Die Entdeckung der Industriekultur Erinnerungen an eine neue Denkweise

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Transkript:

32 Industriekultur 3.17 Geschichte der Industriekultur Die Entdeckung der Industriekultur Erinnerungen an eine neue Denkweise Das 4. Forum für Industriekultur und Gesellschaft des Berliner Zentrums für Industriekultur (BZI) im September 2016 eröffnete Hermann Glaser, Pionier der Industriekultur und einst renommierter Kulturpolitiker, mit einem denkwürdigen Vortrag, in dem er die ersten gedanklichen Anstöße zusammenfasste und zugleich Anregungen für ein heutiges Nach-Denken gab. Hermann Glaser oben: In den 1980er Jahren war der Berliner Westhafen mit seinen großen Speichern und den alten Kranen noch voll in Betrieb und ein öffentlicher Rundgang möglich. Dem vom Land Berlin 1985 herausgegebenen zweiten Teil der Spazierwege der Industrie und Technik war dies ein eigener Tourenvorschlag wert. Foto: Sven Bardua, 1986 Nach gängigen Erfahrungen ist poetisches Schreiben mit Bildern, wissenschaftliches Schreiben mit Begriffen durchdrungen. Dass dies nicht so sein muss, sondern ein Gemenge der beiden Stilarten gut möglich ist, beweisen fantasiereiche Wissenschaftler, die schwierige Tatbestände poetisch zu präsentieren vermögen und begrifflich versierte Poeten, die abstrakte Themen bildreich zu vermitteln vermögen. Herausragend gelingt es der Fabel und dem Aphorismus als letztes Glied langer Gedankenketten, Bildhaftigkeit mit begrifflicher Präzision zu verbinden. Ein Beispiel: Wenn dein Teller voll ist und der deines Nachbarn leer, so gib ihm die Hälfte; wenn nicht aus Mitleid, so doch aus Klugheit. Diese wenigen Worte können eine langatmige Denkschrift zur Entwicklungspolitik ersetzen. Dies als kurzer erklärender Vorspann zu meiner Darstellung der Inkubationszeit für das, was mit Industriekultur in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts als ein neues Paradigma die Kulturpolitik, im Besonderen die Museologie, bewegte. Als Protagonist der Erweiterung der historischen Erinnerungskultur es ging um die Lebensformen und Arbeitsweisen des Industriezeitalters benutzte ich bevorzugt literarische Texte, also eine bildreiche Sprache, um die Entscheidungsträger, etwa Personen aus der Politik und Verwaltung, von der Notwendigkeit einer Fokussierung auf eine bislang kulturgeschichtlich vernachlässigte Thematik und für die Bereitstellung der dafür notwendigen Ressourcen (Gebäude, Personal, Ankaufsmittel) zu überzeugen. Die kulturelle Wertschätzung galt damals im Museumsbereich fast ausschließlich Preziosen, die teuer erworben und auf höchst elaborierte Weise erforscht, gepflegt und dargeboten wurden. Dieser Aspekt affirmativer Kulturpflege bestimmte zum Beispiel das Germanische Nationalmuseum Nürnberg als Zentrum deutscher Kulturgeschichte etwa mit seinen Waffen-, Möbel- und Porzellansammlungen sowie seiner Gemäldegalerie. Meine naiv kaschierte Frage im Verwaltungsrat des Museums, die dann im Sitzungsprotokoll nicht auftauchte, wer denn im Haus für die Sammlungen von Ziegeln, Spucknäpfen und Knöpfen (auch Knopflöchern) zuständig sei, eröffnete eine lange Diskussion in der Stadt und diente heuristisch der Weckung des

Geschichte der Industriekultur Industriekultur 3.17 33 Interesses an der Exegese solcher Fragen. Sie wurden dann vor allem mit Hilfe von bildhaft-begrifflichen Texten und einer programmatischen Ausstellung erfolgreich beantwortet. Neu gewonnene Mitarbeiter waren wesentlich daran beteiligt. Anfänge in Nürnberg Nach einigen Jahren entstand dann das Centrum Industriekultur Nürnberg in einer leeren Fabrikhalle mit zunächst wenig Personal und bescheidenem Ankaufsetat, eine Buchreihe und ein sich ausbreitendes Bewusstsein, das die Notwendigkeit der Entfeudalisierung des Ausstellungs- und Museumswesens verinnerlichte. Die erstarrten Verhältnisse sollten (so die Abwandlung eines Wortes von Karl Marx als Motto) zum Tanzen gebracht werden, indem man ihnen eine neue Melodie vorspielte nicht als revolutionäres, sondern lustvoll-evolutionäres Unterfangen. Von allerhöchster Stelle wurde die Absegnung dafür geholt nämlich von Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der 1970 in einer Rede sagte: Ich glaube, daß wir einen ungehobenen Schatz an Vorgängen besitzen, der es verdient, ans Licht gebracht und weit stärker als bisher im Bewußtsein unseres Volkes verankert zu werden. Nichts kann uns daran hindern, in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gekämpft und gelebt haben, daß das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann. Literarische, aber auch kulturhistorische Texte haben mich nicht nur immer wieder inspiriert, sondern mit ihrer Energie auch mein Engagement bereichert. Auf Überlegungen von Ernst Penzoldt, Patrick Waldberg, Bertolt Brecht gingen beispielsweise die folgenden Leitmotive für meine Entdeckung der Industriekultur zurück: Man achtete auf Scherben, auf scheinbar triviale Gegenstände. Auf einer Reise sah ich in einem Museum unter allerlei Überresten antiken Hausrates, zerbrochenen Öllämpchen und Topfscherben, einen Dachziegel, darauf sich die flüchtige Fußspur eines Mädchens oder Knaben erhalten hat. Über viele Jahrhunderte hin behielt das irdene Gedächtnis den Eindruck eines Augenblicks. Die Spur, schmal und untadelig geprägt, jung und uralt zugleich, hat für den Beschauer etwas rührend Liebliches. Es war nun freilich nichts Bedeutendes geschehen, als eben nur, daß vor Zeiten ein Kind achtlos oder sogar mit Fleiß über zum Trocknen ausgelegte feuchte Tonziegeln geschritten war, eine junge Hirtin vielleicht, denn andere Scherben tragen Fährten von Ziegen. Der Ziegelbrenner hatte also das gezeichnete Stück nicht verworfen; es war gebrannt und als einziges Zeugnis eines Menschen überliefert, von dem wir nichts wissen, als daß er gelebt hat, und der sich gewiß nicht träumen ließ, daß seiner zierlichen Fußspur die Ehre zuteil werden würde, einst in der Vitrine eines staatlichen Museums aufgestellt zu werden. (Ernst Penzoldt) Man sammle nicht nur Knöpfe, sondern auch Knopflöcher. Der amerikanische Kunsthistoriker Patrick Waldberg berichtet, dass er zusammen mit einem Kollegen einmal auf dem Weg durch Arizona auf ein Heimatmuse- um stieß, in dem ihn der Leiter in einen Raum führte, in welchem lauter Knöpfe ausgestellt waren: An den Wänden, in Vitrinen, auf Tischen, überall Knöpfe Tausende von Knöpfen, Knöpfe jeder Größe, jeder Form, jeden Materials und für jeden Zweck. Knöpfe aus Elfenbein, aus Perlmutt, aus Ebonit, mit zwei und mit vier Löchern; viereckige und rhombische,... Für gewöhnlich, sagte der Museumsleiter, zeige ich Besuchern oben: Das Obdachlosen-Asyl Wiesenburg an der Wiesenstraße 55 in Berlin-Wedding war eines der Objekte, welches Richard Schneider für das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin 1983 in den Spazierwegen der Industrie und Technik vorstellte. Diese 1985 ergänzte Reihe mit insgesamt zwölf Spaziergängen war Vorbild für viele spätere Routen der Industriekultur. Die sozialgeschichtlich bedeutsame Baugruppe der Wiesenburg erinnert an Wohnungsnot und soziale Probleme im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zum anderen an Fürsorge und Wohltätigkeit des liberalen Bürgertums. Der Berliner Asylverein hatte dieses Asyl 1895-96 und 1905 07 für insgesamt 1 200 Obdachlose geschaffen. Es ist noch heute eine gepflegte Ruinenlandschaft. Foto: Sven Bardua, 1983 links: Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) wollte das im Krieg erheblich beschädigte Deutsche Arbeitsschutzmuseum in der Fraunhoferstraße 11 12 in Berlin-Charlottenburg (hier das vordere Querschiff) eigentlich abreißen lassen doch die Stadt stellte den Bau 1983 unter Denkmalschutz und als eines der Objekte in den Spazierwegen der Industrie und Technik vor. Die von 1900 bis 1903 erbaute Ausstellungshalle mit filigraner Eisenkonstruktion wurde von 1993 bis 2001 aufwendig saniert und dient unverändert der PTB. Foto: Sven Bardua, 1986

34 Industriekultur 3.17 Geschichte der Industriekultur Literatur Hermann Glaser, Wolfgang Ruppert, Norbert Neudecker (Hrsg.): Industriekultur in Nürnberg, eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter, zweite Auflage, München 1983 Volker Plagemann (Hrsg.): Industriekultur in Hamburg, des Deutschen Reiches Tor zur Welt, München 1984 Hermann Glaser: Industriekultur und Alltagsleben, vom Biedermeier zur Postmoderne, Frankfurt 1993 nur das Museum, denn die meisten, die kommen, sind ungeschliffene Flegel, die sich über mich lustig machen. Aber Ihnen habe ich gleich angesehen, daß Sie Experten sind, von denen meine Schätze bewundern zu lassen, mir unbeschreibliches Vergnügen macht. Die beiden Besucher verließen den liebenswürdigen Einsiedler und nach längerer Zeit des Schweigens entspann sich ein Dialog: Wir müßten jetzt nur noch eine Frau finden, die Knopflöcher sammelt. Wir würden die beiden zusammenbringen, sie würden heiraten und ihre Sammlungen zusammenlegen. Wir hätten dann endlich ein Weltsystem, das den Geist befriedigte. Man stelle Fragen, die bislang in der Historiografie selten gestellt, geschweige beantwortet wurden: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war oben: Die Rettung der Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund- Bövinghausen 1969 leitete bundesweit die Bewegung für die Erhaltung großer Industriedenkmale ein., 1969/70 rechts: Das Museum Industriekultur in Nürnberg entstand 1988 als Verbindung eines technik-, kultur- und sozialgeschichtlichen Museums zur Industrialisierung am Beispiel Nürnbergs in den Hallen des ehemaligen Eisenwerks Julius Tafel (Tafelwerk). Foto: Stadtarchiv Nürnberg (A 40 Nr. A40-L-2898-5)

Geschichte der Industriekultur Industriekultur 3.17 35 Die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien Er allein? Cäsar schlug die Gallier Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte So viele Fragen. (Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters) Man vergesse nicht, Spucknäpfe zu sammeln. Wir veranstalteten damals eine Ausstellung in einem ausrangierten Straßenbahndepot, also ein Gebäude ohne Hemmschwelle für Leute, die eine Scheu vor Kulturtempeln (wie Museen) damals hatten. In einer Serie von Vitrinen mit heller Ausleuchtung wurden nicht Preziosen, sondern einfachste Gegenstände, zum Beispiel eine Aspirin-Tablette, eine Banane, ein Bücherregal aus einer Arbeiterwohnküche, eine Eisenbahnschiene und dergleichen gezeigt. Durch die Inszenierung der einfachen Gegenstände erhielten diese große Aufmerksamkeit und wir zeigten dann, jeweils im Umfeld der Vitrinen, von den Knöpfen ausgehend, in welchen Zusammenhängen (den Knopflöchern ) sie zu sehen seien. Ein Spucknapf fehlte, weil wir kein historisches Exemplar hatten finden können. Eine Abbildung aus einem Prospekt ersetzte die Dinglichkeit. Warum war er so wichtig? Weil man von diesem Leitfossil einen bedeutenden Aspekt des Industriezeitalters aufzeigen konnte: Der Kampf gegen die Tuberkulose (Tbc), die in fast allen Bereichen des Lebens im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine große Rolle spielte: in der Medizin, beim Wohnen (die Mietskaser- nen, Mottenburgen, als Brutstellen der Tbc), in der Kunst, in Literatur und Oper (Tbc als Leiden des Bohemiens), in der Schule (wo in jedem Klassenzimmer ein Spucknapf stand). Die Spucknapf-Story erwies sich als Renner bei der Zuwendung zu den Lebensumständen der Bevölkerung im Industriezeitalter. Paradigmenwechsel Ein Wandel im Geschichtsverständnis (von Historikern zunächst außerhalb der Universitäten, dann auch in diesen vollzogen) verlief synchron mit der Entdeckung und Erforschung der Industriekultur, diese auch maßgebend beeinflussend. Der Prozess der Veränderung von Historiografie wurde als Geschichte von unten etikettiert. Man erkannte, dass man die bisherige Dominanz der Herrschaftsgeschichte, meist eine Geschichte der Kriege und Vorgänge auf staatlicher Ebene, zugunsten einer Geschichte der Leute erweitern müsse. Das be- oben: Der Malakowturm mit anschließender Maschinenhalle wurde denkmalgerecht aus dem Gesamtensemble der Zeche Hannover in Bochum bei deren Abbruch herauspräpariert. unten links: Zeche Nachtigall. Das Maschinenhaus der Zeche Nachtigall wurde in ruinösem Zustand vom damaligen westfälischen Industriedenkmalpfleger Helmut Bönnighausen unter Schutz gestellt. unten rechts: Ziegelei Lage. Trockenschuppen und Maschinenhaus der Ziegelei Beermann in Lage wurden wie alle drei Objekte auf dieser Seite in das Projekt Westfälisches Industriemuseum einbezogen.

36 Industriekultur 3.17 Geschichte der Industriekultur sagen sie: jetzt wär ein Bier gut. Statt um die gerechte Sache kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern. Im entscheidenden Augenblick suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett. Kurz bevor das Millenium anbricht, kochen sie Windeln. An den Leuten scheitert eben alles. Mit denen ist kein Staat zu machen. Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen. Kleinbürgerliches Schwanken! Konsum-Idioten! Überreste der Vergangenheit! deutete, Geschichte als Fakten-Aufzählung, wie sie zum Beispiel Gottfried Benn karikierte, zu überwinden: Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch auf, den sogenannten Kleinen Ploetz: Auszug aus der alten, mittleren und neuen Geschichte, Berlin 1891, Verlag A.G.Ploetz. Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich: einmal Seesieg, zweimal Waffenstillstand, dreimal Bündnis, zweimal Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich - alles dies auf einer einzigen Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren. (Gottfried Benn) Man kann sie doch nicht alle umbringen! Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden! dann sähe die Sache schon anders aus. dann ging s ruckzuck. ja dann! (Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.) (Hans Magnus Enzensberger) Zukunft braucht Herkunft! Die Erinnerung an die Anfänge industriekultureller Forschungs-, Sammlungs- und Ausstellungsarbeit mag insofern aktuell sein, als sie für die Notwendigkeit des Aufhebens eine für alle Bereiche kultureller Tätigkeit wichtige Vokabel plädiert. Hegel hat auf die dreifache Semantik des Wortes hingewiesen: Aufheben bedeutet Bewahren (conservare) Aufheben bedeutet Überwinden, im Sinne von Verneinen (negare) und Aufheben bedeutet Heraufheben (elevare), nämlich eine Sache auf eine höhere Stufe zu heben und damit bedeutender zu machen. oben: Die Fabrik an der Barnerstraße in Hamburg-Altona war eines der ersten soziokulturellen Zentren in Deutschland. Wo die Firma Hespe & Lembach seit 1889 Maschinen für die Holzbearbeitung herstellte, schufen der Maler und Grafiker Horst Dietrich und der Architekt Friedhelm Zeuner 1971 einen Ort für Veranstaltungen und Stadtteilarbeit, der ganz entscheidend von vergangener Industrieatmosphäre lebte. Foto: Conti-Press, um 1975 rechts: 1977 brannte das Kulturzentrum Fabrik aus und die Holzkonstruktion wurde zerstört. Möglichst authentisch wurde die rasch zur Institution anvancierte Kultureinrichtung nach den Plänen des Architekten Volkwin Marg wieder aufgebaut und so Industrieatmosphäre aus der Retorte geschaffen. Foto: Conti-Press, um 1979 Der Gegenentwurf bestand darin, dem Alltagsgeschehen Bedeutung zuzumessen. Dazu gehört unabdingbar Hans Magnus Enzensbergers ironisches Gedicht: Einfach vortrefflich all diese großen Pläne: das Goldene Zeitalter das Reich Gottes auf Erden das Absterben des Staates. Durchaus einleuchtend. Wenn nur die Leute nicht wären! Immer und überall stören die Leute. Alles bringen sie durcheinander. Wenn es um die Befreiung der Menschen geht, laufen sie zum Friseur. Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln,