Jahres-Pressekonferenz. Jemen Gesundheitssystem am Boden Vorstellung des Spendenergebnisses 2017

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Transkript:

Jahres-Pressekonferenz Jemen Gesundheitssystem am Boden Vorstellung des Spendenergebnisses 2017 Es gilt das gesprochene Wort. Volker Westerbarkey Vorstandsvorsitzender ÄRZTE OHNE GRENZEN Deutschland

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie gekommen sind und danke Ihnen herzlich, in meinem Namen, im Namen von Ärzte ohne Grenzen aber vor allem im Namen der Menschen, von denen ich heute sprechen möchte. Lassen Sie uns gemeinsam dorthin sehen, wo manch einer vielleicht lieber wegsehen würde, und manch anderer sicherlich wegsieht, um den Unterschied zu unserem Leben hier nicht wahrhaben zu müssen... in den Jemen. Und ich bitte Sie gleich mal, ganz genau hinzuschauen. Schauen Sie mal her, dieser kleine Ring aus Papier hier zeigt den Umfang eines kindlichen Oberarms. Umfasst er weniger als 116 Millimeter, ist es der rote Bereich hier, dann ist das Kind schwer mangelernährt. Sein Leben ist in Gefahr. Mit diesem simplen Papierstreifen lässt sich Mangelernährung in Krisengebieten bei kleinen Kindern schnell und einfach diagnostizieren. Erschreckend eng ist dieser papierne Ring. Und erschreckend viele Kinder sind im Kriegsland Jemen derzeit im roten Bereich des Streifens. Die Mangelernährung, die unsere Teams im Jemen sehen, ist oft Resultat von Krankheiten, die vermieden werden könnten, würden die Kinder in einem anderen Land der Welt leben. In einem Land, in dem sie mit ihren Eltern schnell und einfach zum Kinderarzt kommen, in dem präventive Untersuchungen und Impfungen selbstverständlich sind. Seit März 2015 herrscht im Jemen Krieg und der trifft vor allem die Bedürftigsten. Es gibt immer wieder zahlreiche zivile Verletzte, Transportwege sind blockiert, den Menschen fehlt es an Essen, an sauberem Wasser, an Strom, Benzin, Medizin. In dem Land, das anderthalbmal so groß ist wie Deutschland, sind nach UN-Angaben 22 der 27 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Bedarf an medizinischer Hilfe ist riesig. Aber weniger als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen funktionieren nur noch. Seit August 2016 haben die meisten Staatsangestellten im Jemen kein Gehalt mehr bekommen darunter ist auch ein Großteil des gut ausgebildeten einheimischen

medizinischen Personals. Die müssen jetzt woanders arbeiten, um selbst überleben zu können. Ein Großteil der medizinischen Einrichtungen ist beim Krieg zerstört, teilweise wie in anderen Konflikten, gezielt zerstört worden. Der Weg ins nächste Krankenhaus ist wegen der Kämpfe, Frontlinien und Checkpoints oft weit oder schlicht unmöglich. Für die Menschen im Jemen wird es immer schwieriger, medizinische Hilfe zu finden. Deshalb sind wir, deshalb ist Ärzte ohne Grenzen im Jemen, dort vor Ort. Mit mehr als 1900 Mitarbeitenden aus dem Jemen und vielen anderen Ländern. Weltweit ist es einer der größten Einsätze für unsere Organisation und für die deutsche Sektion ist der Jemen das Land, in das im vergangenen Jahr das meiste Spendengeld ging. In 13 Krankenhäusern und Gesundheitszentren sind unsere Mitarbeiter aktiv, 20 weitere Einrichtungen werden von uns unterstützt. Eine Mutter von fünf Kindern erzählte unseren Mitarbeitern, sie musste ihren Schmuck verkaufen, um ihren Sohn in die Klinik zu bringen. Der 16-Jährige wurde beim Fußballspielen von Granatsplittern am Bein verletzt. Den Schmuck hatte die Frau eigentlich für die Zukunft ihrer Kinder beiseitegelegt. Sie hatte nicht gedacht, dass diese Zukunft so schnell kommen und es ums pure Überleben gehen würde. Der Junge wurde in unserem Krankenhaus in der umkämpften Stadt Tais versorgt, wo wir vergangenes Jahr Tag für Tag Kriegsverletzte behandelten. Er musste mehrfach operiert werden, aber er wurde gerettet. Menschen, die durch Schüsse, Granaten, Minen und Luftangriffe verletzt wurden - sie sind die offensichtlichsten Opfer dieser seit Jahren andauernden Gewalt. Mehr als 72.000 Patienten, die Opfer von Krieg und Gewalt wurden, haben die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen seit Beginn des Konflikts behandelt. Mehr als 54.000 Mal haben sie operiert und die Patienten nach den Operationen versorgt. Das heißt Verbände wechseln, Infektionen behandeln und Menschen pflegen, bis sie wieder selbständig sind. Aber auch die grundlegende Gesundheitsversorgung ist im Jemen so gut wie weggefallen, das heißt vor allem keine Versorgung für chronisch Kranke, für Schwangere, für Kinder - und es gibt keine Impfungen mehr. Stellen Sie sich also vor, Sie haben wegen Bluthochdrucks starke Kopfschmerzen oder Sie werden langsam bewusstlos wegen eines entgleisten Diabetes oder Sie brauchen

eine Dialyse. Oder Sie sind an Tuberkulose oder Krebs erkrankt. Dann würden Sie im Jemen kaum Hilfe finden. Dass es oft so schwer ist, die Gesundheitseinrichtungen überhaupt zu erreichen, ist gerade auch für Schwangere bedrohlich, bei denen Komplikationen auftreten. Eine Steißlage, eine Nabelschnur, die sich verwickelt hat, oder einfach eine zu früh geplatzte Fruchtblase, all diese Schwangeren brauchen dringend medizinische Hilfe, sonst sterben sie oder ihre Kinder. In unserer Mutter-Kind-Klinik in einem Vorort der Stadt Tais versuchen wir, zu helfen, wo es geht. 2017 wurden dort mehr als 7900 Kinder geboren, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor, das zeigt den ungeheuren Bedarf. Das Gesundheitssystem im Jemen ist zusammengebrochen, es fehlt an Nahrung und sauberem Wasser, bleiben dann auch noch die notwendigen Impfungen aus, kommen längst überwunden geglaubte Erkrankungen zurück. Wie die Diphterie. 1992 hatte es den letzten Fall im Jemen gegeben bis zum Dezember vergangenen Jahres. In 15 von 20 Provinzen des Landes brach die Krankheit neu aus. Diphterie ist sehr ansteckend und kann einen dramatischen Verlauf haben. Halsschmerzen, Fieber und Atemnot bis zum Ersticken. Antibiotika und Gegengift müssen schnell verabreicht werden. Im Jemen gab es Dutzende Tote, vor allem Kinder. Bei einem Ausbruch der Cholera 2017 behandelte Ärzte ohne Grenzen mehr als 100.000 Patienten, die die Symptome der Krankheit hatten. Unstillbare Brechdurchfälle, die man nur durch Gabe von massenhaft Infusionen bekämpfen kann. Im Jemen gab es allein im Mai und Juni vergangenen Jahres mehr Cholerafälle als im Jahr 2015 weltweit. Bei all dem, was ich gerade beschrieben habe, nicht nur hinzusehen und darüber zu reden, sondern auch hinzugehen und das Möglichste und Notwendigste zu tun, das haben wir uns von Ärzte ohne Grenzen zur Aufgabe gemacht. 2017 hat Ärzte ohne Grenzen international als Organisation mehr als 60 Millionen Euro für die Hilfe im Jemen ausgegeben, 11,6 Millionen Euro davon kamen aus Deutschland. Möglich war diese Hilfe mit der Unterstützung von mehr als 626.000 Spendenden aus Deutschland. Das waren fast 39.000 mehr als im Jahr 2016.

Unsere Einnahmen stiegen im vergangenen Jahr auf 153,6 Millionen Euro. Davon kamen 147,7 Millionen Euro aus privaten Spenden und Zuwendungen. Das waren 14,9 Millionen Euro mehr als 2016. 136 Millionen Euro flossen direkt in unsere medizinische Nothilfe weltweit. Für diese großartige Unterstützung danke ich von Herzen. Und ich danke den 295 Projektmitarbeitenden, die in Deutschland leben oder über das deutsche Büro im vergangenen Jahr vermittelt wurden auch in Projekte im Jemen. Dort sitzen die Kinder, die Mütter, die Kranken, die ganze Zivilbevölkerung in diesem Krieg fest, es ist praktisch unmöglich, ins Ausland zu fliehen. Nach wie vor sind viel zu wenige Hilfsorganisationen vor Ort. Wenn wir uns an das Muac-Bändchen vom Anfang erinnern, mit dem wir die Mangelernährung messen, dann müssen wir feststellen: Eigentlich sind im Jemen Dreiviertel der Menschen humanitär im roten Bereich. Und die Weltöffentlichkeit verschließt die Augen. Der Jemen braucht ein Ende des Krieges und bis dahin dringend mehr, viel mehr humanitäre Unterstützung - humanitäre Hilfe, die nicht behindert wird und deren Mitarbeitende sich nicht selbst in Lebensgefahr begeben müssen. Das liegt in der Verantwortung der Kriegsparteien, aber auch in der Verantwortung jener Staaten, die die Kriegsparteien unterstützen. Wie die Menschen im Jemen leben können in dieser ständigen Ausnahmesituation, wurde einer unserer jemenitischen Mitarbeiter gefragt. Seine Antwort: Wir ziehen die Köpfe ein und machen weiter. Es gibt keine andere Option. Lassen wir ihn nicht allein. Wir machen weiter und bitte, sehen auch Sie weiter gemeinsam mit uns hin. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.