Reform der Krankenversicherung: Vielfalt, Wettbewerb, Qualität Johannes Singhammer Seit vielen Jahren besteht in der Gesundheitspolitik ein Konsens darüber, dass es bei den Strukturen und den finanziellen Grundlagen wegen der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts kein Weiter so geben kann. Wir hatten dazu in den letzten zehn Jahren sehr grundsätzliche Diskussionen, in denen das Spektrum der Vorschläge vom Prämienmodell bis zur Bürgerversicherung gereicht hat. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir uns nicht nur mit einer Diskussion über die Finanzen der GKV beschäftigen sollten, sondern das Gesundheitssystem auch von innen reformieren müssen. In der Krankenversicherung sollten wir mehr an die Wirkmechanismen der sozialen Marktwirtschaft glauben. Das Motto der Planwirtschaft im Gesundheitswesen hat keine Zukunft. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Trotz Budgetierung und Ausgabenbegrenzungen sind die Beiträge immer weiter gestiegen, während die Leistungen immer weiter verringert wurden. Und deshalb ist es richtig, dass dieser Weg verlassen wurde. Wir brauchen stattdessen mehr Elemente von Freiheitlichkeit und Selbstbestimmung im Gesundheitswesen. Selbstverständlich müssen wir Antworten auf die Frage finden, wie wir die Versorgung der älteren Generation absichern, ohne die jüngere übermäßig zu belasten. Wer aber die jüngere Generation einseitig vor den Kosten der heute lebenden älteren Generation warnt, der übersieht, dass unsere Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn die Mehrheit 257
Johannes Singhammer ihrer Mitglieder sich freiwillig an gesellschaftliche Regeln und an Normen des menschlichen Zusammenlebens hält. Es ist eine der wichtigsten Tugenden für das Zusammenleben einer Gesellschaft, dass eine intakte Partnerschaft zwischen Jung und Alt vorhanden ist. Denn diese intakte Partnerschaft ist schließlich nichts anderes als das, was man für sich selbst im Alter erwartet. Kooperation und Solidarität garantieren langfristig Vertrauen zwischen den Menschen und sind daher die beste Garantie für faire Gegenleistungen. Wenn dieser Konsens existiert, werden Solidarleistungen auch nicht als schmerzendes Opfer, sondern als Investitionen in die gesellschaftliche Zukunft unseres Landes verstanden. Gemeinsinn zahlt sich langfristig auch für denjenigen aus, der im Moment meint, persönliche Opfer zu bringen. Das deutlich zu machen, ist gegenwärtig eine der wichtigsten politischen Aufgaben. Zunächst möchte ich nun einige grundsätzliche Aussagen zu künftigen Trends bezüglich der Entwicklung des Gesundheitswesens angesichts der demografischen Entwicklung analysieren. Für manche Experten führt der Trend des Alterns zu einer komprimierten Morbidität, d. h. die verlängerte Lebenszeit führt zu tendenziell späteren Erkrankungen, die dann in einem kürzeren Zeitraum mit geringeren finanziellen Aufwendungen kurz vor dem Tod auftreten. Die gewonnenen Jahre würden dabei vermehrt in Gesundheit verbracht (Kompressionsthese). Andere prognostizieren, dass die moderne Medizin das Leben eher künstlich verlängert, ohne volle Gesundheit gewährleisten zu können, was zu einer Verteuerung führt. Die durch die steigende Lebenserwartung gewonnenen Jahre werden zunehmend in Krankheit verbracht (Medikalisierungsthese). Für beide Annahmen gibt es Argumente und Belege aus empirischen Beobachtungen. Unabhängig davon steht für mich außer Zweifel, dass wir an der Grundsatzentscheidung festhalten müssen, me- 258
Reform der Krankenversicherung: Vielfalt, Wettbewerb, Qualität dizinische Leistungen nicht zu rationieren. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung und aus meiner Sicht ethisch geboten. Hier kann die Kostenfrage nicht der entscheidende Gesichtspunkt sein. Umfragen verdeutlichen immer wieder, wie hoch der Stellenwert einer bestmöglichen Versorgung bei den Versicherten ist. Rationierungsmaßnahmen wie in anderen europäischen Staaten, z. B. in England, sind hierzulande nicht zu erwarten bzw. nicht durchsetzbar. So ist es in England möglich, dass notwendige Behandlungen z. B. aufgrund des Alters des Patienten verweigert werden. Wie in der Vergangenheit verschiedentlich ausgelöste Rationierungsdebatten gezeigt haben, stoßen Vorschläge zur Rationierung von medizinischen Leistungen auf eine breite Ablehnung in der Gesellschaft. Deren Umsetzung durch politische Maßnahmen ist somit in Deutschland nicht zu erwarten. Die Bevölkerung erwartet, dass für alle Menschen eine hochwertige, erstklassige Medizin und Pflege zur Verfügung steht. Dass dies nicht zu einem Privileg für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Altersschichten werden darf, ist ein unbestrittener gesellschaftlicher Konsens. Dieser soziale Schutz im Falle der Krankheit ist ein hoher Wert, den wir erhalten müssen. Eine Diskussion darüber, ob medizinische Leistungen wie z. B. Dialyse oder Herzoperationen ab einem bestimmten Alter oder ab einem bestimmten Einkommen nicht mehr erbracht werden sollen, würde ich für unerträglich halten. Eine Priorisierung etwa hieße zu akzeptieren, dass die Solidargemeinschaft nicht mehr alles leisten kann. Zumindest bei den Aufgaben, die eine Solidargemeinschaft unstreitig erbringen muss, darf es aber keine Abstufung, Rangfolge oder Rationierung geben. Es würden sich dann möglicherweise solche Fragen stellen wie: Gehört der latente Diabetes oder ein Diabetes im Frühstadium ohne erkennbare Krankheitssymptome noch auf die Liste der von der GKV zu finanzierenden Krankheiten? Angesichts der 259
Johannes Singhammer Spätfolgen, die bei aus Kostengründen unterlassener Behandlung entstehen können, wäre dies aus meiner Sicht eine fatale Entscheidung. Die Solidarität der Gesunden mit den Kranken der Kern der Krankenversicherung darf nicht infrage gestellt werden. Die Diskussionen um eine Priorisierung bergen auch die Gefahr, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu untergraben. Sollte es wie der frühere Präsident der Bundesärztekammer behauptet hat schon heute konkrete Hinweise für Versorgungsdefizite geben, so halte ich es für geboten, nicht eine heimliche Rationierung zu beklagen, sondern über die Bundesärztekammer und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften den Ärzten konkrete Hinweise für eine sachgerechte Therapie zu geben. Denn wir müssen die Versorgung kranker Menschen immer an deren medizinischen Bedürfnissen orientieren. Wir haben eines der leistungsfähigsten Sozialsysteme der Welt. Und dabei soll es bleiben. Das setzt aber auch die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, die Effizienz und Effektivität unserer Sozialsysteme zu überprüfen. Der Erfolg einer Volkswirtschaft hängt auch davon ab, wie die Lasten der Solidarität in einer Gesellschaft verteilt sind. Bei der Neubestimmung des Konsenses über die sozialen Sicherungssysteme werden wir uns an den Grundelementen der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik orientieren. Und diese Grundelemente heißen Solidarität und Eigenverantwortung. Das heißt, auf der einen Seite solidarisch jene Risiken abzusichern, die der Einzelne oder seine Familie nicht tragen können, auf der anderen Seite aber auch dort Eigenverantwortung von den Menschen einzufordern, wo sie dem Einzelnen zugemutet werden kann. Nur so sind wir in der Lage, die knapper werdenden Mittel zur Bewältigung der Herausforderungen aus der demografischen Entwicklung effizient und zielgerichtet einzusetzen. Wir müssen diesen 260
Reform der Krankenversicherung: Vielfalt, Wettbewerb, Qualität Weg gehen, denn sonst werden wir die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr finanzieren können. Wir wollen ein freiheitliches Gesundheitswesen, in dem die Versicherten ihre Krankenkasse und ihren Arzt frei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsformen ihrer medizinischen Versorgung entscheiden können. Nicht die Bevormundung durch den Staat oder die Krankenkassen, sondern die Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des Einzelnen muss das Ziel einer humanen, patientenorientierten Gesundheitspolitik sein. Eine Voraussetzung für einen verbesserten Wettbewerb und größere Wahlfreiheiten ist, dass die Patienten besser über die Kosten und die Qualität der medizinischen Leistungen informiert sind. Unser Gesundheitswesen muss deshalb transparenter werden. Wir haben bereits in früheren Gesetzen beschlossen, dass der Patient wissen soll, was seine Behandlung kostet und welche Leistungen z. B. der Arzt oder das Krankenhaus mit der Krankenkasse abrechnet. Diese Möglichkeit wird meines Erachtens noch viel zu wenig genutzt. Wir müssen daher darüber nachdenken, wie wir das verbessern können. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter: Der Patient sollte darüber hinaus auch mehr Informationen über die Qualität der behandelnden Ärzte und Krankenhäuser erhalten. Patienten haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie häufig beispielsweise eine Operation an einem Krankenhaus durchgeführt wird, wie hoch die Komplikationsrate bei der gewünschten Operation oder wie hoch die Infektionsrate in diesem Krankenhaus ist. Nur ein informierter Patient kann ein mündiger Patient sein. Deshalb müssen die Leistungserbringer im Gesundheitswesen nicht nur die Möglichkeit erhalten, sondern vielmehr verpflichtet werden, Informationen über die Qualität ihrer Leistungserbringung offenzulegen. Allerdings möchte ich hier auch anmerken, dass ich von der Forderung, die Honorierung der Ärzte an den Behand- 261
Johannes Singhammer lungserfolgen zu orientieren, wenig halte. Diese Idee klingt zwar auf den ersten Blick ganz einleuchtend. Sie wirft aber mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Denn wie soll ein Arzt honoriert werden, der eine Patientin mit einer tödlichen Krankheit im Endstadium behandelt? Bekommt er kein Honorar, wenn die Patientin trotz guter Behandlung verstirbt? Oder wie sieht es bei Operationen aus, die bei komplikationsgeneigten Diagnosen durchgeführt werden? Erhält der Arzt kein Honorar, wenn es trotz bestmöglicher Behandlung zu nicht vermeidbaren Folgeschäden kommt? Und wer misst eigentlich den Erfolg einer Behandlung? Die Krankenkasse, der Patienten oder die Ärztekammer? Ich befürchte eher, dass eine erfolgsorientierte Honorierung Ärzte davon abhalten könnte, schwerkranke Patienten zu behandeln, bei denen Probleme von vornherein nicht ausgeschlossen werden können. Eine weitere Voraussetzung für die Stärkung der Selbstbestimmung der Versicherten ist ein verbessertes Gesundheitsbewusstsein der Menschen. Dazu bedarf es einerseits einer umfassenderen Aufklärung über Gesundheitsrisiken und andererseits finanzieller Anreize. Schutz, Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit sind eine zugleich gesellschaftliche wie individuelle Aufgabe. Kein Gesundheitswesen kann darauf verzichten, dass sich jeder Versicherte auch selbst um seine Gesundheit kümmert. Ein großes Gewicht kommt daher der Verhaltensprävention zu. Neben dem Zugewinn an Gesundheit müssen auch finanzielle Anreize gesetzt werden, die ein gesundheitsbewusstes Verhalten der Versicherten fördern und belohnen. Auch dies haben wir mit gesetzlichen Vorgaben eingeleitet und wollen unsere Bemühungen in dieser Richtung weiter fortsetzen. Der Ausbau von Prävention ist ganz wichtig, um langfristig die Krankenversicherung zu entlasten. Deshalb habe ich bereits mehrfach konkrete Vorschläge gemacht. Mir schwebt dazu vor, ein Aktionsprogramm Prävention zu initiieren, das folgende Aufgaben hätte: 262
Reform der Krankenversicherung: Vielfalt, Wettbewerb, Qualität Festlegung von Prioritäten, Abstimmen von Strategien und Verteilung der Aufgaben auf die verschiedenen Beteiligten bzw. Ebenen, Abstimmen von Einzelmaßnahmen des Aktionsprogramms, Verankerung in den Medien: Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Prävention wird erhöht, wenn es im Rahmen des Aktionsprogramms gelingt, das Thema in den Medien dauerhaft zu etablieren. Im Hinblick auf das Fernsehen wäre an das Vorbild der Sendung Der 7. Sinn zu denken: Konkret könnten Präventionsspots von ca. 20 Sekunden Länge entwickelt werden, die sich mit einer klaren Botschaft an besondere Zielgruppen richten. Dazu ist kein Präventionsgesetz erforderlich. Wir brauchen zwar einen Paradigmenwechsel hin zu einer präventiven Ausrichtung des Gesundheitswesens. Dies kann aber auch mit den vorhandenen Instrumenten gelingen. Insbesondere bedarf es einer Stärkung der Eigenverantwortung der Menschen im Sinne einer gesundheitsbewussten Lebensweise und nicht einer staatlichen Reglementierung. Ich will die Umsetzung von gemeinsam erarbeiteten Präventionszielen in die Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten legen. Als organisatorische Form, von der die notwendige Koordinierung und Initialzündung ausgehen könnte, wäre eine nationale Präventionskonferenz denkbar. Bei diesem zentralen Zukunftsthema handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht allein der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgebürdet werden kann. Vielmehr kann sie nur bewältigt werden, wenn alle maßgeblichen Akteure Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger und sonstige Sozial- und Leistungsträger sowohl in strategischer Hinsicht als auch bei der Frage der Finanzierung zusammenarbeiten. 263
Johannes Singhammer Und letztlich brauchen wir auch mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Wir haben ja seit nunmehr 50 Jahren Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft und wissen, dass Wettbewerb die soziale Sicherheit und den Wohlstand für die Menschen am ehesten gewährleistet hat. Deshalb müssen wir mehr Elemente eines Wettbewerbs um die richtige Versorgung von kranken Menschen in das Gesundheitswesen einführen und gleichzeitig mehr Dezentralität schaffen: nicht zentralistisch in Berlin entscheiden, was für eine Region wie München oder Dresden richtig ist, sondern den Leuten vor Ort den Ärzten, den Krankenkassen, den Krankenhäusern Gestaltungsfreiheit für die richtige Versorgung von kranken Menschen geben. Die wichtigste Voraussetzung für den Wettbewerb soll erhalten bleiben: die freie Arzt- und Krankenhauswahl. Die ambulante Versorgung stützt sich weiterhin auf freiberuflich tätige Haus- und Fachärzte sowie in stärkerem Maße auch auf die Behandlung im Krankenhaus. Im Interesse einer kontinuierlichen Behandlung der Patienten müssen die Zusammenarbeit der verschiedenen Arztgruppen und die Zusammenarbeit zwischen ambulantem und stationärem Sektor verbessert und die Übergänge erleichtert werden. Ich erwarte, dass der ambulante und der stationäre Bereich künftig stärker im Wettbewerb stehen werden. Dazu müssen sich beide Bereiche besser miteinander abstimmen. Dies kann durch ein entsprechendes Versorgungsmanagement geschehen. Den Patienten soll ein reibungsloser Übergang zwischen Akutversorgung, Rehabilitation und Pflege ermöglicht werden, ohne unnötige Wartezeiten und Pausen in der Behandlung. Dadurch können künftig weniger unnötige Liegezeiten im Krankenhaus entstehen und die Patienten dort versorgt werden, wo es ihren Bedürfnissen am besten entspricht. Mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Finanzverantwortung bei der Selbstverwaltung sowie eine Erweiterung der Versichertenrechte und eine größere Individualverantwor- 264
Reform der Krankenversicherung: Vielfalt, Wettbewerb, Qualität tung nur diese Kombination stärkt die Leistungsfähigkeit und die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung. Das sind Voraussetzungen dafür, um auch in Zukunft an den bewährten Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung festhalten und die Herausforderungen meistern zu können, die sich aus der demografischen Entwicklung ergeben. 265