Friedens- und Konfliktforschung Weltpolitische Konstellationen 9. Vorlesung
Inhalt Internationales System und Gleichgewicht: Überlegungen zur internationalen Koalitionsbildung Russland: Interessen und Verhältnis zu den USA China: Interessen und Verhältnis zu den USA Indien: Interessen und Verhältnis zu den USA Die arabische Welt: Ambivalenzen und Probleme Bemerkungen zur Rentenökonomie Bildung und Brüchigkeit der Anti-Terror-Koalition Multilateralismus und Ad-Hoc-Koalitionen: Was ist der Unterschied? Warum bildet sich keine antiamerikanische Weltkoalition? WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 2
Hegemonie und Gleichgewicht: Überlegungen zur internationalen Koalitionsbildung Nach der realistischen oder neorealistischen Theorie bilden sich in den internationalen Beziehungen immer wieder Gleichgewichte heraus. In Situationen hoher Asymmetrie schließen die Staaten Bündnisse gegen den jeweils stärksten (Waltz) oder bedrohlichsten (Walt) Staat, um ihre eigene Sicherheit gegen Druck oder Aggression zu gewährleisten. Neben der Gleichgewichtsbildung kann auch das Trittbrettfahren als Verhaltensweise in Frage kommen. Der Trittbrettfahrer schließt sich dem Stärkeren an, um von ihm geschützt zu werden und mit seiner Hilfe eigene Interessen besser durchsetzen zu können. Im Englischen heißen die beiden Verhaltensweisen Balancing und Bandwagoning WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 3
Russlands Interessen und Positionen gegenüber den USA sind ambivalent Verbindende Aspekte Russland hat gleichfalls Probleme mit dem islamistischen Terrorismus Russland braucht die Wirtschaftshilfe der USA Russland wünscht die Duldung seines Tschetschenien-Krieges Ohne die Anerkennung durch die USA kann Russland seinen Weltmachtehrgeiz nicht befriedigen Trennende Aspekte Russland liegt in einigen Regionen im politisch/wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA Osteuropa Kaukasus Zentralasien Russland sieht sich durch die militärische Superiorität der USA bedrängt Der amerikanische Unilateralismus beschädigt die russische Weltmachtrolle In großen Teilen der russischen Elite misstraut man den USA WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 4
Der 11. September hat das amerikanisch-russische Verhältnis merklich verändert Zuvor handelte es sich um ein spannungsreiches Verhältnis, in dem Kooperation (Wirtschaft, nukleare Abrüstungshilfe) und Wettbewerb (regionale Rivalitäten, amerikanische Raketenabwehr) sich gegenseitig neutralisierten. Nach dem 11. September nutzte Präsident Putin die Gelegenheit, das Verhältnis zu den USA auf eine neue Basis zu stellen und sich als Alliierter im Kampf gegen den Terror zu profilieren. Auffällig vor allem die Zustimmung zur amerikanischen Präsenz in Zentralasien und das Ende der Opposition gegen NMD. Putin erreichte im Gegenzug die Tolerierung seines Tschetschenien-Krieges und des Umbaus Russlands zur autoritären Präsidialdemokatie WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 5
De amerikanisch-chinesischen Beziehungen sind noch deutlich spannungsreicher Verbindende Aspekte: Herausragendes wechselseitiges Interesse an Wirtschaftsbeziehungen Gemeinsames Interesse am Anti-Terror-Kampf (Uiguren in Westchina!) Krisendämpfung auf der koreanischen Halbinsel Trennende Aspekte Taiwan Regionales Gleichgewicht in Ost- und Südostasien Rüstungsfragen, Raketenabwehr Chinesische Exportpolitik bei Raketen, Nuklearem, Waffen (Iran!) Chinesische Außenhandelsund Währungspolitik (das amerikanische Handelsdefizit beträgt mehr als 100 Mrd. $) Menschenrechtsfragen WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 6
Nach dem 11. September verschob sich das Beziehungsgeflecht etwas mehr zur Kooperation Vor dem 11. September hatte es eine Verschärfung der Beziehungen gegeben (Zwangslandung eines amerikanischen Spionageflugzeugs, Raketenabwehr). Die USA setzten nach dem 11. September die uigurische Widerstandsgruppe auf die Terroristen-Liste Es kam zum Austausch von Geheimdienstinformationen. China unterstützte die Afghanistan-Resolutionen im UNSR Taiwan bleibt dennoch ein Problem (US-Waffenexporte). USA wirken jedoch mäßigend auf Taiwan ein. China engagiert sich stärker im Krisenmanagement in Korea. Der Chinesische Außenhandelsüberschuss wächst als Problem (US-Textilquoten). WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 7
Mit Indien bahnt sich für die USA eine neue, aber nicht widerspruchsfreie strategische Beziehung an Indien hat wegen des Kaschmir-Konflikts ein hohes Interesse an der Terror-Bekämpfung. Indien gefällt die amerikanische Präemptions-Doktrin als Modell für eigene Wünsche gegenüber Pakistan. Indien wünscht sich auch enge wirtschaftliche Beziehungen (wegen seiner schnell wachsenden IT-Branche) und strategische Kooperation (wegen der Rivalität mit China). Die USA haben die Kritik an den ind. Kernwaffen gedämpft. Zwischen den Seestreitkräften gibt es gemeinsame Manöver. Spannungen bleiben jedoch bestehen wegen der engen amerikanischen Beziehungen zu Pakistan. Indien missfällt der amerikanische Unilateralismus. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 8
Die Weltmachtbeziehungen sind daher komplizierter als ein einfaches Balancing/Bandwagoning -Modell Mit Europa unterhalten die USA eine enge Allianz, Europa stellt aber das konzeptionelle Gegenlager dar. Europa bleibt in seinem Verhältnis zu den USA uneinheitlich und damit im Konflikt schwach. Japan ist sicherheitspolitisch ganz auf die USA angewiesen und von den größeren Mächten am stärksten an Washington angelehnt. Mit China, Indien und Russland gibt es unterschiedliche Mischverhältnisse von Kooperation und Konflikt, aber keine eindeutigen Rivalitäten oder Trittbrettfahrertum. In all diesen Beziehungen üben die wirtschaftlichen Interessen eine starke Bindekraft aus, auch dort wo sie (USA vs. Europa, China, Japan) gelegentlich Konflikte beinhalten. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 9
Das Verhältnis der arabischen Welt zu den USA ist gespalten Verbindende Aspekte: Für viele arabische Regierungen sind die USA Schutzmacht gegen äußere Bedrohungen. Für Ägypten, Marokko, Jordanien sind die USA auch als Quelle von wirtschaftlicher und Militärhilfe wichtig. Die Regierungen teilen das Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, da sie selbst im Visier der Al Qaida sind. Viele Menschen bewundern Reichtum und Leistung der USA. Trennende Aspekte Wegen pro-israelischen US- Haltung gibt es beständige Spannungen. Viele Menschen mögen die USA wegen ihrer Macht und ihrer (wahrgenommenen) antiarabischen Politik nicht. Eine zu große Nähe der USA könnte den Regierungen innenpolitisch schaden. Die Demokratisierungsrhetorik der Bush-Regierung schafft Misstrauen. Mit Libyen und Syrien herrscht besondere Spannung. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 10
In vielen arabischen Ländern hängen Rentenökonomie, Repression und Fragmentierung zusammen. Die beiden Arabischen Entwicklungsberichte der VN haben den dortigen Regierungen ein besonders schlechtes Zeugnis ausgestellt. Es handelt sich zumeist um Rentenökonomien, die von Bodenschätzen und/oder externen Ressourcenübertragungen leben. In solchen Ökonomien entfalten sich die Marktkräfte nicht. Die Abschöpfung der Rente über den Staat macht diesen zum zentralen Verteilungsorgan nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher Chancen. Der Staat wird dann zum Objekt des Zugriffs einzelner Gruppen (Clans, religiöse Gruppierungen). Da der Staat die Ressourcen abschöpft, muss er nicht mit gesellschaftlichen Gruppen verhandeln: Der Staat bleibt repressiv. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 11
Die Anti-Terror-Koalition teilt ein wichtiges Interesse, bleibt aber fragil Der transnationale Terrorismus bedroht den Kern von Staatlichkeit. Es gibt daher ein system- und ideologieunabhängiges gemeinsames Interesse, ihn zu bekämpfen. Infolgedessen bildete sich eine ungewöhnlich breite Koalition von Staaten hinter den USA. Ihre Zusammenarbeit dauert bis heute. Hierin liegt eine beträchtliche Leistung der US- Diplomatie. Allerdings zeigen sich Risse im Zusammenhalt der Koalition. Sie resultieren z.t. aus der amerikanischen Irak-Politik, z.t. aus anderen Aspekten des US-Unilateralismus. Besonders auffällig sind diese Risse im amerikanischen Verhältnis zu Syrien und dem Iran. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 12
Zwischen Multilateralismus und Ad-Hoc-Koalitionen gibt es wesentliche Unterschiede Multilateralismus beruht auf dauerhaften institutionellen Strukturen Multilateralismus bedarf der ständigen Konsultation Multilateralismus ist zumeist rechtsförmig Multilateralismus übt auf alle Beteiligten Bindewirkung aus Multilateralismus schränkt Souveränität ein Multilateralismus dämpft die Wirkung von Machtasymmetrie Ad-hoc-Koalitionen bestehen aus keinen oder minimalen, kurzlebigen Institutionen Ad-hoc-Koalitionen kommen mit kurzfristigen Vereinbarungen aus Ad-hoc-Koalitionen brauchen keine rechtliche Verankerung Ad-hoc-Koalitionen binden nicht über den direkten Zweck hinaus In Ad-hoc-Koalitionen bleibt Souveränität uneingeschränkt In Ad-hoc-Koalitionen führt der Stärkste unbeeinträchtigt WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 13
Warum bildet sich keine Gegenmacht zu den USA? Die USA sind derart überlegen, dass eine Gleichgewichtspolitik zuviel Aufwand und Risiko erfordert. Wirtschaftliche Interessen und Sicherheitsinteressen schaffen ein Geflecht konfligierender und konvergierender Interessen, bei denen das erreichte Maß an Kooperation die Gegenmachtbildung überflüssig erscheinen lässt. Militärische Macht ist für viele Staaten weniger wichtig als in früheren Zeiten. Weiche Macht und Wohlfahrtsinteressen zählen mehr. Die meisten Staaten glauben nicht wirklich an eine aggressive Drohung von Seiten der USA. Könnte eine fortgesetzte unilaterale Überrüstungs- und Präventionspolitik diesen Zustand verändern? WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 14