Das epische Theater 22.3.2018
Ein Theaterstück HEINER MÜLLER, HERZSTÜCK EINS ZWEI EINS ZWEI EINS ZWEI EINS ZWEI EINS ZWEI EINS Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen? Wenn Sie mir meinen Fußboden nicht schmutzig machen. Mein Herz ist rein. Das werden wir ja sehen. Ich kriege es nicht heraus. Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe. Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es ist mir ein Vergnügen. Ich kriege es auch nicht heraus. heult. Ich werde es Ihnen herausoperieren. Wozu habe ich ein Taschenmesser. Das werden wir gleich haben. Arbeiten und nicht verzweifeln. So, das hätten wir. Aber das ist ja ein Ziegelstein. Ihr Herz ist ein Ziegelstein. Aber es schlägt nur für sie.
Die drei Gattungen Prosa (Epik) Lyrik Dramatik Wer spricht? Erzähler lyrisches Ich Personen Mit wem? mit dem Leser mit sich selbst miteinander Zahl der Sprecher? monologisch monologisch dialogisch Referent? eine Handlung (+ story) ein Zustand / Bild(er) (- story) eine Handlung (+ story)
Realer Autor Realer Leser Erzähler Miteinander sprechende Figuren fiktiver Adressat Ebene des Erzählten Ebene der (textintern) erzählerischen (textintern) Vermittlung Ebene der realen (textextern) Kommunikation Vgl. Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse
Primäres Gattungskennzeichen: Unmittelbarkeit kein Erzähler das Geschehen scheint sich in dem Moment zu vollziehen, in dem es rezipiert wird Vgl. Petersen / Wagner-Engelhaaf, Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft
Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird. Aristoteles: Poetik, 6. Kapitel
Helmut Kerber Die Funktion / der Publikumsbezug des aristotelischen Theaters
Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. So bin ich. Das ist natürlich. Das wird immer so sein. Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden. Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. So darf man es nicht machen. Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. Das muss aufhören. Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. Ich lache mit den Weinenden, ich weine über den Lachenden. Bert Brecht, Schriften zum Theater 1. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 265f.
Helmut Kerber Die Funktion / der Publikumsbezug des epischen Theaters
Episches Theater ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn Theater hat keinen Erzähler zielt auf den Abbau der dramatischen Illusion szenischer Wirklichkeitsnachahmung und Einfühlung hat die Intention, die Zuschauer zu rationaler Analyse gesellschaftlicher Probleme und zu politischem Handeln zu aktivieren. Wie? Durch Verfremdung soll der Zuschauer kritische Distanz zum Bühnengeschehen gewinnen.
Verfremdung Was ist Verfremdung? Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugier zu erzeugen. Bert Brecht, Schriften zum Theater 1. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 301f.
Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als vergänglich darzustellen. [ ] Was ist damit gewonnen? Damit ist gewonnen, dass der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unveränderbare, unbeeinflussbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: Dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. Ebd.
Damit ist gewonnen, dass der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschen auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr nur hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff. Ebd.
Die V-Effekte Mittel, mit denen die Verfremdung erreicht werden soll, sind die sogenannten V-Effekte: 1. Der Gestus des Zeigens: Die Schauspieler sollen sich nicht in die dargestellte Figur verwandeln, sondern sie zeigen, d.h. den Text zitieren und auch das Verhalten und die Handlung der Figur zitieren. Als Schauspielerübung aber auch als Darstellungsmittel nutzte Brecht die Überführung in die dritte Person und die Überführung in die Vergangenheit und das Mitsprechen von Spielanweisungen und Kommentaren. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
2. Lieder, Musik: Brecht baute - die Handlung unterbrechende - Lieder in seine Dramen ein, die kommentieren, resümieren, reflektieren. Dabei wird eine andere Beleuchtung eingeschaltet, der Musikeinsatz deutlich gezeigt: die Künstlichkeit des Singens auf der Bühne wird gezeigt. Zu fast allen Stücken Brechts gibt es Musik von P. Dessau, H. Eissler, K. Weill, die oft modernste Musiktechnik mit volkstümlichen Elementen verbinden. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
3. Wendung zum Publikum: Das Geschehen auf der Bühne wird zur öffentlichen Verhandlung, zur Beurteilung an die Zuschauer übergeben, die vierte Wand wird überflüssig. Die gesamte Darstellung wird publikumsgerichtet, es kommt aber auch immer wieder zu direkten Wendungen ans Publikum: Aufforderung Stellung zu nehmen oder das Auftreten einer Figur zu beurteilen, einen besseren Schluss zu finden usw. Ein weiteres Mittel ist die Einbeziehung eines Chors als Kommentator. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
4. Epische Mittel: Titel und Inhaltsangaben werden dem Zuschauer oft durch Projektionen sichtbar gemacht. Sie sollen ihm die Spannung auf den Inhalt nehmen und sein Interesse auf das Wie der Handlung lenken. Sie kommentieren auch. lm Kaukasischen Kreidekreis tritt ein auktorialer Erzähler auf der Bühne auf, der auch Regieanweisungen gibt. Viele Stücke Brechts enthalten oft ausführliche epische Prologe und Epiloge. Der Epilog zieht Folgerungen aus dem Geschehen, gibt der Handlung einen Schluss, appelliert an den Zuschauer. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
5. Technische Mittel: Brecht nutzte neue technische Mittel wie Projektionen, Filme, Drehbühne etc. 6. Bühnenbild: Die Bühnengestaltung ist oft sparsam, es werden wenige Requisiten eingesetzt. Außerdem sollten die Schauspieler nicht in einer fertigen, unbeeinflussbaren Kulisse agieren, sondern mit den Requisiten auf der Bühne umgehen, es sollte kein pseudorealistischer Schein erzeugt werden. Dazu gehört auch ein neuer Typ des Vorhangs, eine halbhohe, leicht flattierende Gardine. Oft verzichtet man ganz in Brechts Stücken auf den Vorhang. Häufig werden anstelle von zeitgemäßen Kostümen Straßenkleider verwendet. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
7. Dramenbau: Statt einer geschlossenen, konsequenten Entwicklung der Handlung werden Szenen locker aneinandergereiht. Die Handlung verläuft in Kurven, ist also nicht linear oder chronologisch. 8. Stilisierte Sprache: Es wird zum Teil in Versen gesprochen. Auch das Verwenden von Dialekten kann als V-Effekt verstanden werden. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm
9. Der genußvoll-kritische Zuschauer: Brecht will dem Zuschauer eine neue Art des Sehens und Verstehens vermitteln, dazu gehört neben all den obigen Punkten auch seine Forderung nach bequemen Sesseln und Aufhebung des Rauchverbots. http://home.arcor.de/richardt/3-16.htm