Kostenübernahme für Dronabinol durch die GKV Unter welchen Voraussetzungen kann Dronabinol zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden? Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts in den letzten zwei Jahren ermöglichen die Verordnung von Dronabinol auch zu Lasten der GKV. Auch die aktuelle Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 27.3.2007, mit der in einem Fall ein Anspruch auf Kostenübernahme für Dronabinol zurückgewiesen wurde, enthält keine Absage an diese Rechtsprechung und ist nicht als Urteil zu lesen, das generell die Kostenübernahme von Dronabinol ausschließt. Allerdings bleibt die Möglichkeit der Verordnung von Dronabinol zu Lasten der GKV auf Ausnahmefälle beschränkt. Im Folgenden wird anhand der Entwicklung in der Rechtsprechung erläutert, unter welchen Voraussetzungen die Chancen gut sind, eine Verschreibung zu Lasten der GKV durchzusetzen und worauf im Einzelfall geachtet werden muss. Grundsätzlich haben Patienten, die in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert sind, Anspruch darauf, mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln versorgt zu werden. Der Vertragsarzt darf diese Arzneimittel daher den Patienten zu Lasten der Krankenkasse verordnen. Problematisch wird es allerdings, wenn es um die Behandlung mit Arzneimitteln geht, die zwar zugelassen sind, die der behandelnde Arzt aber außerhalb ihres Zulassungsbereiches anwenden möchte. Für diesen so genannten Off-Label-Use haben die Sozialgerichte in den letzten Jahren eine Vielzahl von strengen Kriterien entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit eine Verordnung zu Lasten der GKV für den Arzt keinen Regress nach sich zieht. Die Anwendung dieser Kriterien des so genannten Off-Label-Uses setzen aber voraus, dass es sich überhaupt um nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassene Arzneimittel handelt. Das ist bei Rezepturarzneimitteln wie Dronabinol nicht der Fall, sie sind von der Zulassungspflicht nach 2 AMG befreit. Grundsätzlich kann auch Dronabinol in bestimmten Konstellationen zu Lasten der GKV verordnet werden. Im Folgenden wird anhand der aktuellen Rechtsprechung dargestellt werden, was diese Konstellationen charakterisiert, wie sich die Möglichkeiten zur Kostenübernahme in diesem Bereich entwickelt haben und worauf Ärzte und Ärztinnen achten müssen, wenn sie Dronabinol (oder ein anderes nicht zugelassenes, bzw. Off-Label einzusetzendes Arzneimittel) zu Lasten der GKV verordnen und gleichzeitig ihr Risiko minimieren wollen, anschließend von der Kassenärztlichen Vereinigung in Regress genommen zu werden.
Das Bundesverfassungsgericht zur Kostenübernahme durch die GKV Da Dronabinol als Rezepturarzneimittel eine arzneimittelrechtliche Zulassung nicht benötigt und nicht haben kann, gibt es auch kein Zulassungslabel, von dem abgewichen werden könnte. Daher handelt es sich bei Verordnungen von Dronabinol um einen No-Label-Use. Für den No-Label-Use von Arzneimitteln hat das Bundessozialgericht 2004 eine Kostenübernahme durch die GKV ebenfalls ausgeschlossen. Erst durch die sogenannte Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98) hat sich hier etwas bewegt. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass es nicht mit den Grundrechten zu vereinbaren ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Im konkreten Fall ging es zwar nicht um die Kostenübernahme für eine Arzneimittel-Behandlung, sondern um die Kostenübernahme für die Bioresonanztherapie bei Duchenne-Muskelatrophie, dennoch herrschte in Literatur und Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass diese Grundsätze auch in der Arzneimittel-Therapie anzuwenden sind. Die Nikolaus-Entscheidung hat kurzfristig dazu geführt, dass viele Menschen mit schweren Erkrankungen, für die es keine zugelassenen und anerkannten Therapien gibt, versucht haben, ihre Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln oder nicht anerkannten sonstigen Therapien durch die GKV finanzieren zu lassen. Auch wenn es in der Folge einige bemerkenswerte Verfahren gab, in deren Verlauf Patienten Kostenübernahmen durchsetzen konnten, hat das Bundessozialgericht mit seiner Rechtsprechung zu Kostenübernahmen in diesen Ausnahmefällen für Ernüchterung gesorgt und deutlich gemacht, dass es eine Kostenübernahme von Off- und No- Label-Use Behandlungen nur in extremen Ausnahmefällen gerichtlich durchgesetzt wissen möchte. Allerdings sind durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch die Möglichkeiten, ohne gerichtliche Verhandlung mit den Krankenkassen Einigungen über den Einsatz von Arzneimitteln wie Dronabinol zu erzielen, erheblich gestiegen. Auch die Krankenkassen verlangen aber, dass die entsprechenden Kriterien erfüllt werden. Die Kriterien für die Kostenübernahme Ausgangspunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (1 RK 28/95), die sich mit Grundrechtspositionen und der besonderen Lage des an Duchenne-Muskelatrophie erkrankten Patienten nicht nennenswert auseinandergesetzt hatte. Das Bundesverfassungsgericht formulierte drei Kriterien, die ausnahmsweise Kostenübernahmen auch bei nicht zugelassenen und nicht vom G-BA anerkannten Behandlungsmethoden ermöglichen sollen: 1. Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit
2. Fehlen einer anerkannten medizinischen Standardbehandlung 3. Nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung bzw. auf spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf Zum Vergleich: In seinen letzten Entscheidungen zur Kostenübernahme bei neuartigen oder sonst nicht durch den G-BA anerkannten Therapien vor dem Nikolaus- Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hatte das Bundessozialgericht für die Finanzierung einer Off-Label-Use Behandlung verlangt: 1. Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung 2. Keine alternative (auf für diese Krankheit zugelassenen Arzneimitteln basierende) Behandlung möglich 3. Aufgrund der Datenlage besteht die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann. Es wird deutlich, dass das Bundessozialgericht für die Kostenübernahme des Off- Label eingesetzten Medikaments vergleichsweise etwas geringere Anforderungen an die Krankheitslage gestellt hat, während die Erfordernis des Wirksamkeitsnachweises deutlich höher lag: Die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg sollte sich auf veröffentlichte Ergebnisse von Phase-III-Studien stützen können oder auf einen in den einschlägigen Fachkreisen durch Veröffentlichungen dokumentierten Konsens über den Nutzen einer entsprechenden Behandlung. Lebensbedrohliche Erkrankung in der Rechtsprechung des BSG Was die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts genau besagen, ist allerdings umstritten. Insbesondere, was eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit sein soll, ergab sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Als Anhaltspunkt dafür kann immerhin gelten, dass die Duchenn sche- Muskeldystrophie des Klägers nach Auffassung der Verfassungsrichter eine solche Erkrankung sein könnte. Für diese Krankheit hatten die Verfassungsrichter festgestellt, dass ab dem 10. oder 12. Lebensjahr mit dem Verlust der Gehfähigkeit zu rechnen und die Lebenserwartung stark eingeschränkt sei. Das Bundessozialgericht hat im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in mehreren Revisionsverfahren seine Interpretation der verfassungsgerichtlichen Kriterien entwickelt. In der am 6. April 2006 beschlossenen Tomudex-Entscheidung (B 1 KR 7/05 R) wurde die Krankenkasse verurteilt, die Behandlung mit dem in Deutschland nicht zugelassenen Fertigarzneimittel Tomudex zu bezahlen. Die Klägerin litt an einem zunächst operativ und dann chemotherapeutisch behandelten Dickdarm-Karzinom, das vom BSG als lebensbedrohlich eingestuft wurde, da sich die Krebserkrankung nicht mehr im Anfangsstadium befand, sondern bereits bis zum Stadium III gewachsen war. Nach Auffassung des BSG war die statistische Überlebenswahrscheinlichkeit auf
Grund des fortgeschrittenen Stadiums und der unklaren Situation in Bezug auf Fernmetastasen erheblich herabgesetzt. Am gleichen Tag entschied das BSG, dass die Rechtsprechung des dagegen bei einem Prostatakarzinom im Anfangsstadium ohne Hinweis auf metastatische Absiedlungen nicht anwendbar sei (B 1 KR 12/05 R), da es sich hierbei noch nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung handelte. Am gleichen Tag entschied das BSG in einem weiteren Fall, dass die Kostenübernahme für D-Ribose zur Behandlung eines Myoadenylate-Deaminase-Mangels (MAD- Mangel) nicht beansprucht werden könne (B 1 KR 12/04 R). Der MAD-Mangel sei zwar eine nachhaltige und schwere Erkrankung, was sich bei der Klägerin daran zeige, dass sie deshalb aus ihrem Beruf als angestellte Tierärztin ausgeschieden sei, Berufsunfähigkeitsrenten beziehe und nur noch geringfügige Schreibarbeiten verrichte: Obwohl diese Folgen durchaus gravierend sind, führen sie doch keine notstandsähnliche Extremsituation herbei. Die MAD-Mangel-Myopathie könne insoweit nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden, wie es etwa für den Fall einer drohender Erblindung zu erwägen wäre. In einer Entscheidung vom 19.6.2006 wurde diese Auffassung gefestigt und festgestellt, dass auch eine Wasserharnruhr keine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne der Nikolausentscheidung darstelle (BSG B 1 KR 18/06 B). Am 26.9.2006 bekräftigte das BSG diese Sichtweise und wies eine Revision ab, in der es um die Erstattung der Kosten für das in Deutschland nicht zugelassene Fertigarzneimittel Cabaseril zur Behandlung des Restless-Leg-Syndroms ging. Dieses Verfahren wies zwei Besonderheiten auf: Es wurde der Unterschied zwischen den Kriterien des herkömmlichen Off- Label-Uses und denen der Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitet. Das BSG beurteilte das Restless-Leg-Syndrom zwar in Einklang mit seiner älteren Off-Label-Use Rechtsprechung als schwere, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung, sah aber die für diese Fälle erforderliche begründete Aussicht darauf, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann, als nicht gegeben an, weil es keine entsprechenden Phase-III-Studien gab. Die Anwendung der Kriterien der Nikolaus-Entscheidung schloss es aber aus, weil die Krankheit zwar schwer, aber nicht lebensbedrohlich oder einer lebensbedrohlichen Erkrankung gleichwertig war. Bei der Patientin bestand außerdem als Folge der Krankheit Suizidgefahr. Mit Blick darauf stellte das BSG allerdings fest: Selbst hochgradige akute Suizidgefahr bei Versicherten (bewirkt) grundsätzlich nicht, dass sie Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der GKV beanspruchen können. Vielmehr begründet Selbsttötungsgefahr regelmäßig nur einen Anspruch auf ihre spezifische Behandlung etwa mit den Mitteln der Psychiatrie. (B 1 KR 14/06 R) Diesen Kurs hielt das BSG auch in den nächsten Monaten. In einer Entscheidung vom 14.12.2006 argumentierte das BSG, dass eine im Rahmen der Friedreich'schen Ataxie aufgetretenen Kardiomyopathie trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Erkrankung nicht mit einer lebensbedrohlichen bzw. regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden könne, da Anspruch auf eine verfassungskonforme Leistungserweiterung nur wegen solcher Krankheiten bestehe, die in absehbarer Zeit zum Verlust des Lebens oder eines wichtigen Organs führten ( B 1 KR 12/06 R). Der Patient hat die Kostenübernahme für ein Medikament mit dem Wirkstoff Idebenone begehrt. Die Begründung des BSG für diese konsequente Haltung ist
lesenswert, weil sie deutlich macht, wie eine Argumentation aussehen muss, die eine Leistungspflicht der GKV für ein nicht zugelassenes Arzneimittel wie Dronabinol begründet: Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt in solchen Fällen (des No-Label-Uses, Anm. Verf.) vollständig. Damit drohen den Versicherten Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren gerade schützen will. Soll trotzdem unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch zu Lasten der GKV begründet werden, kann nicht unberücksichtigt bleiben, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Am 27.3.2007 urteilte das BSG ähnlich mit Blick auf eine Patientin mit Multipler Sklerose: Die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit liegen bei einer bestehenden Multiplen Sklerose in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht vor. (B 1 KR 17/06 R). Am gleichen Tag entschied das BSG auch, dass bei einem querschnittgelähmten Patienten ein chronisches Schmerzsyndrom nicht zu Lasten der GKV mit einem auf Cannabinoidgrundlage hergestellten Arzneimittel behandelt werden dürfe, da es sich bei dem Schmerzsyndrom ebenfalls nicht um eine lebensbedrohliche oder gleichwertige Erkrankung handelte (B 1 KR 30/06 R). Ob diese Entscheidungen einer Überprüfung vor dem Bundesverfassungsgerichts standhalten könnten, ist zweifelhaft. Solange das Bundesverfassungsgericht diese restriktive Argumentation nicht ausdrücklich zurückweist, wird sie in der Rechtsprechung allerdings Folgen haben. Reaktion des Bundesverfassungsgerichts auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Dass das Bundesverfassungsgericht eine andere Position haben könnte, als das Bundessozialgericht in seiner neuen Rechtsprechung signalisiert eine Eilentscheidung aus Karlsruhe, die 2007 getroffen wurde. Es ging um ein Eilverfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit nutzte, wenigstens indirekt auf die neuere Entwicklung der Rechtsprechung seit dem Nikolaus-Beschluss zu reagieren. Beschwerdeführer war ein 56jähriger, schwer herzkranker Mann, der nach Aussage seiner behandelnden Ärzte eine Optimierung seiner LDL-Cholesterinwerte benötigte, die nur durch eine Lipidapherese zu machen waren. Die Lipidapherese wurde durch die Krankenkasse nicht bewilligt. Im Eilverfahren bestätigten die bayerischen Sozialgerichte die Ablehnung. Das Bundesverfassungsgericht hob, ungewöhnlich genug,
im Anordnungsverfahren die Beschlüsse auf, verwies die Entscheidung ans Sozialgericht Nürnberg zurück und konstatierte, der Zustand des Patienten sei aufgrund vor allem des Verschlusses zweier das Herz versorgender Arterien lebensbedrohlich auch wenn er noch nicht das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht hat. Das Bundesverfassungsgericht wies darauf hin, dass eine Krankheit auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren ist, wenn sie erst in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt. (1 BvR 3101/06). Auch wenn Sozialgerichte diese Entscheidung seitdem gelegentlich zitieren, um Ansprüche auf Kostenübernahme wegen der fehlenden akuten Lebensbedrohlichkeit einer Erkrankung abzulehnen, ist sie richtigerweise wohl als Kritik an einer zu engen Auslegung des Zeitkriteriums zu lesen. Neuere Rechtsprechung mit Bezug auf Dronabinol Entscheidungen über die in der Arzneimittelverordnung nicht zugelassene Medikamente, seien es nun Fertigarzneimittel oder Rezepturarzneimittel, fallen in der Regel nicht auf der Ebene des Bundesozialgerichtes. So ist es auch im Falle von Dronabinol. Seit der Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes gibt es einige Gerichtsverfahren, die sich mit der Frage befasst haben, ob Dronabinol zu Lasten der GKV verordnet werden kann. Nicht alle dieser Verfahren sind mit einem Urteil oder Beschluss abgeschlossen worden. Gelegentlich gab es die Möglichkeit einer außergerichtlichen oder vergleichsweisen Einigung. Von den Verfahren, die mit Urteilen geendet haben, soll auf einige hier kurz eingegangen werden: das Sozialgericht Augsburg hat in einer Entscheidung festgestellt, dass auch bei nicht lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheitsbildern gravierender Art mit erheblicher Einbuße der Lebensqualität ein nachweislich wirksames Rezeptur-Arzneimittel (hier: Dronabinol) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen sei, wenn andere Therapiemöglichkeiten nicht bestehen (S 10 KR 459/04). Ausgangspunkt dieses Verfahrens war der Fall eines Patienten mit einer Arachnoidalzyste, der über ständige schwere Kopfschmerzen klagte. Die Entscheidung des Sozialgerichts Augsburg wurde dann durch das Landessozialgericht Bayern aufgehoben, das feststellte, dass eine notstandsähnliche Situation, ein Zeitdruck bzw. ein zur Lebenserhaltung notwendiger akuter Behandlungsbedarf bei der hier zu behandelnden Kopfschmerzsymptomatik trotz der dadurch bedingten gravierenden Beeinträchtigungen nicht bestünde. Das VG Berlin bejahte dagegen (ohne Rückgriff auf die Rechtsprechung des BVerfG) in einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung die Beihilfefähigkeit von Dronabinol- Tropfen für eine an MS erkrankte Beamtin, weil Dronabinol die schwere, sonst nicht therapiebare Krankheit wenigstens linderte (7 A 205.05). Ein Verfahren vor dem Hamburger Sozialgericht endete 2006 und 2007 erst im Eilverfahren, dann auch im Hauptsacheverfahren mit einem Anerkenntnis der Krankenkasse, die sich schließlich bereit erklärte, dem Betroffenen die Kosten für Dronabinol zu erstatten. Maßgeblich hierfür war ein sehr detaillierter Vortrag über das genau Krankheitsbild, das hier aufgrund besonderer Komplikationen (ohne Dronabinolgabe Unterernährung und durch Muskelverspannungen und Spastiken erhöhter Druck auf einen nicht operablen, angebrochenen und verdrehten Halswirbel) durch einen Gutachter als lebensbedrohlich bewertet wurde. Außerdem wurde präzise und detailliert das Scheitern therapeutischer Alternativen vorgetragen.
Konsequenzen aus der Rechtsprechung für die Kostenübernahme von Dronabinol Dronabinol ist ein in Deutschland nicht zugelassenes Arzneimittel. Es ist gegenwärtig in zwei Grundkonstellationen zu Lasten der GKV verordnungsfähig: Die erste Konstellation ist, dass nachweislich eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung des BSG vorliegt. Dann sind die Voraussetzungen des so genannten Off-Label-Uses einschlägig. Dafür muss dargelegt werden, dass der Einsatz von Dronabinol eine begründete Aussicht auf Erfolg hat, die sich auf veröffentlichte Ergebnisse von Phase-III-Studien stützen kann oder auf einen in den einschlägigen Fachkreisen durch Veröffentlichungen dokumentierten Konsens über den Nutzen einer entsprechenden Behandlung. Bislang ist keine deutsche gerichtliche Entscheidung bekannt, die für ein Indikationsgebiet eine solche Feststellung getroffen hätte. Es wird allerdings vereinzelt vertreten, dass Dronabinol als Antiemetikum und Appetitstimulans in besonders begründeten Fällen (z. B. Anorexie und Kachexie bei AIDS-Patienten sowie Übelkeit und Erbrechen im Zusammenhang mit einer Krebschemotherapie) über entsprechende wissenschaftliche Anerkennung verfügt und deswegen unter den besonderen Bedingungen des Off-Label-Uses zu Lasten der GKV verordnet werden kann. Diese wissenschaftliche Anerkennung im Sinne des Off-Label-Uses könnte argumentativ darauf gestützt werden, dass das in der Zusammensetzung identische Fertigarzneimittel Marinol in den USA mittlerweile für einige diese Indikationen als Arzneimittel zugelassen ist. Grundsätzlich wird die zweite Konstellation allerdings eher auftreten. kann Dronabinol bei lebensbedrohlichen oder vergleichbar schweren Erkrankungen unter den was die Qualität der Erkrankung angeht restriktiveren Bedingungen der Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verordnungsfähig sein. Hier ist das Hauptproblem, das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung zu belegen. Angesichts der Tomudex-Entscheidung des BSG erscheint die Verordnung von Dronabinol in den Fällen gut möglich, in denen eine lebensbedrohliche Erkrankung im engen Sinne vorliegt, also die verbleibende Lebenszeit nur noch wenige Monate oder auch wenige Jahre beträgt wenige Jahre wird wohl eine Lebensspanne von ein bis drei Jahren umfassen, möglicherweise auch mehr, denn das BSG selbst formuliert als Grund für diese Zeitspanne in seiner Idebenone-Entscheidung, dass durch einen bevorstehenden langen, verzögerten Krankheitsverlauf noch jahrzehntelang Zeit zur Therapie verbleibt und deswegen in Rechnung zu stellen (ist), dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können. Eine bereits weit fortgeschrittene Multiple-Sklerose-Erkrankung oder Friedreich`sche Ataxie lässt diese Erwartung aber ins Leere gehen es kann also unter Umständen sehr genau und mit Blick auf die Begründung des BSG für seine zeitlichen Kriterien vorgetragen werden, dass auch bei lang andauernden chronischen Erkrankungen eine notstandsähnliche Akutproblematik vorliegt. Allerdings müssen auch die weiteren, vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien erfüllt sein: Es darf keine Standardtherapie geben bzw. die Behandlung mit anderen, zugelassenen Medikamenten muss ausgeschlossen sein bzw. nicht die erforderliche Wirkung gezeigt haben. Hier kommt es darauf an, die Behandlung möglichst gut und ausführlich dokumentieren zu können. In der Regel wird es nicht aus-
reichen, pauschal Wirkstoffgruppen aufzuführen und mitzuteilen, es habe sich bei Vorbehandlungen gezeigt, dass diese nicht anschlagen bzw. dass diese erhebliche Nebenwirkungen gezeigt haben. Es sollte konkret angegeben werden können, wann evt. vorhandene andere Mittel mit welchem Ergebnis eingesetzt wurden. Gegebenenfalls sollten die Angaben bei vorbehandelnden Ärzten erfragt werden. Wenn die Angaben zu Beginn einer Verordnung von Dronabinol erfragt und dokumentiert werden, wird sichergestellt, dass nicht erst im evt. Regressfall, wenn der Patient vielleicht nicht mehr erreichbar ist, mühselig und oft mit unbefriedigendem Ergebnis versucht werden muss, die nötigen Unterlagen zusammenzustellen. Außerdem muss durch Indizien eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung bzw. auf spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nachgewiesen werden. Indizien können Studien und Forschungsergebnisse sein oder auch Zulassungsverfahren in anderen Ländern. Problematisch ist es dagegen, nur mit dem tatsächlich eingetretenen Erfolg beim Patienten zu argumentieren. Zum einen wird dieser in vielen Fällen schwer objektivierbar nachgewiesen werden können, zum anderen gehört es zu den Grundsätzen der Kostenübernahme in unserem Gesundheitssystem, den Erfolg gerade nicht zum Maßstab zu nehmen, weil dieser Erfolg auch bei zugelassenen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden oft schwer zu prognostizieren ist. Insoweit weitgehend sichere Anwendungsgebiete für eine Dronabinol-Therapie zu Lasten der GKV sind beispielsweise Schmerztherapien im palliativen Bereich bei Patienten, die Opiate nicht vertragen oder auch die Behandlung gravierender, anders nicht in den Griff zu bekommender Essstörungen oder therapieresistentes Erbrechen in der letzten Lebensphase. Bei Patienten mit sehr schweren chronischen Erkrankungen, die aber voraussichtlich noch eine längere Überlebensphase ermöglichen, ist es schwieriger, aber keineswegs ausgeschlossen, eine Kostenübernahme der GKV für Dronabinol zu erreichen. Hier sind verschiedene Aspekte im Auge zu behalten. Im Mittelpunkt steht die Möglichkeit festzustellen, dass die Krankheit mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung vergleichbar ist. Hier hat das Bundessozialgericht in der D-Ribose-Entscheidung auf das Beispiel der Erblindung abgestellt es geht also darum, herauszustellen, dass die Erkrankung dem Funktionsverlust eines wichtigen Organs gleichkommt. Besonders wichtig ist auch dabei zusätzlich das oben bereits erwähnte Zeitmoment: Es muss stets eine Akutproblematik vorliegen; wenigstens muss aber begründet werden können, warum ein Abwarten auf weitere Forschungen oder eine in Zukunft vielleicht zu erwartende Therapie mit zugelassenen Arzneimitteln keinesfalls zuzumuten ist. Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, Kanzlei Menschen und Rechte, Borselstraße 28, 22765 Hamburg, www.menschenundrechte.de tolmein@menschenundrechte.de
Dronabinol in der Palliativmedizin Ein wichtiger Anwendungsbereich für Dronabinol ist die Palliativmedizin. Auf Palliativstationen von Krankenhäusern kann Dronabinol ohnedies ohne die Beschränkungen im ambulanten Bereich gegeben werden, weil hier die Kostenübernahmeregelungen andere sind. Aber auch in der ambulanten Versorgung werden hier bei bestimmten Indikationen häufig die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts zum No-Label-Use erfüllt sein: Vorliegen einer akuten lebensbedrohlichen Erkrankung, Fehlen von Therapiealternativen und konkreten Indizien für eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. die grundlegenden Symptome. Sollte sich die Krankenkasse trotz Vorliegens einer solchen Konstellation weigern die Kosten zu übernehmen, kann unter Umständen ein Eilverfahren beim Sozialgericht aussichtsreich sein, das zum Ziel hat die Kostenübernahme zumindest vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache durchzusetzen. Wichtig in den Eilverfahren ist es, Krankheitssituation und fehlende Therapiealternativen möglichst konkret zu belegen. Da es hier rechtlich einige Hürden gibt, ist eine anwaltliche Vertretung stets angeraten. Hierfür besteht bei Bedürftigkeit und Erfolgsaussichten ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe Vorgehen im konkreten Fall: Erscheint die Verordnung von Dronabinol aus medizinischer Sicht geboten und sind die entsprechenden Voraussetzungen für die Verordnung zu Lasten der Krankenkasse erfüllt, sollte zur Vermeidung späterer Auseinandersetzungen und Regresse eine Klärung mit der Kasse durch den Patienten herbeigeführt werden. Dabei sollten die entscheidenden Punkte bereits aufgeführt werden. Sollte die Versorgung des Patienten mit Dronabinol sehr dringlich sein, sollte das der Kasse mitgeteilt und ggf. schriftlich eine Entscheidungsfrist gesetzt werden. Meistens ist es ratsam, bereits in diesem Stadium anwaltlichen Beistand hinzuzuziehen und das Vorgehen gezielt zu planen. Sollte der sich oft über Monate ziehende Ablauf des förmlichen Verfahrens (Antrag, Ablehnung, Widerspruch, Widerspruchsentscheid, Klage) nicht abgewartet werden können, kann nach dem entsprechenden Antrag Dronabinol ggf. auf Privatrezept verordnet werden. Der Patient hat dann später die Möglichkeit Kostenerstattung nach 13 SGB V zu beantragen. Sollte der Patient nicht zahlungsfähig sein und/oder der Arzt das Risiko einer Regressforderung nicht scheuen, kann auch auf Kassenrezept verordnet werden. Sollte die Kasse sich nicht bereit erklären, über den Antrag zu entscheiden, muss anwaltlicher Beistand hinzugezogen werden. Wird ein Antrag abgelehnt, kann der Patient Widerspruch einlegen. Ggf. kann nach Ablehnung des Antrags oder angesichts der Weigerung über einen Antrag zu entscheiden ein Eilverfahren angestrengt werden. Dafür müssen Krankheitsverlauf, Zustand des Patienten, Unmöglichkeit oder Ungeeignetheit von Therapiealternativen ausführlich dokumentiert werden. Die Dokumentation ist in der Regel prozessentscheidend. Parallel zum Eilverfahren muss nach Zurückweisung des Widerspruchs immer auch ein Klageverfahren in der Hauptsache geführt werden.
Checkliste 1. Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung? (Vermutliche Überlebenszeit unter drei Jahren) 2. Vorliegen einer vergleichbar schweren Erkrankung? (Funktionsverlust eines wichtigen Organs o.ä. strenge Anforderungen ) 3. Keine Standardtherapie? 4. Standardtherapie ungeeignet oder wirkungslos? 5. Sonstige Therapiealternativen nicht vorhanden, ungeeignet oder wirkungslos? 6. Indizien für spürbare Einwirkung von Dronabinol auf den Krankheitsverlauf 7. Ausführliche Dokumentation von 1.) 6.) 8. Kostenübernahme bei Kasse beantragt?