Diabetisches Fußsyndrom Epidemiologie, Diagnostik, Behandlung und Prävention



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Transkript:

Diabetisches Fußsyndrom Epidemiologie, Diagnostik, Behandlung und Prävention Thomas Werner, Claudia Lindloh, Reinhard Fünfstück Eine bedeutsame Folgeerkrankung des Diabetes mellitus stellt das Diabetische Fußsyndrom dar. Es ist eine der häufigsten Komplikationen und ein entscheidender Faktor für die Lebensqualität und Mobilität der Patienten. Als Diabetisches Fußsyndrom werden Infektionen oder Ulzerationen unterschiedlichster Ausprägung am Fuß bei Patienten mit Diabetes mellitus bezeichnet. Das Krankheitsbild tritt sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2- Diabetikern auf. Epidemiologie Etwa zwei bis zehn Prozent aller Menschen mit Diabetes mellitus leiden an einem Fußulkus, die jährliche Inzidenzrate liegt bei 2,2 5,9 Prozent. Die Prävalenz nimmt mit steigendem Lebensalter zu. So haben Patienten über dem 50. Lebensjahr ein fünf- bis zehnprozentiges Risiko. Leider sind auch in den westlichen Industriestaaten trotz Etablierung einer hochtechnisierten Medizin weiterhin häufig Amputationen die Folge. Eine Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigte für das Jahr 2001 in Deutschland 43.544 Amputationen an der unteren Extremität, davon 29.000 Fälle bei Patienten mit Diabetes. 12.070 Amputationen (29 Prozent) wurden oberhalb des Kniegelenks und 7.209 oberhalb des Knöchels (17 Prozent) durchgeführt. Die Leverkusen Amputation Reduction Study konnte bei Diabetikern eine Abnahme der Amputationsrate um 37 Prozent von 1990 zu 2005 nachweisen. Diese positive Entwicklung wird einer verbesserten Vernetzung und Kooperation ambulanter und stationärer Versorgungsstrukturen zugeschrieben. Daß diese Strukturveränderungen deutschlandweit zu einer effektiveren Betreuung der Patienten führen, belegen aktuelle Zahlen der Gmünder Ersatzkas- Dr. Thomas Werner Dr. Claudia Lindloh se. Untersucht wurden 87.288 Versicherte mit Diabetes mellitus (55.735 Männer, 31.553 Frauen). 994 Versicherte erlitten zwischen 2005 und 2007 eine erste Amputation. Es zeigte sich ein nur noch 7,4fach erhöhtes alters- und geschlechtsadjustiertes Risiko für eine Amputation an der unteren Extremität im Vergleich zu Nichtdiabetikern (Männer: 8,8 / Frauen: 5,7). In den Arbeiten der Gruppe um Trautner aus den Jahren 1990/91 wurde noch ein 22fach erhöhtes relatives Risiko für Amputationen bei Diabetikern gefunden. Leider waren in allen Untersuchungen sehr hohe Zahlen von Majoramputationen festzustellen. Heller et al. fanden 2004 einen Anteil von 46 Prozent Majoramputationen in Deutschland, bei der Untersuchung von Icks et al. (2009) wurden 43 Prozent der Patienten majoramputiert. Als Majoramputationen versteht man Amputationen oberhalb der Knöchelregion (Definition der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie). Diese Eingriffe führen zu einer schweren Beeinträchtigung des betroffenen Patienten und sind mit einer hohen Mortalität verbunden. Erfahrungsgemäß muß innerhalb von vier Jahren bei etwa der Hälfte der von Majoramputation betroffenen Diabetiker auch das zweite Bein amputiert werden; ca. 50 Prozent der Amputierten versterben innerhalb von drei Jahren. Im europäischen Vergleich werden deutlich niedrigere Majoramputationsraten angegeben. So liegt sie in den Niederlanden bei 15 Prozent. Die Rate an Majoramputationen läßt sich durch enge Kooperation spezialisierter Ärzte sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich senken. Risse und Schröder (2009) belegen eine Senkung der Rate von Majoramputationen in einer Dortmunder Einrichtung von 23,8 Prozent im Jahr 1991 auf 3,7 Prozent im Jahr 2002. Das Kölner Wundnetz konnte durch Schaffung integrierter Strukturen die Majoramputationsrate auf 2,1 Prozent reduzieren, die gesamte Amputationsrate lag bei 12,7 Prozent. In Thüringen sind derzeit fünf Schwerpunktpraxen und fünf stationäre Einrichtungen durch die AG Fuß der Deutschen Diabetesgesellschaft zertifiziert und als Fußbehandlungszentren anerkannt. Durch die Qualifikation der Mitarbeiter und vertraglich festgelegte Kooperationen mit für das Krankheitsbild relevanten ärztlichen und nichtärztlichen Berufsgruppen kann auch im Freistaat eine strukturierte Versorgung für Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom angeboten werden. Pathogenetische Aspekte Zwei diabetische Folgeerkrankungen spielen bei der Entstehung des Krankheitsbildes eine bedeutsame Rolle: die 416 Ärzteblatt Thüringen

diabetische Polyneuropathie und die periphere arterielle Durchblutungsstörung. Das Diabetische Fußsyndrom kann nach seiner Entstehung in rein neuropathische, rein angiopathische und Mischformen klassifiziert werden. In Abhängigkeit der Genese des Ulkus ist prinzipiell eine Prognoseabschätzung bezüglich Abheilrate, aber auch der Mortalität des Patienten möglich. Eine Untersuchung von Moulik et al. (2003) bei 185 Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom ergab, daß bei rein neuropathischen Ulcera eine Amputationshäufigkeit von 11 Prozent innerhalb von fünf Jahren bestand. Waren Durchblutungsstörungen auffällig, stieg die Amputationsrate auf 29 Prozent beziehungsweise 25 Prozent bei Mischformen an. Andere Untersuchungen zeigten ebenfalls eine deutlich schlechtere Prognose der Patienten, wenn eine periphere arterielle Verschlußkrankheit Ursache des Diabetischen Fußsyndroms war. Über 92 Monate waren nur noch 11 Prozent der Diabetiker mit ischämischen Ulcera am Leben, wogegen in der Vergleichsgruppe mit neuropathischen Fußulcera 58 Prozent überlebten. Eine Vielzahl unterschiedlicher Risikofaktoren begünstigen die Entstehung eines Diabetischen Fußsyndroms (Abb. 1). Häufigste Auslöser von Ulcera sind Bagatelltraumata und unpassendes Schuhwerk. Aber auch Onychomykosen und Nageldeformitäten können bei Diabetes mellitus zu schweren Infektionen am Fuß führen. Eine periphere Neuropathie kann autonome, sensorische oder motorische Fasern betreffen. Typisch bei der autonomen Störung ist eine verminderte Schweißsekretion. Dadurch trocknet die Haut aus. Durch entstehende Einrisse der Haut können Bakterien eindringen und eine Entzündung auslösen (Abb. 2). Die sensorische Neuropathie ist durch ein vermindertes Schmerzempfinden gekennzeichnet. Traumata werden nicht wahrgenommen. Bei pathologischer Temperaturempfindlichkeit sind Verbrennungen möglich. Durch eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit, die vermutlich aufgrund der Proteinglykolisierung in Gelenken, den Weichteilen und der Haut entsteht, und Innervationsstörungen der Fußmuskulatur kommt es zur Veränderung des Abb. 1. Mit Diabetischem Fußsyndrom in Beziehung stehende Faktoren (Spraul M., Internationaler Konsensus über den Diabetischen Fuß / Internationale Arbeitsgruppe über den Diabetischen Fuß. Mainz : Kirchheim, 1999). Abb. 2. Ferse mit unterblutetem Hauteinriß (Pat. M. R., w, 78 J.). Aufnahme: T. Werner Fußgewölbes mit nachfolgender Fehlbelastung. Es entstehen Hornschwielen, aus denen sich Ulcera entwickeln. Dies alles sind typische Veränderungen, die vor dem Entstehen eines Diabetischen Fußsyndroms erfaßt und therapiert werden sollten (Abb. 3). Zur Objektivierung einer diabetischen Polyneuropathie stehen einfache Hilfsmittel zur Verfügung. Mittels Testung von Achillessehnenreflex, Stimmgabeltest nach Rydell-Seiffer (128 Hz), Semmes-Weinstein-Monofilament-Test (10 Gramm Andruck) und Überprüfung der Temperaturempfindlichkeit (z. B. TipTherm) kann ein Neuropathie-Defizit-Score (NDS) bestimmt werden. Je länger der Diabetes mellitus besteht, desto häufiger liegt eine peripher Abb. 3. Neuropathisches Ulcus D2, Krallenzehen, Hallux D1, Hornhautschwielen plantar (Pat. R. M., w, 67 J.). Aufnahme: T. Werner Abb. 4. Ischämiebedingte Nekrosen (Pat. S.H., w, 83 J.). Aufnahme: T. Werner arterielle Verschlußkrankheit (pavk) vor (Abb. 4). Die getabi-studie liefert Daten Ausgabe 7-8 / 2010 21. Jahrgang 417

zur Abschätzung der Häufigkeit einer pavk in der deutschen Bevölkerung. Dort wurden 6880 Patienten in deutschen Hausarztpraxen auf eine pavk untersucht. Die Prävalenz betrug im Untersuchungskollektiv 19,8 Prozent bei Männern und 16,8 Prozent bei Frauen. Etwa einem Drittel der Patienten war die Diagnose bisher noch nicht bekannt. Deutlich wurde auch die Abhängigkeit der Erkrankung vom Alter der Patienten. Bei 80jährigen konnte die Erkrankung bei etwa einem Viertel der Patienten objektiviert werden. Diabetiker waren häufiger von einer pavk betroffen. Bereits bei der Anamneseerhebung können Hinweise auf eine pavk eruiert werden. Typisch sind belastungsabhängige Schmerzen der unteren Extremitäten. Meist ist die Symptomatik seitendifferent. Die genaue Lokalisation ist von der Höhe der arteriellen Stenose abhängig. Im Gegensatz dazu werden polyneuropathische Schmerzen eher in Ruhe beklagt. Fehlende Fußpulse sollten bei Diabetikern ebenfalls zur Einleitung einer pavk- Diagnostik führen. Der einfachste Test zur Objektivierung einer peripheren Durchblutungsstörung ist das Messen des ankle brachial index (ABI). Darin wird der systemische Blutdruck nach Riva Rocci am Oberarm gemessen und mit dem Druck der Arteria tibialis posterior und der A. dorsalis pedis in Bezug gesetzt. Pathologisch ist der ABI ab Werten kleiner als 0,9. Dann liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gefäßstenose von 50 Prozent und höher vor. Beim Vorliegen einer Mediasklerose kann diese Methode nicht zur Anwendung kommen. Dann müssen andere Verfahren zur Objektivierung der Durchblutungsverhältnisse herangezogen werden. Geeignet sind die Sauerstoffpartialdruckmessung, die farbcodierte Duplexsonografie und die MR- Angiografie (MRA). Klassifikation des Diabetischen Fußsyndroms Zur Beurteilung der Wundverhältnisse hat sich die Einteilung nach der Wagner- Klassifikation als Standard durchgesetzt. Darin wird die Ausdehnung der Wunde Abb. 5. Wagner-Klassifikation. beschrieben (Abb. 5). Gleichrangig sind die Beurteilung der Durchblutungsverhältnisse und die Einschätzung des Vorhandenseins einer Entzündung. Zur Wundbeschreibung dient dabei die Armstrong-Klassifikation (Abb. 6). Behandlungsstrategie Um Infektionserreger zu erfassen, sollte initial ein tiefer Wundabstrich durchgeführt werden. Danach ist ein Wunddébridement durchzuführen. Als Hilfsmittel hat sich in den letzten Jahren die Möglichkeit der Biochirurgie mit Fliegenmaden etabliert. Dieses Verfahren kann die chirurgische Wundtoilette allerdings nicht ersetzen. Gleiches trifft für ultraschallbasierte Methoden der Wundreinigung zu. Da die Patienten zu Abb. 6. Armstrong-Klassifikation. einem großen Teil eine Sensibilitätsstörung im Rahmen der Neuropathie haben, sind lokale Eingriffe meist schmerzfrei. Die Durchführung einer Röntgenaufnahme ist ab Wagner-Stadium 2 empfehlenswert. Bei Infektion sollte sofort eine systemische kalkulierte Antibiose eingeleitet werden (Abb. 7 und Abb. 8). Je nach Ausbreitung der Infektion und durchgeführten chirurgischen Maßnahmen ist die Antibiotikagabe teils über Wochen zu empfehlen. Die Wahl des Antibiotikums richtet sich dabei nach dem Schweregrad der Infektion sowie der Resistenzlage der Einrichtung. Für die Therapieentscheidung sind individuelle Sensibilitätsstatistiken sehr wertvoll. Es ist in der Regel mit einer Mischinfektion zu rechnen (Staphylococcus aureus, koagulase-negative Sta- 418 Ärzteblatt Thüringen

Abb. 7. Neuropathisch infiziertes Ulkus mit akraler Gangrän durch septische Thrombose (Pat. M. W., w, 59 J.). Aufnahme: T. Werner Abb. 8. Neuropathisch-ischämischer Fuß mit schwerer Infektion, Wagner 5 /Armstrong D (Pat. A. D., m, 77 J.). Aufnahme: T. Werner phylokokken, ß-hämolysierende Streptokokken, Streptococcus viridans, Enterokokken, E. coli, Enterobacter spp., Proteus spp., Pseudomonas aeruginosa, Anaerobier). Diabetiker sind häufig Träger multiresistenter Bakterienstämme, wie z. B. MRSA. Deswegen ist ein Hygieneplan, der die Versorgung der Betroffenen regelt, essentiell. Bei jedem Patient muß im Anschluß an die Erstversorgung der Wunde eine Beurteilung der Durchblutungsverhältnisse erfolgen. Falls eine pavk vorliegt, sollte im interdisziplinären Konsil über die Form der Intervention entschieden werden. Neben den zu favorisierenden invasiven Methoden der PTA und Bypass-Chirurgie stehen auch nichtinvasive Verfahren zur Verbesserung der peripheren Durchblutung zur Verfügung. So ist die Anwendung von Prostaglandinen und die Low-dose-Urokinase-Therapie etabliert. In einigen Zentren wird bei nicht interventionell zugänglichen, amputationsgefährdeten Extremitäten die autologe Stammzelltransplantation eingesetzt. Wichtig für die erfolgreiche Behandlung des Diabetischen Fußsyndroms ist die strikte Entlastung der Wunde. Die Lokaltherapie richtet sich nach den Regeln einer modernen Wundbehandlung. Es sind feuchte Verbände zu bevorzugen. Bei trotz Entlastung und optimierten Durchblutungsverhältnissen chronisch schlecht heilenden Wunden stehen mehrere alternative Verfahren zur Auswahl. Etabliert haben sich die Vakuumtherapie und die Elektrostimulation. Außerdem können genetisch hergestellte beziehungsweise autolog gewonnene Wachstumsfaktoren aufgetragen werden. Auch die Anwendung von Laser zur Granulationsförderung ist möglich. Weiterhin wurden Wundauflagen entwickelt, welche die Konzentration für die Wundheilung ungünstiger Metalloproteasen vermindern. Problematisch ist bei den meisten Verfahren das Fehlen großer klinischer Studien, die eine Evidenz dieser Behandlungsalternativen beim Diabetischen Fußsyndrom belegen. Alle Therapiemaßnahmen müssen durch eine gute Glukosestoffwechseleinstellung begleitet werden. Das Bakterienwachstum wird durch erhöhte Glukosewerte gefördert. Die Immunantwort und Rheologie des Blutes sind in Abhängigkeit vom Ausmaß der Hyperglykämie gestört. Chronisch erhöhte Blutglukosespiegel inhibieren die Angiogenese und verzögern damit die Wundheilung. Marston (2006) konnte den Zusammenhang von Hyperglykämie und verzögerter Wundheilung beim Diabetischen Fußsyndrom in einer Studie mit 245 Patienten nachweisen. Neuere Untersuchungen zeigen aber auch die Gefährlichkeit von Hypoglykämien bei Diabetikern mit kardiovaskulären Folgekrankheiten. Somit ist eine möglichst optimale Stoffwechselführung bei Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom durch einen Diabetologen wichtig. In Anlehnung an Risse zeigt Abbildung 9 die Komplexität der beteiligten ärztlichen und nichtärztlichen Berufsgruppen zur umfassenden Versorgung von diabetischen Fußulcera. Im Mittelpunkt sollte je nach Schweregrad der Erkrankung die ambulante oder stationäre diabetologische Fußbehandlungseinrichtung stehen. Die meisten Fußulcera werden im ambulanten Bereich behandelt und erfordern durchschnittlich 6 14 Wochen zur Heilung. Um die Behandlungsqualität zu verbessern, wird bei Läsionen die frühzeitige Überweisung in ein ambulantes Fuß-Behandlungszentrum empfohlen. Von der DDG zertifizierte Zentren halten dafür eine entsprechende Strukturqualität vor. Ab Wagner-Stadium 2 / Armstrong B ist die Einweisung in eine stationäre Behandlungseinrichtung zu überdenken. Bei Vorliegen einer angiopathisch bedingten Läsion ist die stationäre Behandlung zum Revaskularisationsversuch indiziert. Prävention Eine gute Stoffwechseleinstellung verringert die Entstehung von Folgeerkrankungen, wie Polyneuropathie, Entzündungen und arteriellen Durchblutungsstörungen. Zu den wichtigsten Maßnah- Ausgabe 7-8 / 2010 21. Jahrgang 419

Abb. 9. Interdisziplinäre Behandlung bei Diabetischem Fußsyndrom. men zur Vermeidung von Fußulcera bei Patienten mit Diabetes mellitus gehört die Identifikation von Risikopatienten. Diese sollten schon frühzeitig vom Hausarzt oder Diabetologen durch regelmäßige Fußuntersuchungen erfaßt werden (Abb.10). Die Diagnostik beinhaltet die Fußinspektion, einen Polyneuropathietest sowie die Beurteilung der peripheren Durchblutungsverhältnisse. Wichtig ist auch die Information der Betroffenen über das Krankheitsbild. In den strukturierten Schulungs- und Behandlungsprogrammen, die für jeden Patienten mit Diabetes mellitus schon bei Diagnosestellung empfohlen werden, informiert eine Schulungsstunde über verletzungsfreie Fußpflege, Pflege trockener Haut, tägliche Fußinspektion durch den Patienten beziehungsweise Angehörige sowie die Notwendigkeit des Tragens von geeignetem Schuhwerk. Weiterhin werden die Schulungsteilnehmer darauf hingewiesen, beim Auftreten von Fußwunden unverzüglich einen qualifizierten Arzt aufzusuchen. Für Hochrisikopatienten, die schon diabetische Fußulzerationen hatten, gibt es ein spezielles Schulungsprogramm, das BARFUSS-Projekt. Eine wichtige Rolle in der Versorgung von Patienten mit ho- hem Risiko zur Entstehung eines Diabetischen Fußsyndroms spielen die Diabetesberater, Podologen und Orthopädieschuhmacher. Eine spezialisierte Fußpflege steht in Form der podologischen Therapie für Patienten mit diabetischer Polyneuropathie und/oder Angiopathie zur Verfügung. Diese kann von jedem Arzt als Heilmittel zu Lasten der Gesetzlichen Kranken kassen verordnet werden. Podologen entfernen regelmäßig Hornhautschwielen. Dadurch wird die Druckbelastung an der Fußsohle vermindert, Hornhautrisse können vermieden werden. Durch professionelle Nagelbehandlungen können Entzündungen von Nagelbett und Zehen vorgebeugt werden. Zweifelsfrei eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen bei Risikopatienten ist die Verordnung geeigneten Schuhwerks. Für die stadiengerechte Schuhversorgung der Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom haben sich die Empfehlungen der AG Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft etabliert. Diese wurden interdisziplinär von Diabetologen, Orthopäden und Orhopädieschuhmachermeistern erarbeitet. Sie gelten auch für nichtdiabetische Neuro-, Arthro- oder Angiopathien. Bei akuten Ulzerationen am Fuß von Patienten mit diabetischer Neuropathie ist eine konsequente Druckentlastung notwendig, um eine schnelle Wundheilung zu erzielen. Dazu gibt es unterschiedliche Verbandsschuhe, deren Verordnung von den Krankenkassen erstattet wird. Zur Rezidivprophylaxe nach abgeheiltem Fußulkus ist die Verordnung von Diabetikerschutzschuhen beziehungsweise orthopädischen Maßschuhen mit entsprechenden Weichpolstereinlagen oder sogenannten diabetesadaptierten Fußbettungen (DAF) wirksam. Aber auch Patienten, die bisher noch kein Ulkus hatten, sollten beim Vorliegen einer Neuropathie und/oder pavk mit adäquaten Schuhen versorgt werden. Das Risiko eines ersten Fußgeschwürs liegt bei jährlich sieben Prozent. Diabetikerschutzschuhe sind industriell vorgefertigte Spezialschuhe, die durch individuelle Schuhzurichtungen ergänzt werden (z. B. Abrollhilfen, DAF); (Abb. 11). Die Wirksamkeit der Diabetikerschutzschuhe wurde in klinischen Stu- Abb. 10. Kontrolluntersuchungen beim Diabetischen Fußsyndrom (nach Lawall 2009). 420 Ärzteblatt Thüringen

ermüden oder sich die Füße in der Form verändern können. Minimalkriterien zur Schuhversorgung sind in Abbildung 12 zusammengestellt. Zusammenfassung Abb. 11. Druckspitzenreduktion durch diabetesadaptierte Fußbettung in orthopädischem Maßschuh. Aufnahme: C. Lindloh dien nachgewiesen. Bei Vorliegen einer höhergradigen Fußdeformität sind orthopädische Maßschuhe notwendig. Der verordnende Arzt wählt im Idealfall zusammen mit dem Orthopädieschuhmachermeister die für den Patienten opti- male Schuhversorgung aus. Er muß die Auslieferung der Schuhe überwachen und die Einlaufphase kontrollieren. Auch im weiteren Verlauf ist die konsequente Kontrolle der Schuhe und Fußbettungen notwendig, da das Material Diabetiker sind durch diabetische Folgekrankheiten gefährdet. Insbesondere die periphere Polyneuropathie begünstigt die Entstehung von Infektionen und Ulzerationen an den Füßen. Kommt eine periphere Verschlußkrankheit hinzu, steigt das Risiko von Amputationen, auch oberhalb des Sprunggelenks. In Deutschland wird trotz intensiver Bemühungen weiterhin über zu hohe Majoramputationsraten berichtet. Durch die Etablierung interdisziplinärer Behandlungszentren ist ein deutlicher Qualitätszuwachs bei der Versorgung von Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom nachweisbar. Die AG Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft entwickelte Qualitätskriterien, deren Umsetzung nachweislich zu einer Verbesserung der Versorgung Betroffener führen. Auch in Thüringen sind sowohl ambulante als auch stationäre Einrichtungen danach zertifiziert. Literatur bei den Verfassern. Dr. med. Thomas Werner Prof. Dr.med. Reinhard Fünfstück Klinik für Innere Medizin I Sophien- und Hufelandklinikum Weimar Henry-van-de-Velde-Straße 2 99425 Weimar Abb. 12. Minimalkriterien zur Schuhversorgung beim DFS. Dr. med. Claudia Lindloh Fachärztin für Innere Medizin / Endokrinologie und Diabetologie Engelplatz 8 07743 Jena Ärzteblatt Thüringen im Internet: www.aerzteblatt-thuer.de Ausgabe 7-8 / 2010 21. Jahrgang 421