroffen Einstellungen: Meist mehrere Einstellungen in Kombination. Am häufigsten Mißtrauen sowie Unzufriedenheit/Enttäuschung Verhaltensweisen: Nichtwahl, Wahl rechter Parteien, Wahl der Grünen (Konjunkturzyklen) Ursachen: Meist mehrere aus den unterschiedlichsten Bereichen (politischer, sozialer, ökonomischer Wandel, Korruption, innerparteiliche Probleme, Medien etc. etc.); in der Regel bloße Aufzählung 21
Ergebnisse: methodologische Dimensionen Operationalisierung: Meist wird kommentarlos auf vorhandene Indikatoren zurückgegriffen, die häufig wesentlich älter als die Verdrossenheitsdiskussion selbst sind Datenbasis: Anteil der Beiträge, die sich auf empirische Daten stützen, ist mit 80% relativ hoch, eigenständige Analysen sind aber selten. Gemessen an den teils komplexen Erklärungsversuchen ist die Datengrundlage meist dünn 22
Politische Dimensionen Deutliche Unterschiede zur älteren Krisenliteratur: kaum Schuldzuweisungen; wenn, dann an Parteien und Politiker Sehr heterogenes Angebot an Reform- / Therapievorschlägen 23