monopol Nr. 4, April 2017, S. 68-80
JORG II SASSE Dem Alltag eine Bühne: Die frühen, bislang unveröffentlichten Stillleben des vielleicht unabhängigsten der Becher-Schüler zeigen, dass nur das Bild wirklich ist
PORTFOLIO M anche Menschen können sich den visuellen Eindrücken des Alltags ganz leicht entziehen.,,ich konnte das nie", sagt Jörg Sasse.,,Es ist wie mit Ohrwürmern. Ich musste einen Platz dafür finden." Schon vor seiner Bewerbung für die Düsseldorfer Kunstakademie hatte Sasse damit begonnen, Schaufensterdekorationen hinter spiegelnden Scheiben zu fotografieren. Erst in Schwarz-Weiß, dann in Farbe, schließlich ließ er die Spiegelungen weg.,,ich versuchte, die Konzentration auf die kleinen Bühnen des Alltags zu lenken." Die frühen, unveröffentlichten Stillleben dieses Portfolios, die Sasse 1984 bis 1988 fotografierte, spielen bereits auf ihrer eigenen Bühne. Profane Objekte stellen ihre visuellen Reize in einen höheren Dienst, bedienen in ihrer Dinglichkeit abstrakte Bildwirkungen. Und selbst die Farben im Hintergrund, mit denen sie in Beziehung treten, hatten bereits ein Vorleben aus dem Alltag, das sie selbstlos hinter sich ließen:,,es sind dieselben farbigen Hintergründe, vor denen Thomas Ruff seine Porträts fotografierte. In der Becher-Klasse konnten die alle benutzen." Eigentlich hatte der 1962 in Bad Salzuflen geborene Künstler Bildhauer werden wollen. Doch als ihn Bernd Becher im zweiten Semester aus der Orientierungsstufe der Düsseldorfer Kunstakademie fischte, kam es anders. Wer freilich bei dem aufgestellten gelben Plastiktrichter und seiner Sektverschluss-Krone zu Beginn dieser Strecke bereits einen becherschen Industrieturm ausmacht, tappt in die Kontextfalle, erfährt die Befangenheit des eigenen Blicks. Oder verrät das bunte Plastik nicht auch die ästhetischen Vorlieben jenes mittlerweile ebenfalls weltberühmten Künstlers, der damals die Düsseldorfer Anfangssemester betreute, Tony Cragg? Da kann Jörg Sasse im Gespräch nur lachen:.ach, gerade waren es also noch,bechers'. Und jetzt sind es schon,craggs'?" Entstanden zu einem Zeitpunkt, als noch niemand in der Becher-Klasse von der Anerkennung des Lichtbilds als Fotokunst träumen konnte, verraten die nur 18 mal 24 Zentimeter kleinen Abzüge eine besondere Hingabe an das Medium. Sasse finanzierte sich das Studium als Porzellanpacker; einen Tag packen bezahlte eine Packung Großformatdias.,,Da konnte man.sich keine zweite Belichtungsvariante leisten." Für Sasse war die Entscheidung, in den vom atomaren Wettrüsten geprägten frühen 80er-Jahren Künstler zu werden, auch politisch:.ich wollte selbst dafür verantwortlich sein, was ich produziere", erinnert er sich heute.,,ich wollte nichts parodieren, es war auch nie in Opposition angelegt zu etwas, das es schon gibt. Natürlich stellten sich grundsätzliche Fragen wie,was ist ein Bild?'. Aber ich war überzeugt, das Rad neu zu erfinden, und ich wusste, wenn ich mich auf meine eigenen Erfahrungen verlasse, wird es so speziell sein, dass es sich unterscheidet." Gut möglich, dass Bernd Becher, der vorzugsweise zu Hause unterrichtete, Jörg Sasses Stillleben nicht einmal gesehen hat:.wenn man ihm etwas zeigen wollte, musste man ihn anrufen. Man fuhr zu ihm nach Kaiserswerth und unterhielt sich mit ihm. Und für mich war er überhaupt der erste Mensch jenseits der 40, den ich akzeptierte. Wir sprachen viel über Politik und wenig über Fotografie. Es war zwar sein Medium, aber es war nicht sein Thema." Kann man das auch über Jörg Sasse sagen?,,das glaube ich wohl", räumt er ein. In drei Jahrzehnten entstand ein ungewöhnlich konsistentes Werk, das - anders als man es einzelnen ehemaligen Becher Schülern oft nachsagt - gerade nicht auf einen sofort erkennbaren Signature-Style setzt. Sasses Zugang zu den visuellen Mitteilungen des Alltags übertrumpft die Fotografie in ihrem vermeintlichen Alleinstellungsmerkmal - der eben nur scheinbaren Fähigkeit, die Wirklichkeit im Abbild zu erfassen. Erst in der künstlerischen Aneignung entsteht etwas Wirkliches daraus, zum Beispiel ein Bild. Ebenso wie Sasse später mit fotografischen Archiven arbeitete, fügt er schon die alltäglichen Fundobjekte zu einer neuen, völlig autonomen Ganzheit. Sasse, der sich bereits als Teenager mit Computern beschäftigte, gehörte zu den Ersten, die in digitaler Manipulierbarkeit nicht den Unschuldsverlust betrauerten, sondern im Gegenteil das Erwachsenwerden des Mediums feierten. Für Jörg Sasse war die Entscheidung, in den frühen 80er-Jahren Künstler zu werden, auch politisch TEXT DANIEL KOTHENSCHULTE Bei einer früheren Begegnung, 1996 im Kölnischen Kunstverein, freute sich Sasse über die Aktualität von Godards berühmtem ironischen Satz:.Fotografie ist Wahrheit. Film ist Wahrheit 24-mal in der Sekunde." längst sind die damals geführten Debatten über die Wahrheitsbehauptung von Fotografie historisch. Sasse hatte sich schon als junger Student nicht mit ihnen aufgehalten. Und Fotografien stattdessen, angeregt von Bernd Becher, an jene Punkte geführt, an denen ihre Wirkung nicht mehr nach ein paar Augenblicken endet. Schon 1996 sagte er im Gespräch:,,Jetzt ist es endlich raus, das Foto ist immer wahr. Und zwar so, wie es an der Wand hängt." Werke von Jörg Sasse sind in der großen Überblicksschau Fotografien werden Bilder. Die Becher-Klasse" zu sehen, die vom 27. April bis 13. August im Städel Museum in Frankfurt am Main läuft