TU Dortmund, Wintersemester 2009/10 Institut für Philosophie und Politikwissenschaft C. Beisbart Von der Metaethik zur Moralphilosophie: R. M. Hare Der praktische Schluss/Prinzipien Überblick zum 26.10.2009 1 Wiederholung und Zusammenfassung von SM, Kapitel 2 3 Um die Moralsprache besser zu verstehen, klärt Hare zunächst Imperative und Befehle. Wie die Moralsprache ist nämlich nach Hare auch die Sprache von Imperativsätzen eine vorschreibende Sprache. Der Imperativ ist zunächst eine Aussageform. Nach Hare haben jedoch alle Imperativsätze etwas gemeinsam: Sie drücken einen Befehl aus, demzufolge etwas getan werden soll. Einem Imperativsatz kann man nur dann aufrichtig zustimmen, wenn man den Imperativsatz befolgen will, sofern der Imperativsatz sich auf einen selbst bezieht. Imperativsätze können in logischen Beziehungen zueinander stehen. a. Sie können einen Widerspruch bilden. b. Ein Imperativsatz kann einen anderen Imperativsatz enthalten. Der Imperativsatz Bringe alle Kisten zum Bahnhof! enthält zum Beispiel den Imperativsatz Bringe diese Kiste zum Bahnhof!. Die Beziehungen des Widerspruchs und der Enthaltung haben es letztlich nur mit dem Phrastikon zu tun; sie sind außerdem logischer Art. Es gibt daher einen Logik der Imperative. Ein wichtiger Begriff der Logik ist der Begriff des Schlusses. Ein Schluss ist ein Übergang von Aussagen oder Sätzen den Prämissen zu einer anderen Aussage oder einem anderen Satz der Konklusion. Schlüsse notiert man üblicherweise mithilfe eines Striches, den man zwischen Prämissen und Konklusion zieht. Ein Beispiel für einen Schluss wäre: P1 Alle Raben sind schwarz. P2 Rabo ist ein Rabe. K1 Rabo ist schwarz. Einen Schluss können wir gedanklich durchlaufen, wenn wir uns etwas überlegen und dabei von bestimmten Annahmen auf eine andere Annahme schließen. Der oben genannte Schluss ist deduktiv gültig, weil die Prämissen gemeinsam die Konklusion enthalten. Da wir die Beziehung des Enthaltens mit Hare auch für Imperative definiert haben, können wir auch Schlüsse aufstellen, die von einem Imperativsatz zu einem anderen Imperativsatz führen, und die ebenso gültig sind wie das Beispiel oben. Beispiel (vgl. 2.5; S. 49): P3 Bringe alle Kisten zum Bahnhof! K2 Bringe diese Kiste zum Bahnhof! Offenbar ist dieser Schluss gültig, weil der erste Imperativsatz den zweiten enthält. Das liegt offenbar lediglich an den Phrastiken der beiden Sätze. Der folgende Schluss mit Imperativsätzen variiert unsere letzten Schluss nur wenig: 1
P4 Gratuliere allen, die heute Geburtstag haben! P5 Annette hat heute Geburtstag. K3 Gratuliere Annette! Auch dieser Schluss scheint intuitiv sinnvoll und deduktiv gültig. Anders als der Schluss eben mit den Kisten involviert unser neuer Schluss aber Imperativ- und Indikativsätze. Die Berechtigung für den Schluss kann daher nicht nur an den Phrastiken liegen, denn folgender Schluss hat Sätze mit denselben Phrastiken, ist aber intuitiv nicht sinnvoll: P4 Gratuliere allen, die heute Geburtstag haben! [Imperativ gerichtet an Horst] P5 Annette hat heute Geburtstag. K4 Horst wird heute Annette gratulieren. Die Aufforderung an Horst, Annette zu gratulieren, impliziert nicht, dass Horst Annette in der Tat gratuliert. Hare fragt sich daher, unter welchen Bedingungen ein Schluss, der Imperativ- und Indikativsätze enthält, gültig oder sinnvoll ist. Er stellt in 2.5 zwei Regeln dafür auf. Wenn wir von einer bestimmten Menge von Prämissen auf eine indikativische Konklusion schließen dürfen, dann dürfen wir auch von den Indikativsätzen innerhalb der Prämissen auf die Konklusion schließen (anschaulich: Imperativsätze sind bei Schlüssen auf Indikativsätze irrelevant). Wir dürfen nur dann auf einen Imperativsatz schließen, wenn unter den Prämissen mindestens ein Imperativsatz ist (Idee: nur aus Indikativsätzen Behauptungen über Tatsachen folgt nicht logisch ein Imperativsatz). Im Kapitel 3 begründet Hare die zweite Regel. 2 Handlungen und praktische Prinzipien Bisher ging Hare von der Sprache aus; dabei hat er insbesondere auf allgemeine Imperativsätze ( Bringe alle Kisten zum Bahnhof! ) und Schlüsse mit solchen Imperativsätzen behandelt. Nun fragt man sich aber: Wozu sind solche allgemeinen Imperative und die Schlüsse gut? Welche Rolle spielen sie in unserem Leben? Diese Frage beantwortet Hare in Kapitel 4 von SM. Hare setzt beim Begriff des praktischen Schlusses/praktischen Syllogismus an. Ein praktischer Schluss ist ein Schluss, der auf eine Handlung oder einen direkt handlungsleitenden Satz führt (Hare: einen Imperativ). Die These, dass es praktische Schlüsse gibt, ist alt. Man kann diese These wie folgt plausibilisieren: Manchmal überlegen wir, was wir tun wollen. Diese Überlegung führt uns unmittelbar zu einer Handlungsentscheidung und heißt daher praktisch. Als Überlegung kann sie aber als ein Schluss dargestellt werden. Hare beginnt mit dem Beispiel folgenden Schlusses (41): O Sage niemals etwas Unwahres! 2
U Anna ist dick ist unwahr. K Sage nicht: Anna ist dick! (vielleicht auch: Ich will/werde nicht sagen: Anna ist dick ; vielleicht auch: [Unterlassung: Es wird nichts gesagt]) Die erste Prämisse heißt dabei der Obersatz (O); der Obersatz ist allgemein (bezieht sich potentiell auf viele Situationen). Wegen seiner Allgemeinheit sprechen wir auch von einem Prinzip. Der Obersatz ist bei Hare stets imperativisch. Der Untersatz (U) ist hingegen indikativisch; er besagt hier genauer, dass ein bestimmter Satz unwahr ist, enthält also Information über die Handlungssituation. In 4.1 sagt Hare mehr zum Untersatz. a. Hare behauptet, dass der Untersatz Folgen über verschiedene Handlungsoptionen behauptet (81; Beispiel: Wenn Du den Buchhalter entlässt, dann findet er keine neue Stelle und bleibt arbeitslos ). Hare These, dass dem immer so ist, bleibt unplausibel, da man auch einige Schlüsse oben (den mit dem Geburtstag) als praktische Schlüsse auffassen kann. Man sollte besser sagen, dass der Untersatz Information über die konkrete Handlungssituation enthält. In diesem Zusammenhang gibt es einen Exkurs zur Moralphilosphie. Der Obersatz, der in einem praktischen Schluss steht, könnte nämlich moralisch begründet sein als moralisches Prinzip zu verstehen sein. Wenn das so ist und wenn der Untersatz stets die Folgen von Handlungsoptionen ausmalt, dann müssen sich die moralischen Prinzipien offenbar auf die Konsequenzen der Handlungen beziehen. Die Richtigkeit einer moralischen Handlung ergäbe sich dann stets aus den Konsequenzen der Handlung. Die Auffassung, dass die Richtigkeit einer Handlung nur von dem nicht-moralischen Wert der Folgen abhängt, nennt man Konsequentialismus. Dem Konsequentialismus stehen deontologische Ethik-Theorien gegenüber. Ihnen zufolge hat die Richtigkeit einer moralischen Handlung auch mit deren Motiven, ihrer Form etc. zu tun. Hare plädiert an dieser Stelle für eine konsequentialistische Moral. b. Hare empfiehlt, dass der Untersatz keine wertenden Wörter enthält (der Unteresatz sollte also etwa nicht lauten: Ina ist schlampig ; 82 83). Als Grund könnte man sagen, dass man bei einer Handlungsentscheidung klar zwischen den eigenen handlungsleitenden Prinzipien und den Tatsachen (die nach Hare in den Untersatz gehören) trennen sollte. Wie wir ja bereits gesehen haben, zieht Hare eine deutliche Linie zwischen moralischen Einstellungen und dem Behaupten von Tatsachen. Das wird auch wieder an dieser Stelle deutlich. Ob Hare hier recht hat, ist umstritten. Nun fragt sich, ob jede Handlung auf einen praktischen Schluss zurückgeht. Sicherlich folgt nicht jede Handlung auf eine explizit durchgeführte Überlegung. Aber man könnte vielleicht sagen, dass wir vor manchen Handlungen unbewusst eine praktische Überlegung durchführen. Hare zufolge geht nicht jede Handlung auf einen praktischen Schluss zurück. Er sagt, dass manchmal der Obersatz fehlt (weswegen auch der Schluss nicht durchgeführt werden kann; 81). Unter welchen Umständen können wir aber sagen, dass der Obersatz vorhanden war, dass der Akteur also ein praktisches Prinzip hat, das auf die Situation angewandt wurde? In 4.2 beantwortet Hare diese Frage zunächst mit einem Gedankenexperiment. Er stellt sich eine Person vor, die alle Folgen aller möglichen Handlungsalternativen kennt (die alle relavanten Information über die Handlungssituation hat). Damit ist aber noch 3
nicht entschieden, wie sie handelt. Die Person könnte nun vollkommen willkürlich handeln. Dann kann man der Person kein Prinzip unterlegen. Andererseits könnte die Person aber auch auf eine etwaige Nachfrage, warum sie X tut/tat, antworten: Weil dadurch der Buchhalter nicht arbeitslos wird. Nach Hare hat die Person nun zumindest begonnen, sich Prinzipien zu bilden. Sie begründet ihr Handeln nämlich, und diese Begründung greift auf bestimmte Folgen zurück, die sich allgemein beschreiben lassen. Aus den möglichen Folgen, die sich ergeben könnte, greift die Person wenige heraus, und verbindet sie mit der Handlung. Wir können das wie folgt durch einen Schluss darstellen. Nehmen wir an, die Person habe den Buchhalter aus Hares Beispiel (81) nicht entlassen, weil, wie sie sagt, auf diese Weise der Buchhalter nicht dauerhaft arbeitslos wurde. Der Schluss wäre dann: O Vermeide, dass eine Person durch Dein Handeln dauerhaft arbeitslos wird. U Wenn ich X jetzt entlasse, dann bleibt er dauerhaft arbeitslos. K Entlasse den Buchhalter jetzt nicht! Nach Hare können wir einer Person also insofern ein Handlungsprinzip zuschreiben, als sie ihr Handeln mit Allgemeinbegriffen begründet. Die Person legt sich mit der Begründung darauf fest, dasss bestimmte allgemeine Umstände für ihr Handeln relevant sind. Die These, dass Begründungen auf ein allgemeines Prinzip zurückführen, ist alt, aber nicht unumstritten. Nun ist natürlich das Beispiel der Person, die alles über ihre Situation und die Folgen weiß, nicht realistisch wir wissen in der Regel nicht alles über die Folgen und die Situation. Das spricht jedoch nicht dagegen, dass eine Person, die ihr Handeln begründet, nicht an allgemeinen Prinzipien orientiert ist. Vielmehr brauchen wir, wenn wir die Folgen unserer Handlungen nicht vorhersagen können, weitere Prinzipien, die uns sagen, womit wir in etwa rechnen sollten. Prinzipien sind sogar sehr praktisch, da sie die praktische Überlegung abkürzen. Wer das Prinzip hat, niemals zu lügen, muss nicht immer wieder überlegen, ob er lügen sollte (84 85). Insgesamt meint Hare damit zwei Gründe angegeben zu haben, warum wir aus Prinzipien heraus handeln: 1. Insofern wir Handlungen begründen und sagen, warum wir etwas getan haben, sind wir auf allgemeine Prinzipien festgelegt. 2. Einfache Prinzipien (auch der Vorhersage) erleichtern unser Leben. In 4.3 gibt Hare eine dritte Überlegung an, die zeigen soll, inwiefern wir Prinzipien brauchen. Nach Hare ist zumindest das meiste Lernen von Verhalten an Prinzipien gebunden. Denn wir lernen ja für die Zukunft wir wollen das Gelernte immer auch in der Zukunft einsetzen. Wenn wir nur lernen würden, was wir hier und jetzt tun sollen, dann würden wir nichts für die Zukunft lernen. Die Zukunft ist uns aber im Großen und Ganzen unbekannt. Deshalb können wir nicht lernen, was wir am 1.12.2009 um 13:00 Uhr tun sollten. Wir können daher nur lernen, was wir in bestimmten Typen von Situationen tun sollten wir können nur lernen, indem wir Prinzipien lernen, die wir allgemein d.h. auf viele mögliche Situationen anwenden können (86). Neben dem Lernen durch die Unterweisung durch eine andere Person kennt Hare auch das Lernen und Selbstunterweisung. Auch das eigene Lernen, ohne das es nach Hare nicht geht (87), ist nach Hare prinzipiell d.h. prinzipienorientiert. Hare beschreibt 4
das eigene Lernen als Modifikation von Prinzipien. Beispiel (92): Ich habe das Prinzip gelernt Gib ein Zeichen, wenn Du bremsen musst!. Eines Abends läuft ein Kind vor mir über die Straße. Ich muss daher bremsen und könnte jetzt schließen: P6 Gib ein Zeichen, wenn Du bremsen musst! P7 Die Situation ist so, dass ich bremsen muss. K4 Gib ein Zeichen! In Hares Beispiel kommt mir das aber eigenartig vor (das Geben des Zeichens kostet Zeit und lenkt mich von dem Kind ab und gefährdet daher das Kind). Man könnte jetzt denken, ich würde das Prinzip einfach aufgeben. Nach Hare modifizieren wir das Prinzip aber nur, indem wir eine geeignete Ausnahmeklausel in das ursprüngliche Prinzip aufnehmen. Das neue Prinzip würde dann lauten: P6 Gib ein Zeichen, wenn Du bremsen musst, außer es liegt ein Notfall vor! Dieses Prinzip vermeidet durch die neue Ausnahmeklausel die problematische Konsequenz in K4. Da die Ausnahme jedoch allgemein beschrieben wird, liegt immer noch ein allgemeines Prinzip vor. Insgesamt spielen praktische Prinzipien (allgemeine Imperativsätze; allgemeine Befehle) daher eine wichtige Rolle in unserem Leben. 5