Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
. BECKENBODEN Lageveränderungen des Inneren Genitales und Inkontinenz Vorbemerkungen zur Region Seite 474 486 Operative Therapiekonzepte Operationsnavigator Seite 487 496 Operationstechniken Seite 497 585 Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
7. Vorbemerkungen zur Region 474 Der Beckenboden ist eine funktionelle Einheit aus Knochen, Muskeln, Sehnen, Faszien und faszienartigen Strukturen. Wichtige klinische Aspekte seiner Anatomie sollen im Folgenden pragmatisch dargestellt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Sicht des Operateurs. 7.. Topografie der Zugangswege 7... Vaginaler Zugang Muskelschichten Der kaudale Abschluss der Bauchhöhle wird vor allem durch die Muskelgruppe des M. levator ani gewährleistet. Die Levatorenteile formen einen schüsselförmigen Boden, auf dem die Organe des kleinen Beckens liegen. Unter der Symphyse ist die Kontinuität dieses Bodens durch den Hiatus urogenitalis unterbrochen, eine dreieckige Lücke, die dem Durchtritt von Harnröhre (und Vagina) dient. Diese Hiatuslücke wird durch verstärkte Anteile des Levators, die Mm. puborectales, flankiert. Kontrahieren sich diese Muskelbäuche, wird die Hiatuslücke schlitzförmig verengt und aus ihrem Niveau kranialwärts angehoben. Für die Belastbarkeit des Beckenbodens sind sowohl die funktionelle Dynamik des M. levator ani als auch sein in Ruhe relativ hoher Tonus wichtig. Die Stärkung der Levatoren durch isometrisches Training ist daher Ansatz für die konservative Behandlung von Inkontinenz und Deszensus. Operativ haben die Levatoren bei der vorderen und insbesondere der hinteren Kolporrhaphie im Rahmen der Levatorplastik eine Rolle gespielt. Diese unphysiologische Annäherung der Levatoren zwischen Rektum und Scheide bzw. zwischen Scheide und Harnblase führte jedoch oft zu Dyspareunie. Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
Beckenboden 7. Vorbemerkungen zur Region 4 475 Abb. 7.- Perineum mit Diaphragma urogenitale und M. levator ani (Ansicht von kaudal). Der Rand des M. gluteus maximus liegt außerhalb des gynäkologischen OP-Feldes. Besonders wichtig ist es, sich den Verlauf des Levatoren zu vergegenwärtigen (s. u.). Die Hautgefäße und Nerven spielen bei den meisten gynäkologischen Eingriffen nur eine untergeordnete Rolle. = Centrum tendineum perinei, = M. puborectalis, = M. sphincter ani externus. Abb. 7.- Muskelelemente der Vulva und des Damms. Diese Muskeln sind während der Operation in der Regel nicht sichtbar nur bei der hinteren Plastik lassen sich gelegentlich Fasern des M. transversus perinei superficialis und profundus sowie des M. bulbocavernosus erkennen. Für die Statik des Beckenbodens sind diese Muskeln nicht wesentlich; = M. bulbospongiosus, = M. ischiocavernosus, = M. transversus perinei superficialis, 4 = Gl. vestibularis. Abb. 7.- M. levator ani (Ansicht von kaudal). Die Mm. puborectales, die den Enddarm umschlingen, sind hervorgehoben. Die breite Insertion am vorderen Becken erfolgt im Arcus tendineus levator ani, einer bindegewebigen Verstärkung der Fascia obturatoria des M. obturatorius internus. Abb. 7.-4 Tiefe muskuläre Umschlingung des Introitus durch die Levatoren. Eine Kontraktion der Levatoren hebt den Hiatus urogenitalis an und verengt ihn (Pfeile). Bei der Levatorplastik werden die Mm. puborectales (unphysiologisch) zwischen Vagina und Rektum einander angenähert, um dem Perineum zusätzlich Volumen zu geben. Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
Beckenboden 7. Vorbemerkungen zur Region 7... Vaginaler Zugang Bindegewebige Strukturen 476 Wichtiger als die Muskeln selbst sind Zustand und Funktion der Bindegewebsstrukturen, die die knöchernen, muskulären und viszeralen Teile des kleinen Beckens umhüllen und miteinander verbinden. Defekte dieses Bindegewebes sind die Ursache und zugleich der chirurgische Ansatz für die Behandlung zahlreicher Senkungszustände und Inkontinenzprobleme. Besonders wichtig ist dabei die Fascia pelvis, die die Beckenorgane mit den Beckenwänden verbindet. Es handelt sich weniger um eine Faszie im traditionellen Sinne als um eine heterogene Schicht aus Kollagen, Elastin, perivaskulärer glatter Muskulatur sowie Fibroblasten, Gefäßen und Nerven. Sie bildet Parametrium und Parakolpium und insbesondere auch die bindegewebige Trennschicht zwischen Blase und Scheide. Dieser letztere Teil der Fascia pelvis zwischen Zervix, Vagina und dem Os pubis wird als Fascia pubocervicalis bezeichnet und inseriert lateral im Arcus tendineus fasciae pelvis. Der Arcus tendineus fasciae pelvis wird nach dem Erstbeschreiber auch als White-Line bezeichnet und ist eine Verdickung der Muskelhülle des M. obturatorius internus, die in direkter Linie von der Spina ischiadica zum knöchernen Teil der Symphyse läuft und sich auf halbem Wege mit dem Arcus tendineus m. levatoris ani vereinigt. Retropubische Kolposuspensionen sind immer Suspensionen der Fascia pelvis in Richtung Symphyse, paravaginale Kolpopexien immer Defektreparaturen von Abrissen der Fascia pelvis von der White-Line, also dem Arcus tendineus fasciae pelvis. Level I Level Level Abb. 7.-6 Aufhängung der Scheide nach DeLancey. Es werden drei Level der Aufhängung unterschieden: Level I Parakolpium, Suspension des oberen Scheidendrittels. Hier entstehen zentrale Defekte. Level II Fascia pubocervicalis, Suspension der Scheide nach lateral. Hier entstehen paravaginale, laterale Defekte, klinisch also Zysto- und Rektozelen. Level III Ligg. pubourethralia, Aufhängung der Urethra unmittelbar an der Symphyse. 4 8 7 Abb. 7.-5 Harnblase, Fascia pelvis und Scheide. Die Scheide wird durch den auch Fascia pubocervicalis genannten Teil der Fascia pelvis zwischen Harnblase und Scheidenvorderwand nach anterior suspendiert. Lateral inseriert die Fascia pelvis im Arcus tendineus fasciae pelvis. Abrisse an dieser Stelle führen zu anatomisch paravaginalen Defekten; = Rektum, = M. levator ani, = Scheide, 4 = Fascia pelvis. 6 4 5 Abb. 7.-7 Aufhängung der Urethra nach DeLancey (Ansicht von kranial). Schnitt in Höhe des Blasenhalses. Die Harnröhre wird größtenteils indirekt, ventral durch muskuläre (), dorsal durch fibröse () Fasern am Scheidenbogen fixiert; = Urethra, 4 = Vagina, 5 = Rektum, 6 = Diaphragma pelvis, Fascia superior diaphragmatis pelvis, 7 = Arcus tendineus fasciae pelvis, 8 = Symphysis pubis. Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
Beckenboden 7. Vorbemerkungen zur Region 7... Vaginaler Zugang Gefäße, Nerven, Ureter Perineum und Scheide sind insgesamt gut durchblutet, ohne dass dabei größere, unterbindungswürdige Gefäße bis an die Mittellinie heranreichen. Viele Operateure verwenden z. B. bei der anterioren oder posterioren Kolporrhaphie verdünnte Vasokonstriktorenlösungen zur Aquadissektion der vorgegebenen Räume und zur besseren Hämostase. Größere Gefäße wie die A. uterina sind z.b. bei der vaginalen Hysterektomie zu beachten, wobei der anatomische Bezug zum Ureter besonders wichtig ist. A. und V. pudenda interna können bei der vaginalen sakrospinalen Fixation verletzt werden, eine seltene, aber potenziell problematische Komplikation. Die A. pudenda interna verläuft im Alcock schen Kanal (einer Duplikatur der Fascia obturatoria) und umrundet die Spina ischiadica hinter dem Lig. sacrospinosum relativ weit lateral. Direkt anliegend verläuft der N. pudendus. Bei retropubischen Kolposuspensionen wird das Cavum Retzii (Spatium retropubicum) eröffnet. Hier liegt der gut durchblutete Plexus venosus Santorini, durch den auch bei einem einfachen Eingriff ein relativ großer Blutverlust entstehen kann. Beim vaginalen Zugang wird das Cavum Retzii oft blind präpariert und durchstochen. Selten werden dadurch Blutungen ausgelöst, die eine Exploration von abdominal erfordern. 477 0 4 9 8 5 7 6 Abb. 7.-8 Arterien und Nerven des Damms (Ansicht von kaudal). Die ganze Haut des Damms mit den großen Labien ist entfernt; = N. dorsalis clitoridis, = N. perinealis, = N. cutaneus femoris posterior, 4 = Nn. rectales inferiores, 5 = N. pudendus, 6 = Nn. clunium inferiores, 7 = A. pudenda interna, 8 = Aa. rectales inferiores, 9 = A. perinealis, 0 = A. pudenda externa superior, = A., V. dorsalis clitoridis. Abb. 7.-9 Blase, Scheide, Uterus sowie Ureterverlauf und Verlauf der A. uterina sowie des A.-vesicalis-superior-Systems halbschräger Blick; = A. uterina, = A. vesicalis superior. Abb. 7.-0 Blase, Scheide, Uterus sowie Ureterverlauf und Verlauf der A. uterina sowie des A.-vesicalis-superior-Systems Blick von lateral; = A. uterina, = A. vesicalis superior. Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
Beckenboden 7. Vorbemerkungen zur Region 478 Abb. 7.- Ureterverlauf im Normalzustand (Ansicht von lateral). Abb. 7.- Ureterverlauf bei Zug am Uterus, z. B. im Rahmen einer vaginalen Hysterektomie. 7...4 Abdominaler Zugang Muskelschichten Das Präparieren der Bauchdecke ist in Kap. beschrieben. Der muskuläre Abschluss des Beckens stellt sich von abdominal so dar wie aus vaginaler Sicht. Bei der rekonstruktiven Beckenbodenchirurgie ist oft eine Gewebedissektion bis zum Perineum bzw. den Levatorbäuchen (z. B. bei der Sakrokolpopexie) sowie lateral bis zum M. obturatorius internus (z. B. bei der paravaginalen Kolpopexie) erforderlich. Kranial, also den Levatoren aufsitzend, finden sich die als Parakolpium, Parametrium und Paraproktium bezeichneten Bindegewebsstränge, deren unterschiedliche Dichtigkeit und Konsistenz eine Untergliederung in die wichtigen anatomischen Räume des Spatium paravesicale und Spatium pararectale ermöglichen. Abb. 7.- Hiatus urogenitalis (Ansicht von abdominal): M. obturatorius internus und Fascia pelvis auf dem M. levator ani. Direkt unterhalb der Fascia pelvis und an ihr nach lateral suspendiert liegt die vordere Scheidenwand. Der paraurethrale Teil der Fascia pelvis (auch Fascia pubocervicalis genannt) wird zur retropubischen Kolposuspension präpariert; = Urethra (abgeschnitten), = Harnblase (angehoben). Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG
Beckenboden 7. Vorbemerkungen zur Region 479 Abb. 7.-4 Bild nach subtotaler Entfernung der Harnblase: Die enge Verbindung zwischen Arcus tendineus fasciae pelvis (), Fascia pubocervicalis (= Fascia pelvis, ) und vorderer Scheidenwand wird deutlich. Hier setzt die Elevation der Scheide durch retropubische Kolposuspension an. Abb. 7.-5 Beckeneingeweide im klassischen anatomischen Sagittalschnitt. Obwohl dies das häufigste Bild der gynäkologischen Anatomie ist, sind die wichtigen muskulären (Levatoren) und bindegewebigen Strukturen (Fascia pelvis) nicht enthalten; = Rektum, = Vagina, = Urethra. Wallwiener et al., Atlas der gynäkologischen Operationen (ISBN 978570077), 009 Georg Thieme Verlag KG