Wolfgang R. Dick: Zur Vorgeschichte der Mitteleuropäischen Gradmessung. In: Beiträge zum J. J. Bayer-Symposium, Berlin-Köpenick,

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Transkript:

Wolfgang R. Dick: Zur Vorgeschichte der Mitteleuropäischen Gradmessung. In: Beiträge zum J. J. Bayer-Symposium, Berlin-Köpenick, 05. - 06. 11. 1994 (Deutsche Geodätische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Reihe E: Geschichte und Entwicklung der Geodäsie, Heft Nr. 25). Frankfurt am Main: Verlag des Instituts für Angewandte Geodäsie, 1996, S. 15 27. Preprint Please note that this text is only a preprint and is not completely identical with the published paper. The book Beiträge zum J. J. Bayer-Symposium can be obtained from Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, Geodatenzentrum, Frankfurt am Main, http://gdz.bkg.bund.de/flowserver/kshop?step=home&action=show

Zur Vorgeschichte der Mitteleuropäischen Gradmessung Wolfgang R. Dick (Potsdam) Den Höhepunkt in Johann Jacob Baeyers Schaffen stellt zweifellos die Gründung der Mitteleuropäischen (1862), später Europäischen Gradmessung (1867) dar. Ausgangspunkt hierzu war sein "Entwurf zu einer Mitteleuropäischen Gradmessung" vom April 1861. Aus der Literatur über die Internationale Erdmessung gewinnt man meist den Eindruck, daß dieser Entwurf der Geistesblitz eines Genies gewesen sein muß. Über die konkreten Umstände, unter denen er entstand, war bisher wenig bekannt. In einer Studie (Dick 1994) sind die verschiedenen Faktoren, die auf Baeyer einwirkten, untersucht worden. Sie sollen hier zusammengefaßt und ergänzt werden. Fakten und Zitate ohne Quellenangaben wurden der genannten Studie entnommen. Mit Ausnahme des Anhangs gelten hier die gleichen Regeln für die Wiedergabe von Zitaten. Herrn Dr. Ernst Buschmann (Potsdam) danke ich für zahlreiche Hinweise, Diskussionen und eine kritische Durchsicht des Manuskripts. 1. Bildung und Erfahrung Eine allgemeine Voraussetzung für Baeyers "Entwurf..." war natürlich seine Bildung und Erfahrung auf geodätischem Gebiet, insbesondere hinsichtlich von Gradmessungsarbeiten. Baeyer kann wohl als Schüler von Müffling betrachtet werden, auch wenn darüber wenig bekannt ist. Nachdem Baeyer 1816 nur fünf Monate lang die Kriegsschule besucht hatte, wurde er in dem durch General von Müffling geschaffenen "Topographischen Büreau" beschäftigt. Mit Müffling ging er Ende 1819 nach Erfurt und wurde an der "Triangulation von Thüringen" beteiligt. Müffling hat sich bekanntlich auch durch Gradmessungsarbeiten einen Namen gemacht. Den größten Einfluß auf Baeyer hinsichtlich von Meßtechnik und Durchführung von Gradmessungen hatte wohl Friedrich Wilhelm Bessel. Ihre gemeinsame Durchführung der Ostpreußischen Gradmessung ist durch die bekannte Publikation und neuerdings auch durch Briefe Baeyers an Bessel dokumentiert (Buschmann 1994; Hamel und Buschmann, in diesem Heft). 2. Die Idee eines europäischen Netzes von Gradmessungen Wilhelm Jordan schrieb im Nachruf auf Baeyer: "Die Vereinigung der verschiedenen Europäischen geodätisch-astronomischen Unternehmungen zu einem Ganzen war ein schon längst gehegter Wunsch und Plan der Geodäten gewesen, allein Baeyer war es vorbehalten, sozusagen das Columbus-Ei auf die Spitze zu stellen." Bereits Gauß plante eine "Verbindung aller großen Dreiecke von Europa", scheiterte aber daran, geodätische Daten aus den deutschen Nachbarstaaten Hannovers zu erhalten. Bessel 1

schrieb 1838 bei der Auswertung der Ostpreußischen Gradmessung: "Die Verbindung aller europäischen Gradmessungen untereinander wird also die Kenntnis der diesem Welttheile am meisten entsprechenden regelmäßigen Oberfläche weit kräftiger fördern, als diese Unternehmungen abgesondert thun können. Es wird hierzu auch weit erfolgreicher sein, Anstrengungen und Fleiß auf das zu verwenden, was den vorhandenen Gradmessungen selbst und ihren Verbindungen untereinander noch fehlt, als neue, abgesonderte hinzuzufügen." Wilhelm Struve bemerkte 1857: "Europa wird von vielfachen [...] Dreiecksmessungen in mannigfachen Richtungen durchschnitten. Es bildet sich so ein zusammenhängendes Europäisches Netz." Baeyer waren diese Überlegungen bekannt, wie aus einer Veröffentlichung von 1857 hervorgeht: "Die Wichtigkeit, [...] ein zusammenhängendes, über ganz Europa ausgespanntes Dreiecksnetz zu Stande zu bringen, liegt auf der Hand und wurde von den Russischen Geodäten stets als ein wichtiges Ziel ihrer Operationen angesehen [...]." Die Bestimmung der Dimensionen des Erdellipsoids war für Baeyer allerdings kein Thema mehr; diese Aufgabe sah er nach den Arbeiten von Bessel als gelöst an. Ihm ging es vor allem um die Bestimmung der Abweichungen von dieser regularisierten Figur der Erde - also dessen, was später als Geoid bezeichnet wurde. Hinweise auf solche Unregelmäßigkeiten fand er in den Arbeiten von Gauß, Bessel, Struve und anderen. 3. Baeyers Pensionierung Einen Wendepunkt in Baeyers Biographie stellen die Ereignisse von 1857/58 dar, deren Folgen ihn bis ans Lebenende auf teils produktive, teils tragische Weise beschäftigten. Die Vorgänge bleiben uns recht undurchsichtig, da sie im wesentlichen nur in ihren Auswirkungen auf Baeyer bekannt sind. Was hinter den Kulissen geschah und Baeyer selbst wohl auch nur ahnte statt erfuhr, kann nur vermutet werden. (Aufschlußreich wären sicher die Akten des Generalstabs und des Staatsministeriums - nach deren Existenz und Gehalt zu suchen, bleibt eine offene Aufgabe.) Da in der biographischen Literatur zu Baeyer einige Verwirrung über die Ereignisse herrscht, sei hier zusammengefaßt, was bisher darüber bekannt ist. 1851 hatte Baeyer einen "Entwurf zur Anfertigung einer guten Karte von den östlichen Provinzen des preußischen Staates nach dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft und Technik" in verschiedenen Ministerien in Umlauf gebracht. Darin kritisierte er den Zustand der preußischen Landesvermessung und schlug Verbesserungen vor. Die Vorlage stieß nicht nur in den angegriffenen militär-geodätischen Kreisen, sondern auch darüber hinaus auf heftige Ablehnung, da ein Zusammenhang mit einer geplanten Steuerreform vermutet wurde. Man fürchtete wohl, daß bessere Messungen der Ländereien höhere Steuern zur Folge haben könnten. Da mehrere Jahre "nichts in der Sache geschehen war", veröffentlichte Baeyer auf Anraten Alexander von Humboldts den Entwurf zusammen mit dessen Gutachten. Das entsprechende Heft des "Archivs für Landeskunde der Preußischen Monarchie" erschien im zweiten Quartal 1856 (eine genauere Datierung war noch nicht möglich). Am 4. Juni 1856, also im selben Quartal, wurde eine staatsministerielle Commission unter Vorsitz eines Gegners von Baeyer gebildet. (In einem Brief von 1864 spricht Baeyer davon, daß die Kommission 1854 eingesetzt wurde (Pfitzer 1914). Ob dies ein Druckfehler, ein Irrtum von Baeyer oder Tatsache ist, konnte noch nicht geklärt werden.) Die Kommission erstattete erst nach 6 1/2 Jahren einen Bericht an den König; Baeyers Gegner wirkten aber - zumindest nach 2

seiner Auffassung - in dieser Zeit hinter seinem Rücken gegen ihn (vgl. Anhang). Unabhängig von dieser Entwicklung war Baeyer 1856 an einen schwierigen Punkt seiner militärischen Karriere gekommen. Im letzten Lebensjahr berichtete er darüber: "Gegen Ende 1856 war ich in meiner Charge als General-Major bis zur Brigade aufgerückt und mußte meinen Rücktritt in den praktischen Dienst und die Übernahme einer Brigade ins Auge fassen. Davon wollte aber A. von Humboldt nichts hören, indem er behauptete, daß Seine Majestät genug Offiziere besitze, die Brigaden kommandiren könnten, aber Niemanden, der meine erfolgreiche Thätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiete fortführen könne; des Königs Majestät werde mir unzweifelhaft eine angemessene Stellung geben, damit ich mich ausschließlich der wissenschaftlichen Thätigkeit hingeben könne." (s. Anhang) Am 24. April 1857 richtete Baeyer an Friedrich Wilhelm IV. ein entsprechendes Gesuch. Aus einem Brief von Humboldt an den König vom selben Tag geht allerdings auch hervor, daß sich Baeyer schon zu diesem Zeitpunkt in seiner Besoldung gegenüber anderen Offizieren zurückgesetzt fühlte (Zitat in Dick 1994, S. 113; vollständige Publikation durch Pieper, in diesem Heft). In Reaktion auf sein Gesuch wurde er von allen militärischen Leitungs- und Bildungsaufgaben entbunden und dem Chef des Generalstabs zur Disposition gestellt. Ob er die militär-geodätischen Arbeiten weiterhin leiten sollte, lag im Ermessen des Chef des Generalstabs, General von Reyher, der allerdings ein halbes Jahr später starb. Baeyer kommentierte die Veränderung seiner Dienststellung später folgendermaßen: "Ich hatte nicht die entfernteste Ahnung davon, dass ich durch diese Cabinetsordre in eine böse Falle gerathen sei, die von meinen Gegnern mir gelegt worden. Ich glaubte, die Versetzung zu den Offizieren der Armee mit dem Gehalt meiner Charge sei auf Lebenszeit erfolgt, weil sie mich gegen Sorgen der Nahrung schützen sollte. Es kam aber anders. Die Entbindung als Mitglied der Militair-Studien-Commission und als Lehrer der Geodäsie an der Allgemeinen Kriegsschule war ganz und gar das Werk meiner Gegner, denn gerade diese meine Thätigkeit hatte den trigonometrischen Arbeiten des Königlichen Generalstabes den anerkannt guten Ruf dadurch mit herbeigeführt, dass ich mir meine Gehülfen selbst ausbildete. A. von Humboldt war ausser sich darüber, dass mir dieser wichtige Theil meiner erfolgreichen Thätigkeit mit Gewalt genommen wurde; allein Seine Majestät der König erkrankte schon im Juli desselben Jahres. Im Herbst starb der Chef des Generalstabes der Armee, General der Cavallerie von Reyher, und der neu ernannte Chef des Generalstabes der Armee war ein jüngerer General als ich. Dazu kam noch, dass mein direkter Hintermann im Frühjahr 1858 zum wirklichen Generallieutenant befördert worden war. Jetzt gingen mir erst die Augen auf über die Intriguen meiner Gegner; denn ich sah mich nach Verlauf von einem Jahr meiner ganzen Thätigkeit in den Bildungsanstalten der Armee beraubt und einem jüngeren General zur Disposition gestellt." (s. Anhang) Wie Wilhelm Foerster in seiner Autobiographie berichtete, wäre auch Baeyer für den Posten des Chefs des Generalstabs in Frage gekommen, ihm wurde aber der jüngere Moltke vorgezogen. Dies war eine der ersten Regierungshandlungen des seit Ende Oktober 1857 amtierenden Prinzregenten Wilhelm (des späteren Wilhelm I.), der Moltke "entdeckt" hatte. Laut Foerster mußte Baeyer nun "nach den bestehenden Avancementsgrundsätzen" seine Entlassung nehmen. Zu diesem Aspekt gibt es von Baeyer selbst offenbar keine Äußerungen. Er schrieb darüber nur das oben Zitierte und fuhr fort: "Da meinen wissenschaftlichen Bestrebungen von Seiten Seiner Majestät des Hochseligen Königs volle Anerkennung zu Theil geworden war, und da A. von Humboldt mir öfter mitgetheilt hatte, dass Se. Königliche Hoheit der Prinz Regent seine Berichte über meine wissenschaftliche Thätigkeit mit Wohlwollen entgegen 3

genommen habe, so richtete ich in vollem Vertrauen an des Königs Majestät die Bitte, mir Allergnädigst den Charakter als Generallieutenant zu verleihen und zur Vermeidung aller Anciennitätsstreitigkeiten mich zur Allerhöchsteigenen Disposition zu stellen." Baeyer ersuchte also nicht um Entlassung, sondern um Beförderung und direkte Unterstellung unter den König - damals noch offiziell Friedrich Wilhelm IV., wenn auch durch seinen Bruder Wilhelm vertreten. Die Folge war allerdings, daß Baeyer zwar befördert und dem König unterstellt, aber zugleich auch pensioniert wurde. Er kommentierte dies später so: "Durch diese Allerhöchste Cabinets-Ordre [vom 26. 8. 1858] sah ich mich nun plötzlich von der ganzen Höhe meiner Hoffnungen und Erwartungen herabgestürzt. Anstatt das von Seiner Majestät dem Hochseligen Könige mir zugesicherte Gehalt meiner Charge auf Lebenszeit zu beziehen, war ich ein Jahr später mit Pension für 45jährige Dienstzeit zur Disposition gestellt und mir nur eine Zulage für die Dauer der Gradmessung bis zur Höhe meines Gehalts zugesichert. Wenn ich also später nach 60- oder 70jähriger Dienstzeit dienstunfähig geworden wäre, so war ich mit der Pension für 45jährige Dienstzeit abgefunden. Zunächst rechnete ich aber darauf, dass es A. von Humboldt gelingen werde, mir Gerechtigkeit zu verschaffen, allein seine Gesundheit, die gegen den Herbst von 1858 schon wankend geworden war, verschlimmerte sich im Winter darauf und er starb am 6. Mai 1859 und 8 Monate später auch des Hochseligen Königs Majestät. - Damit waren alle meine Stützen gebrochen. Wenn ich in dieser misslichen Lage die Mittel und Wege meiner Gegner mit den meinigen verglich, so stellte sich heraus, dass die meinigen gleich Null waren, während die meiner Gegner bis an die Stufen des Thrones hinauf reichten. Ein Versuch, mir Recht zu verschaffen, hatte daher wenig Aussicht auf Erfolg. Die Klugheit gebot eine günstigere Constellation entweder abzuwarten oder die Herbeiführung auf einem andern Wege zu versuchen. Diese Idee nahm mich nach dem Tode des Hochseligen Königs [am 2. Januar 1861] ganz und gar in Anspruch. Das Resultat war der Entwurf zu einer Mitteleuropäischen Gradmessung, den ich im April 1861 meiner vorgesetzten Behörde, dem Königlichen Kriegsministerium, vorlegte." (s. Anhang) Lerbs (1970, S. 121) schlußfolgerte daraus, daß "das Motiv zum Vorschlag der Gründung einer M[ittel-]E[uropäischen] G[radmessung] aus Baeyers Existenzkampf entstanden ist". 4. Der Streit mit der preußischen Landesvermessung Im Konflikt mit dem Generalstab gab es aber auch noch einen anderen Aspekt, der Baeyer zu schaffen machte. Abgesehen von den Folgen auf seine Karriere und seine materiellen Verhältnisse war ihm auch die Leitung der preußischen Landesvermessung entzogen, die er eigentlich reorganisieren wollte. Daher suchte er Möglichkeiten, wie er seinen Einfluß auf diese wiedergewinnen konnte. Ein internationales Unternehmen, das flächendeckende Triangulationen erforderte, mußte ihm dazu geeignet erscheinen. Nach eigenem Bericht suchte er plausible Gründe, "die geeignet wären, die Bewilligung der Geldmittel zur Fortführung der Triangulation, im Sinne der Gradmessung und der Küstenvermessung, zu rechtfertigen. Dieser Forderung entsprach die Idee, von den bisherigen Breiten- und Längengradmessungen abzugehen, und große Erdflächen nach ihren Krümmungsverhältnissen zu untersuchen. Dies war die Entstehung meines Entwurfes zu einer mitteleuropäischen Gradmessung." Bis zu seinem letzten Lebensjahr versuchte Baeyer immer wieder, die Organe der Gradmessungsorganisation gegen die preußische Landesvermessung einzusetzen - zum Teil auch mit 4

Erfolg. Das im Anhang wiedergegebene Dokument legt einmal mehr davon Zeugnis ab (vgl. auch: Pfitzer (1914); Buschmann (1993; 1994, S. 145ff.); die von Dick (1994) hierzu zitierte Literatur; Pieper, in diesem Heft). 5. Die Längengradmessung unter 52 Breite Die Jahre 1857/58 verliefen für Baeyer allerdings nicht nur unglücklich. Es erwies sich als außerordentlich vorteilhaft für Baeyer, daß im Sommer und Herbst 1857 Wilhelm Struve, der Direktor der russischen Sternwarte Pulkovo, in Europa unterwegs war, um für seinen Plan einer Längengradmessung vom Atlantik bis zum Kaspischen Meer zu werben. Bei den Verhandlungen mit der preußischen Regierung vermittelte Humboldt. Baeyer wurde durch Struve als preußischer Teilnehmer an der Gradmessung vorgeschlagen. Ob dies auch Humboldt zu verdanken ist oder Struves eigene Idee war, ist unbekannt. Struve kannte Baeyer natürlich schon als Mitarbeiter von Bessel an der Ostpreußischen Gradmessung sowie als Ausführenden einer zweiten Verbindung von russischen und preußischen Triangulationen, die gerade 1857 von Baeyer mit einem Gutachten Struves publiziert worden war. Struves Vorschlag wurde akzeptiert und Baeyer mit der Ausführung des preußischen Anteils beauftragt. Die Längengradmessung war im Grunde das erste große internationale Unternehmen der Geodäsie, noch vor der Mitteleuropäischen Gradmessung, wenn auch nicht in deren Dimensionen. Baeyer arbeitete dabei zum ersten Mal vollkommen selbständig an einem großen Projekt und begann wohl, auch in größeren Dimensionen zu denken. Seine Tätigkeit war zuvor auf Preußen und einige wenige deutsche Nachbarstaaten beschränkt gewesen. Nun ergaben sich von Jahr zu Jahr immer mehr Kontakte zu Geodäten in den deutschen Staaten, in Rußland und Belgien. 6. Der Konflikt mit Otto Struve Wilhelm Struve, der Initiator dieses Unternehmens, erkrankte im Januar 1858 so schwer, daß er zu wissenschaftlicher Tätigkeit praktisch nicht mehr fähig war. Sein Nachfolger als Direktor der Sternwarte Pulkovo wurde sein Sohn Otto. Dieser kümmerte sich ab 1859 auch um die große Längengradmessung, reiste dazu nach Deutschland, Frankreich und England und korrespondierte mit Baeyer. Im Laufe dieser Korrespondenz entspann sich ein heftiger Disput um die Frage, wer die Auswertung des Gesamtprojekts durchführen und damit die Leitung übernehmen sollte. Otto Struve erhob für Pulkovo und damit de facto für sich selbst diesen Anspruch, womit der um 25 Jahre ältere Baeyer offensichtlich nicht einverstanden war. Einem Wilhelm Struve, der ein Jahr älter als er selbst und eine anerkannte Autorität war, hätte er die Führungsrolle sicher zuerkannt, nicht aber dessen Sohn. Der Streit zwischen Otto Struve und Baeyer hatte seinen Höhepunkt gegen Ende 1860 erreicht. Leider sind die Briefe Baeyers bisher nicht bekannt. Aus den Antworten Struves und einem Brief an Moltke vom Februar 1861 geht aber hervor, daß Baeyer die preußischen Messung selbst auswerten und nicht nach Pulkovo geben wollte. Möglicherweise war Otto Struves Anspruch auf die führende Rolle bei der Längengradmessung ein weiteres Motiv für Baeyer, ein eigenes großes Projekt vorzuschlagen. 5

7. Der Kampf um Personal 1858 waren Baeyer für die Zwecke der Längengradmessung zwei Unteroffiziere, ehemalige Schüler Baeyers, zugeteilt worden. Mit ihnen führte er auch die bedeutenden Messungen auf dem Rauenberg bei Berlin im Jahr 1859 aus. Abgesehen von einem Wechsel der Personen blieb dieser Personalbestand bis 1865 konstant. Hierin zeigt sich übrigens ein kontinuierlicher Übergang von der Längengradmessung zur Mitteleuropäischen Gradmessung. Die von Wilhelm Struve vorgeschlagene große europäische Längengradmessung war also auch in dieser Hinsicht ein Vorläufer der späteren Gradmessungsorganisationen. Bei der Verfügbarkeit des Personals war Baeyer allerdings vom guten Willen des Generalstabs abhängig. Wiederholt wurden ihm die Unteroffiziere anläßlich von Mobilmachungen oder anderen militärischen Operationen entzogen. Im Februar 1861 erfuhr Baeyer, daß er einen der beiden Helfer ganz abgeben solle, ohne daß Aussicht auf Ersatz bestand. Auch dieser beständige Kampf um Mitarbeiter bewog sicherlich Baeyer dazu, sich mit einem großen internationalen Projekt von der Willkür des Generalstabs unabhängig zu machen. 8. Die gesellschaftlichen Bedingungen Neben den wissenschaftlichen und persönlichen sind auch gesellschaftliche Komponenten zu beachten, welche Baeyers Entwurf einer Mitteleuropäischen Gradmessung förderten. Um 1860 herrschte ein relativ gutes politisches Klima, das eine Zusammenarbeit zwischen deutschen Staaten und darüber hinaus begünstigte oder zumindest nicht behinderte. Eine Initiative, die von Preußen ausging, kam zudem Preußens Hegemoniebestrebungen entgegen. Zu jener Zeit wurde auch das Vereinsrecht erstmals gesetzlich geregelt, 1861 zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, das seit 1857 im Entwurf vorlag. Vielleicht spielte Baeyer mit dem Schluß seines "Entwurfs..." vom April 1861 darauf an: "Was aber der Einzelne nicht mehr vermag, das gelingt Vielen! Vereine, die im practischen Leben sich so glänzend bewährt haben, werden auf dem Gebiete der Wissenschaft von nicht minder gutem Erfolge begleitet sein." Auch auf wissenschaftlichem Gebiet wurden zu jener Zeit Vereine gegründet. Vermutlich waren Baeyer die Bestrebungen zur Schaffung einer (internationalen) Astronomischen Gesellschaft bekannt, die unter Beteiligung von Wilhelm Foerster im September 1860 in Berlin einen ersten Höhepunkt erreichten. Baeyer nahm zwar an der Gründungsversammlung 1863 in Heidelberg nicht teil, gehörte aber zu den konstituierenden Mitgliedern (Gerdes [1990], S. 188). Vielleicht gaben ihm auch diese Bestrebungen der Astronomen einen gewissen geistigen Anstoß. 9. Die Anregung aus Bayern 1860 reiste Baeyer im Zuge seiner Verhandlungen über Gradmessungen auch nach München. Das Königreich Bayern lag eigentlich vom 52. Parallel, entlang dem die Längengradmessung erfolgte, recht weit entfernt, und wurde von Baeyer auch in seinen Jahresberichten von 1858 und 1859 nicht erwähnt. Im "Jahresbericht über den Fortgang der Struveschen Gradmessung 6

pro 1860" spricht Baeyer aber von einem "großen geodätischen Polygon" und schreibt dazu u.a.: "Der Königl. Baierische Generalstab, so wie die Kataster-Behörde haben aber ein sichtliches Interesse an der Auseinandersetzung meines Entwurfes der Gradmessung für Deutschland genommen, und ihre persönliche Mitwirkung bereitwillig zugesagt, allein zugleich auch die Geringfügigkeit ihrer disponibelen Mittel nicht verhelt, und sich dahin geäußert, daß, wenn ein Programm, in welchem die Erfordernisse der Gradmessung übersichtlich aufgeführt wären, ihrer Regierung officiell vorgelegt würde, es keinem Zweifel unterläge, daß die dazu nothwendigen Mittel bewilligt werden würden. Ich beabsichtige daher ein solches Programm zu schreiben und demnächst vorzulegen und um die officielle Uebermittelung an die betreffenden Regierungen zu bitten." Dies könnte bedeuten, daß Baeyer bereits 1860 an eine große Gradmessung dachte, allerdings auf Deutschland beschränkt. Was es mit dem erwähnten "Entwurf der Gradmessung für Deutschland" von Baeyer auf sich hatte, ist bisher unbekannt. Auf alle Fälle geht hieraus folgendes hervor: Der Anstoß, einen Entwurf für eine Gradmessung an die preußische Regierung zu richten, den diese den Nachbarstaaten auf diplomatischem Wege weitergeben konnte, kam von bayrischen Geodäten. 10. Die Förderer Nicht zuletzt ist die Mitteleuropäische Gradmessung auch Baeyers Förderern zu verdanken. Aus dem Gesagten ging bereits hervor, welche Rolle Humboldt in Baeyers Leben und Wirken spielte. Ohne ihn hätte sich Baeyer vielleicht nicht auf wissenschaftliche Fragen konzentriert, sondern hätte der militärischen Karriere den Vorzug gegeben. 1861 war es der preußische Ministerpräsident, der Baeyer unterstützte. Ihm ist es zumindest zu einem großen Teil zu verdanken, daß Baeyers Projekt überhaupt realisiert wurde - und ohne seine Verwirklichung wäre auch die Vorgeschichte des "Entwurfs..." kaum von Interesse. In Baeyers Erinnerungen heißt es dazu: "Ich hatte gefürchtet, das Königliche Staatsministerium werde diesen Entwurf denselben Weg gehen lassen wie den ersten zur Anfertigung einer guten Karte; allein mein guter Genius hatte der Wahrheit zu einem glänzenden Siege verholfen. Der derzeitige Ministerpräsident, Fürst Carl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen Königliche Hoheit, interessirte sich so lebhaft für den Entwurf, dass bereits unter dem 20. Juni 1861 eine Allerhöchste Cabinetsordre anordnete, dass der vom General Baeyer eingereichte Plan seitens der Preussischen Regierung ins Leben gerufen werde. Diese Protektion des Fürsten wurde die Grundlage zu dem gegenwärtigen Weltverein der Gradmessung; leider war dieselbe aber nur von kurzer Dauer, denn der Fürst zog sich schon im März 1862 von seiner Stellung zurück. Die Aufforderung der Preussischen Regierung zur Theilnahme an der Mitteleuropäischen Gradmessung war aber schon im Jahr 1861 erfolgt, und von dem besten Erfolge begleitet." (s. Anhang) Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen (1811-1885) hatte 1849/50 sein Fürstentum an Preußen abgetreten und begann danach eine militärische Karriere in preußischen Diensten, wobei er auch in nähere Beziehung zum Prinzen Wilhelm kam. Dieser berief ihn am 5. November 1858, also unmittelbar nach seiner Einsetzung als Prinzregent, anstelle Manteuffels zum Präsidenten des Staatsministeriums (Ministerpräsidenten). Fürst Karl Anton wurde damit 7

ein Mann der "Neuen Ära", scheiterte aber mit seiner Politik, besonders bei der Heeresreform. Auch aus gesundheitlichen Gründen trat er im März 1862 zurück. Eines seiner Anliegen war die Überwindung der Zersplitterung Deutschlands gewesen, wofür ihm aber die Kraft eines Bismarck fehlte. Ein bemerkenswertes Detail seiner Biographie ist, daß er um 1831/32 bei einem Aufenthalt in Berlin "von dem Oberst Wagner, dem bekannten Ingenieur, Mitglied der Militär-Studiencommission, in den Militärwissenschaften und im Staatsrecht unterrichtet" wurde (Granier 1906). Über diesen Oberst Wagner konnte bisher nichts in Erfahrung gebracht werden. Es ist auch unbekannt, wann Baeyer Mitglied der Militär-Studienkommission wurde. Eine gewisse Verbindung zwischen Wagner und Baeyer und damit vielleicht auch von Baeyer zum Fürst Karl Anton wäre aber denkbar. Zusammenfassung Aus all diesen Fakten und Indizien geht hervor, daß die Entstehung von Baeyers Entwurf im Frühjahr 1861 kein Zufall und keine plötzliche Eingebung war, sondern sich logisch aus den verschiedenen Umständen und Ereignissen ergab: Baeyer war zwar durch seine Pensionierung von den Arbeiten der Landesvermessung isoliert worden, konnte aber an der Struveschen Längengradmessung arbeiten, die seinen Horizont erweiterte. Seine Besoldung war nur für die Dauer dieser Gradmessung gesichert, so daß er auf Fortsetzungsarbeiten sinnen mußte. Mit dem Tod von Friedrich Wilhelm IV. im Januar 1861 waren Baeyers existentielle Sorgen wieder erstarkt. Zu dieser Zeit befand er sich auch im Konflikt mit Otto Struve über die Leitung und Durchführung der Längengradmessung. Im Februar erfuhr er, daß ihm einer der beiden Gehilfen entzogen werden sollte. Der Vorschlag bayrischer Geodäten zur Erarbeitung einer Denkschrift fiel daher auch aus außerwissenschaftlichen Gründen auf fruchtbaren Boden, und zugleich hoffte er, durch eine internationale Vereinigung wieder Einfluß auf die preußische Landesvermessung zu erhalten. Mit dem Wissen, das er von Müffling, Gauß, Bessel und wohl auch von Schumacher erhalten und sich selbst erarbeitet hatte, war er nach deren Tod zugleich der führende Kopf der praktischen Geodäsie in Deutschland und darüber hinaus - Peter Andreas Hansen, sein späterer Widersacher, war eher Theoretiker. Wilhelm Struve in Rußland, obwohl nur ein Jahr älter als Baeyer, verlor 1858 durch seine schwere Erkrankung seine führende Rolle in der höheren Geodäsie in Europa. Neben allen äußeren Anstößen und Umständen darf natürlich nicht vergessen werden, was Helmert im Nachruf hervorhob: "Daß nun aber der bereits sechsundsechzigjährige Greis noch eine solche Lebhaftigkeit des Geistes und eine solche Energie und Hoffnungsfreudigkeit besaß, um der Regierung seines Vaterlandes einen wohlmotivirten Vorschlag zu unterbreiten, verdient volle Bewunderung." Anlage Ein autobiographisches Dokument von J. J. Baeyer Das nachfolgend zum ersten Mal publizierte Dokument ist das letzte (Bl. 267-269) in einer umfangreichen Akte von Johann Jacob Baeyer mit dem Titel "Acta des Central-Büreaus der Mitteleuropäischen Gradmessung betreffend den Conflict mit der Landestriangulation" (Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bez. Pdm. Rep. 465 ZI für Physik der Erde, Nr. A 8

233). Geschrieben im letzten Lebensjahr, ist es das wohl letzte - und zugleich eines der wichtigsten - unter den autobiographischen Dokumenten Baeyers und soll daher vollständig wiedergegeben werden. Baeyer wiederholt darin zwar einige Aussagen aus früheren Veröffentlichungen, vor allem aus "Mein Entwurf zur Anfertigung einer guten Karte..." (Baeyer 1868), nennt aber auch etliche Einzelheiten, die an keiner anderer Stelle zu finden sind. Auszüge daraus wurden von Lerbs (1970, S. 119-121) zitiert. Dieser bezeichnete das Dokument als Beilage zu den "Verhandlungen des wissenschaftlichen Beirats 1885". Belege für die Richtigkeit dieser Aussage lassen sich weder in der "Beilage" selbst, noch in der Akte oder in den genannten "Verhandlungen... " (1885) finden. Ein Zusammenhang zwischen beiden Dokumenten liegt allerdings nahe, schon wegen der zeitlichen Nähe: Die "Beilage" ist datiert Januar 1885, die "Plenar-Versammlung des Wissenschaflichen Beiraths des Geodätischen Instituts" fand am 27. März 1885 statt (Protokoll in "Verhandlungen..." 1885, S. 5-6). Die von Baeyer gezeichnete Tagesordnung für diese Plenar-Versammlung enthält als Punkt 5 "Vorlage über die Einreihung von Arbeiten der Landes-Aufnahme in die Preussischen Gradmessungs-Arbeiten und Beschaffung der durch die zuvor auszuführenden Verbessungen erforderlichen Geldmittel, sowie in Verbindung mit Vorstehendem die Frage in Betreff einer Aenderung der Organisation des Instituts" ("Verhandlungen..." 1885, S. 3). Laut Protokoll der Versammlung äußerte der Beirat zu diesem Punkt, "daß er dem Geodätischen Institute, bez. dem Herrn Präsidenten die spezielle Prüfung der ausgeführten Arbeiten überlassen müsse, durch welche nur festgestellt werden könnte, an welchen Stellen etwa dieselben vor ihrer Verwendung zu Gradmessungszwecken der Vervollständigung bedürften" und daher "auf die Vorlage ad 5 gegenwärtig nicht näher eingeht". Bei der genannten Vorlage handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das hier reproduzierte Dokument, das Baeyer sicher als Beilage zur Einladung/Tagesordung zu der Versammlung verteilte. Herrn Dr. Herbert Pieper, Berlin, verdanke ich einen indirekten Hinweis auf dieses Dokument. Es wird im folgenden buchstabengetreu wiedergegeben. Die darin enthalteten "Allerhöchsten Cabinetsordres" sind bereits nach Abschriften, die sich in anderen Akten befinden, veröffentlicht (Dick 1994, S. 111 u. 125); diese Abschriften, die vermutlich den Originalen näher kommen, weichen in unwesentlichen Details von der Fassung in diesem Dokument ab. Beilage. Ueber mein Verhältniss zum Vermessungswesen in Preussen. (Als Manuskript gedruckt.) Die fünfziger Jahre waren der Glanzpunkt meiner Thätigkeit im grossen Generalstabe. Während ich von Seiten des Generalstabes mit der Verbindung Preussischer und Russischer Dreiecksketten beschäftigt war, kamen von Ost und West Geodäten herbei, um die neue Katastervermessung in Schwarzburg-Sondershausen kennen zu lernen. Eine Belgische Commission hatte 1854 meine für Basismessungen so wichtige Entdeckung der Veränderung, welche die Ausdehnungs-Coefficienten der Messstangen mit der Zeit erleiden, vollkommen bestätigt gefunden, und 1856 hatte der Chef der Admiralität, Prinz Adalbert von Preussen, mir die obere Leitung der von der Marine auszuführenden Küstenvermessung der Jade-, Weserund Elbmündungen übertragen. - Aber das Unglück schreitet schnell! Gegen Ende 1856 war 9

ich in meiner Charge als General-Major bis zur Brigade aufgerückt und musste meinen Rücktritt in den praktischen Dienst und die Uebernahme einer Brigade ins Auge fassen. Davon wollte aber A. von Humboldt nichts hören, indem er behauptete, dass Seine Majestät genug Offiziere besitze, die Brigaden kommandiren könnten, aber Niemanden, der meine erfolgreiche Thätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiete fortführen könne; des Königs Majestät werde mir unzweifelhaft eine angemessene Stellung geben, damit ich mich ausschliesslich der wissenschaftlichen Thätigkeit hingeben könne. - Meine Neigung stimmte im Grunde meiner Seele den Ansichten Humboldts bei, und so entschloss ich mich, an Seine Majestät die allerunterthänigste Bitte zu richten, mir eine solche Stellung zu geben, dass ich meine bisherige wissenschaftliche Thätigkeit unbehindert fortsetzen könne. Hierauf erhielt ich die nachstehende Allerhöchste Cabinetsordre: "In Anerkennung Ihrer langjährigen guten Dienste und Ihrer ausgezeichneten Leistungen im Gebiete der Wissenschaften will ich die ausnahmsweise Berücksichtigung Ihres Gesuchs vom 24. v. M. eintreten lassen und Ihnen eine solche Stellung geben, die Ihnen gestattet, ohne Sorgen der Nahrung, Ihre angefangenen Arbeiten und Forschungen zur Erzielung wissenschaftlicher Resultate fortsetzen zu können. Ich entbinde Sie demzufolge von Ihrer bisherigen Stellung als Abtheilungs-Chef im grossen Generalstabe, sowie von dem Verhältniss als Mitglied der Ober- Militär-Studien-Commission, der Studien-Commission für die Divisionsschulen und als Lehrer bei der Allgemeinen Kriegsschule, indem ich Sie hierdurch unter Bewilligung des Gehalts Ihrer Charge zu den Offizieren der Armee versetze; wobei ich Sie gleichzeitig zur Disposition des Chefs des Generalstabes der Armee stelle, welchem ich die Befugniss ertheilt habe, Sie nach Seinem Ermessen auch ferner mit der Leitung der trigonometrischen Arbeiten des grossen Generalstabes zu beauftragen. Berlin, den 5. Mai 1857. gz. Friedrich Wilhelm. ggz. Graf Waldersee. An den General-Major Baeyer, Abtheilungs-Chef im grossen Generalstabe." Ich hatte nicht die entfernteste Ahnung davon, dass ich durch diese Cabinetsordre in eine böse Falle gerathen sei, die von meinen Gegnern mir gelegt worden. Ich glaubte, die Versetzung zu den Offizieren der Armee mit dem Gehalt meiner Charge sei auf Lebenszeit erfolgt, weil sie mich gegen Sorgen der Nahrung schützen sollte. Es kam aber anders. Die Entbindung als Mitglied der Militair-Studien-Commission und als Lehrer der Geodäsie an der Allgemeinen Kriegsschule war ganz und gar das Werk meiner Gegner, denn gerade diese meine Thätigkeit hatte den trigonometrischen Arbeiten des Königlichen Generalstabes den anerkannt guten Ruf dadurch mit herbeigeführt, dass ich mir meine Gehülfen selbst ausbildete. A. von Humboldt war ausser sich darüber, dass mir dieser wichtige Theil meiner erfolgreichen Thätigkeit mit Gewalt genommen wurde; allein Seine Majestät der König erkrankte schon im Juli desselben Jahres. Im Herbst starb der Chef des Generalstabes der Armee, General der Cavallerie von Reyher, und der neu ernannte Chef des Generalstabes der Armee war ein jüngerer General als ich. Dazu kam noch, dass mein direkter Hintermann im Frühjahr 1858 zum wirklichen Generallieutenant befördert worden war. Jetzt gingen mir erst die Augen auf über die Intriguen meiner Gegner; denn ich sah mich nach Verlauf von einem Jahr meiner ganzen Thätigkeit in den Bildungsanstalten der Armee beraubt und einem 10

jüngeren General zur Disposition gestellt. Da meinen wissenschaftlichen Bestrebungen von Seiten Seiner Majestät des Hochseligen Königs volle Anerkennung zu Theil geworden war, und da A. von Humboldt mir öfter mitgetheilt hatte, dass Se. Königliche Hoheit der Prinz Regent seine Berichte über meine wissenschaftliche Thätigkeit mit Wohlwollen entgegen genommen habe, so richtete ich in vollem Vertrauen an des Königs Majestät die Bitte, mir Allergnädigst den Charakter als Generallieutenant zu verleihen und zur Vermeidung aller Anciennitätsstreitigkeiten mich zur Allerhöchsteigenen Disposition zu stellen. Darauf erhielt ich nachstehende Allerhöchste Cabinetsordre: "Ich kann den von Ihnen in der Eingabe vom 29. Mai d. J. ausgesprochenen Wunsch, als Generallieutenant mit Ihrem bisherigen Gehalt zu Meiner Disposition gestellt zu werden, nach den bestehenden Grundsätzen nicht erfüllen. Dagegen will ich Sie hierdurch mit Pension zur Disposition stellen und Ihnen zum Beweise meiner Zufriedenheit den Charakter als Generallieutenant verleihen. Sie bleiben mit den Arbeiten beauftragt, welche sich auf die Struvesche Längengradmessung beziehen und erhalten für die Dauer dieses Geschäfts zu Ihrer Pension einen Zuschuss von der Höhe, dass dadurch Ihr bisheriges Einkommen an Gehalt, Servis und Rationen erreicht wird. Bei Erfüllung des gedachten Auftrages haben Sie sich, insbesondere wegen des kommandirten Hülfspersonals und des hergegebenen Materials, sowie wegen Legung der Rechnung über die Ausgabe, mit dem Chef des Generalstabes der Armee in unausgesetzter Verbindung zu erhalten. Schloss Babelsberg, den 26. August 1858. Im Allerhöchsten Auftrage Sr. Majestät des Königs gz. Prinz von Preussen. ggz. Graf Waldersee. An den General-Major Baeyer von der Armee." Durch diese Allerhöchste Cabinets-Ordre sah ich mich nun plötzlich von der ganzen Höhe meiner Hoffnungen und Erwartungen herabgestürzt. Anstatt das von Seiner Majestät dem Hochseligen Könige mir zugesicherte Gehalt meiner Charge auf Lebenszeit zu beziehen, war ich ein Jahr später mit Pension für 45jährige Dienstzeit zur Disposition gestellt und mir nur eine Zulage für die Dauer der Gradmessung bis zur Höhe meines Gehalts zugesichert. Wenn ich also später nach 60- oder 70jähriger Dienstzeit dienstunfähig geworden wäre, so war ich mit der Pension für 45jährige Dienstzeit abgefunden. * ) Zunächst rechnete ich aber darauf, dass es A. von Humboldt gelingen werde, mir Gerechtigkeit zu verschaffen, allein seine Gesundheit, die gegen den Herbst von 1858 schon wankend geworden war, verschlimmerte sich im Winter darauf und er starb am 6. Mai 1859 und 8 Monate später auch des Hochseligen Königs Majestät. - Damit waren alle meine Stützen gebrochen. * *) Dieser Zustand dauerte bis zum 3. August 1870, an welchem Tage mir durch Rescript des Kgl. Ministeriums der geistlichen etc. Angelegenheiten meine Ernennung zum Präsidenten des Geodätischen Instituts mit einem pensionsberechtigten Gehalt als Zulage zu meiner Militärpension mitgetheilt wurde. Dadurch wurde ich im Fall der Dienstunfähigkeit wenigstens gegen himmelschreiende Benachtheiligung geschützt. Ich selbst war allerdings überzeugt, dass die Gnade Seiner Majestät des Kaisers und Königs mich gegen solche Ungerechtigkeit schützen werde. 11

Wenn ich in dieser misslichen Lage die Mittel und Wege meiner Gegner mit den meinigen verglich, so stellte sich heraus, dass die meinigen gleich Null waren, während die meiner Gegner bis an die Stufen des Thrones hinauf reichten. Ein Versuch, mir Recht zu verschaffen, hatte daher wenig Aussicht auf Erfolg. Die Klugheit gebot eine günstigere Constellation entweder abzuwarten oder die Herbeiführung auf einem andern Wege zu versuchen. Diese Idee nahm mich nach dem Tode des Hochseligen Königs ganz und gar in Anspruch. Das Resultat war der Entwurf zu einer Mitteleuropäischen Gradmessung, den ich im April 1861 meiner vorgesetzten Behörde, dem Königlichen Kriegsministerium, vorlegte. Ich hatte gefürchtet, das Königliche Staatsministerium werde diesen Entwurf denselben Weg gehen lassen wie den ersten zur Anfertigung einer guten Karte; allein mein guter Genius hatte der Wahrheit zu einem glänzenden Siege verholfen. Der derzeitige Ministerpräsident, Fürst Carl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen Königliche Hoheit, interessirte sich so lebhaft für den Entwurf, dass bereits unter dem 20. Juni 1861 eine Allerhöchste Cabinetsordre anordnete, dass der vom General Baeyer eingereichte Plan seitens der Preussischen Regierung ins Leben gerufen werde. Diese Protektion des Fürsten wurde die Grundlage zu dem gegenwärtigen Weltverein der Gradmessung; leider war dieselbe aber nur von kurzer Dauer, denn der Fürst zog sich schon im März 1862 von seiner Stellung zurück. Die Aufforderung der Preussischen Regierung zur Theilnahme an der Mitteleuropäischen Gradmessung war aber schon im Jahr 1861 erfolgt, und von dem besten Erfolge begleitet. Ende 1862 hatten bereits 15 Staaten ihren Beitritt zugesagt und 1864 trat die 1. Allgemeine Conferenz in Berlin zusammen. In derselben wurden die Statuten entworfen und dem Unternehmen eine feste Organisation gegeben. Mit der wissenschaftlichen Leitung wurde eine permanente Commission von 7 wählbaren Mitgliedern betraut, und als ausführendes Organ ein Centralbüreau unter meiner Leitung und mit bleibendem Sitz in Berlin geschaffen. - Wenn jetzt das Königliche Kriegsministerium die Organisation des Centralbüreaus in die Hand genommen und demselben die Mittel und Kräfte der trigonometrischen Abtheilung des Generalstabes zur Verfügung gestellt hätte, wie dies in Oesterreich, in Italien, Frankreich etc.... geschehen ist, so würde das Centralbüreau in Preussen einen angemessenen und bleibenden Sitz gefunden haben. Unter dem Vorsitz des Fürsten von Hohenzollern würde dies unzweifelhaft geschehen sein. Meine wieder zur Macht gelangten Gegner waren aber anderer Meinung. Da ich mit Pension zur Disposition gestellt war, so wurde ich als völlig beseitigt angesehen, und in dem Bericht, den das Königliche Staatsministerium am 31. December 1862 über meinen Entwurf zur Anfertigung einer guten Karte etc. an des Königs Majestät abstattete, war von mir gar nicht mehr die Rede. Dies fiel Sr. Majestät dem Könige auf, und Allerhöchstderselbe liess anfragen, ob in der neuen Organisation für mich nicht auch ein Plätzchen zu finden sei? und veranlasste so den Bericht des Königlichen Staatsministeriums vom 14. Mai 1863, in welchem mir viel zugesagt aber wenig gehalten wurde. In dem Jahre 1865, auf welches ich in dem erwähnten Bericht vertröstet wurde, erfolgte nichts weiter als meine Versetzung vom Kriegsministerium zum Cultusministerium. Damit war die Zweitheilung in der wissenschaftlichen Leitung des Vermessungswesens legalisirt und das gerade Gegentheil von meinem Entwurf ins Leben gerufen. Seit dem Jahr 1858 wurde mir keinerlei Einfluss auf die Arbeiten der trigonometrischen Abtheilung des Generalstabes gestattet. Als ich nun aber von dem am Schluss des staatsministeriellen Berichtes mir zugesprochenen Recht der Controle Gebrauch machen wollte, wurde ich abgewiesen. - Im Jahr 1866 veröffentlichte die Königliche Landestriangulation den 1. Theil ihrer Hauptdreiecke in Ostpreussen. Da sich in demselben sehr erhebliche Abweichungen von der Gradmessung in Ostpreussen und von der Küstenvermessung herausstellten, so legte ich meine Bedenken in der 3. Sitzung der im April 1866 in Neuenburg tagenden Permanenten Commission der 12

Europäischen Gradmessung vor. Die Commission erklärte zu Protokoll: Dass sie zwar bereitwilligst den Werth der von der Preussischen Landestriangulation veröffentlichten Arbeiten für die Landesvermessung anerkenne, dass sie hingegen dieselben in ihrer jetzigen Form für die Zwecke der Mitteleuropäischen Gradmessung nicht als genügend anzuerkennen vermöge. Da die Landestriangulation gegen dies endgültige Urtheil replicirte, und ausführte, dass die mir 1863 übertragene obere Leitung ihrer Hauptdreiecke sich nicht auf die Qualität der Arbeiten, sondern nur auf die Richtung, nach welcher Himmelsgegend die Dreiecksketten geführt werden sollten, erstrecke, so richtete ich an des Königs Majestät die allerunterthänigste Bitte, mich von der oberen Leitung allergnädigst entbinden zu wollen, was mir denn auch gewährt wurde. Im Jahr 1870 erschien eine neue vermehrte Auflage, in der nichts geändert war als das Gewichtsverhältniss zwischen den benutzten Instrumenten (einem 15zölligen und 8zölligen Theodoliten). Die fehlenden Winkelmessungen und die unzulässigen Ausgleichungen waren beibehalten. Seit dem Jahr 1858 besteht daher zwischen den Haupdreiecken der Landestriangulation und denen der Gradmessung der nachstehende principielle Gegensatz. Die Landestriangulation (Landesaufnahme) nimmt an, dass ihre Dreieckspunkte auf einer regelmässigen Oberfläche liegen und schafft alle Messungsfehler durch Zwangsbedingungen mit Hülfe der Methode der kleinsten Quadrate fort. Dem Geodätischen Institut ist von der Permanenten Commission die Aufgabe gestellt, die wahre Oberfläche, auf der sich die Dreieckspunkte befinden, aus seinen Messungen zu ermitteln; es muss daher darauf bedacht sein, seine Originalbeobachtungen intakt zu erhalten. Die 5. Allgemeine Conferenz hat bereits 1877 in Stuttgart die Zwangsbedingungen in Bezug auf die Gradmessung ein für alle Mal verurtheilt. Da die Landesaufnahme keine Notiz davon genommen hat, so bleibt dem Geodätischen Institut nichts übrig, als die von der trigonometrischen Abtheilung des Generalstabes seit dem Jahr 1858 gemessenen Hauptdreiecke einer allgemeinen Revision zu unterwerfen, die, wie wir sehen werden, einer Wiederholung der Arbeit an Zeit und Kosten nahezu gleichkommt, und nicht bloss dem Staatsinteresse zuwider läuft, sondern auch den guten Ruf der früheren Preussischen Arbeiten schädigt. Im Jahr 1879 stellte ich die wesentlichsten Abweichungen zusammen in einer als Manuscript gedruckten Schrift, unter dem Titel: Vergleichung einiger Hauptdreiecksketten der Königl. Landestriangulation mit der Besselschen Methode. Im Jahr 1882 beauftragte ich dann die geodätische Sektion des Hrn. Prof. Dr. Fischer mit der Untersuchung der Dreieckskette, die von der Seite der Besselschen Gradmessung Kalleninken-Algeberg über Goldaperberg nach Trunz-Gross Waplitz führt. Das Ergebniss war: In dem genannten Jahre 1882 wurden 4 nicht beobachtete Richtungen nachträglich gemessen, und ein Dreieckspunkt durch eine Diagonale ersetzt. 1883 wurden die übrigen Winkel in der Kette von 1858 revidirt und es stellte sich heraus, dass die Festlegung des Punktes Schodehnen nicht mit dem Beobachtungscentrum übereinstimmte. 1884 wurde die Kette durch die Bildung von zwei neuen Polygonen wesentlich verbessert, und schliesslich wurden die sämmtlichen Ausgleichungsrechnungen revidirt oder wiederholt und von jeder Zwangsbedingung befreit. Diese Thatsachen nöthigen mich zu der Erklärung, dass die von der Landestriangulation resp. Landesaufnahme seit 1858 ausgeführten Hauptdreiecksketten ohne gänzliche Umarbeitung nicht als Preussische Gradmessungsarbeiten angesehen werden können. 13

Um diese Umarbeitung zu bewerkstelligen, wird das Geodätische Institut auch eine Reihe von Jahren vollauf mit Correcturen zu thun haben. Dadurch geräth dasselbe aber in eine Stellung, die mit der Initiative zur Gründung der internationalen Gradmessung wenig übereinstimmt, und die unvereinbar ist mit den Anforderungen, die der Bericht des Königl. Staatsministeriums an des Königs Majestät, vom 14. Mai 1863, an die Leistungen der Landestriangulation, in Bezug auf die wissenschaftliche Einheit in den Messoperationen, gestellt hat. * ) Ich meinerseits vermag aber nichts weiter zu thun, als darauf aufmerksam zu machen, dass die Stellung Preussens als Vorort der Europäischen Gradmessung dadurch wesentlich herabgedrückt wird, und dass der bedauerlichen Spaltung der Arbeiten in Preussen in den meisten anderen Staaten einheitlich und wissenschaftlich durchgeführte Arbeiten gegenüber stehen. Berlin im Januar 1885. Baeyer. * *) Siehe: Verhandlungen des wissenschaftlichen Beirathes pro 1883 Seite 26. 14

Literatur Baeyer, Johann Jacob: Mein Entwurf zur Anfertigung einer guten Karte von den östlichen Provinzen des Preussischen Staates. Ein Beitrag zur Entwickelung der Messkunde in Preussen. Berlin: Druck und Verlag von Georg Reimer, 1868. Buschmann, Ernst: F. R. Helmerts Bewerbung bei J. J. Baeyer. In: Allgemeine Vermessungs-Nachrichten. - Karlsruhe 100 (1993) 10, 385-390. Buschmann, Ernst (Hrsg.): Aus Leben und Werk von Johann Jacob Baeyer. Frankfurt a.m.: Verlag des Instituts für Angewandte Geodäsie, 1994. (= Nachrichten aus dem Karten- und Vermessungswesen, Reihe I, Heft Nr. 112) Dick, Wolfgang R.: Zur Vorgeschichte von Johann Jacob Baeyers "Entwurf zu einer Mitteleuropäischen Gradmessung". In: Buschmann (1994), S. 105-144. Gerdes, Dieter: Die Geschichte der Astronomischen Gesellschaft. Lilienthal: Heimatverein Lilienthal, o.j. [1990]. Granier, Herman: Karl Anton, Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 51. Leipzig: Duncker & Humblot, 1906. S. 44-52. Lerbs, Lothar: Über die Entwicklung des Geodätischen Instituts Potsdam von der Gründung 1870 bis zur Eingliederung in das Zentralinstitut für Physik der Erde 1969. Dissertation [...] bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Potsdam: Zentralinstitut für Physik der Erde, 1970. Pfitzer, A.: Baeyer an Vorlaender vor 50 Jahren. In: Zeitschrift für Vermessungswesen. - Stuttgart 43 (1914) 5, 129-134. Verhandlungen des Wissenschaftlichen Beiraths des Königlichen Geodätischen Instituts zu Berlin im Jahre 1885. Als Manuskript gedruckt. Berlin: Druck von P. Stankiewicz' Buchdruckerei, 1885. Anschrift des Verfassers: Wolfgang R. Dick Institut für Angewandte Geodäsie Außenstelle Potsdam Postfach 60 08 08 14408 Potsdam 15