Manuskript Beitrag: Chaos beim Hochschulstart Tausende Studienplätze unbesetzt Sendung vom 29. September 2015 von Marius Brüning und Andreas Halbach Anmoderation: Das Abitur gilt allgemein als Reifeprüfung. Jedes Jahr im Sommer freuen sich Hunderttausende, dass sie bestanden haben und im Herbst auf die Uni gehen können. Da wissen sie noch nicht, dass ihnen die eigentliche Prüfung noch bevorsteht. Denn die bürokratischen Hürden bei der Zulassung fürs Studium sind hoch. Eigentlich sollte eine zentrale Datenbank alles ganz einfach machen. Eigentlich, denn in Wahrheit herrscht Chaos. Und übermorgen, wenn das Wintersemester beginnt, bleiben viele der heißbegehrten Studienplätze unbesetzt. Andreas Halbach und Marius Brüning über ein unreifes System und Abiturienten, die erst jetzt wirklich reif und fertig sind. Fertig mit den Nerven. Text: Das Wintersemester beginnt, aber Annik ist wieder nicht dabei: Mit ihrer Mutter zählt sie die Absagen, Psychologie will sie studieren. Hier Ablehnung, auch Ablehnung. O-Ton Mutter von Annik Strauch: Ist ja der Wahnsinn, das sind alles Absagen? Ja. Annik hat voriges Jahr ein gutes Abi gemacht, mit 2,1. Doch der Numerus Clausus für Psychologie liegt unter 1,6. Psychologie ist eines der NC-Fächer, die über eine zentrale Datenbank vergeben werden - das sogenannte Dialogorientierte Serviceverfahren. Die Datenbank gleicht Abiturnote und Wartezeit des Bewerbers mit den Anforderungen der Hochschulen ab. Das Ziel der Plattform: Alle verfügbaren Studienplätze sicher und möglichst
schnell zu vergeben. Derzeit geht es um die letzten freien Plätze im Losverfahren. Da stehen die Chancen aber eigentlich ziemlich schlecht. Also, zum Beispiel die Uni Bonn schreibt, man hat ne Chance von 1:2000. Und wenn ich das richtig sehe, hier bei Hochschulstart, dann sind das auch irgendwie nur noch zwei Unis, die daran teilnehmen. Aber, ich bin mir da auch nicht sicher, weil das alles ziemlich kompliziert ist. Viele Abiturienten haben Probleme mit der Datenbank. Das Geschäft kommerzieller Studienberater blüht. 250 Euro kostet die Hilfe bei der Bewerbung im Dialogorientierten Serviceverfahren. Denn die Website hat auch fünf Jahre nach ihrem Start viele Schwächen. Ein Beispiel: Zahlenchaos bei der Bewerbung für Betriebswirtschaft. O-Ton Dietmar Schmale, Studienberatung EDU-CON: Das hab ich in die Suchmaske eingegeben und bekomme insgesamt 38 Studienangebote angezeigt. Wir interessieren uns nur für die Universitäten: Das sind zwölf Universitäten. Oder aber nur die Fachhochschulen: Das sind fünf. Zwölf plus fünf macht nicht 38. Neben den technischen Problemen kommt hinzu: Viele Hochschulen machen gar nicht mit. Betreiber der Datenbank ist die Stiftung für Hochschulzulassung. Sie teilt auf Anfrage mit, Zitat: Zum Wintersemester 2015/16 beteiligen sich 89 von ca. 180 in Frage kommenden Hochschulen am DoSV. O-Ton Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften: Ein zentrales Hochschulzulassungsverfahren, an dem nicht mal Hälfte der Hochschulen mitmacht - und das nur mit einem Bruchteil ihrer Studiengänge - das ist schlicht kein zentrales Zulassungsverfahren. Und das führt dazu, dass die Studienbewerberinnen und Studienbewerber in die Röhre schauen. Der Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, Professor Burckhart, Rektor der Uni Siegen, sagt, es liege am Geld. Vor allem für kleine Hochschulen sei das System zu teuer. O-Ton Prof. Holger Burckhart, Vizepräsident Hochschulrektorenkonferenz: Die Hochschulen sind zurückhaltend, weil die Finanzierung nach wie vor ungeklärt ist. Wir sind hier strittig mit Bund und
Ländern. Die Datenbank zur Studienplatzvergabe kommt nicht in Gang, weil es noch Streit ums Geld gibt? Mitverantwortlich die Kultusministerkonferenz der Länder. Die verweist auf den Stiftungsratsvorsitzenden von Hochschulstart: Die Hochschulen sind nach dem Staatsvertrag beitragspflichtig und die Hochschulen, die teilnehmen, zahlen das. Und die Beiträge für die Teilnahme am DoSV sind auch für die einzelne Hochschule nicht gerade hoch. O-Ton Frontal 21: Aufgrund dieser geringen Teilnehmerzahl reden Kritiker von einem Flop des Systems? Und wir reden von einer Erfolgsgeschichte. Wir haben eine sehr komplexe Lösung geschaffen, da hat ein sehr kompetentes Team über die ganze Republik hinweg gut mitgearbeitet. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, zugegeben, aber große komplexe Lösungen brauchen ihre Zeit. Ziel der zentralen Datenbank ist es vor allem, Mehrfachzulassungen erfolgreich zu verhindern. Die Stiftung teilt mit, die Technik funktioniere. In der Praxis funktioniert das System nur bei elf Prozent aller zulassungsbeschränkten Studiengänge, denn mehr machen gar nicht mit. Elf Prozent aller Studiengänge, das sind aber die Studiengänge, in denen die meisten Studienplätze in den härtest umkämpften Fächern angeboten werden. Es sind immerhin 465 Studiengänge, die zurzeit im Dialogorientierten Serviceverfahren vertreten sind. Das ist viel. Dennoch: Nach jahrelangem Betrieb der Datenbank gibt es nicht weniger, sondern immer mehr unbesetzte Studienplätze: Die Kultusministerkonferenz muss zugeben, ihr Anteil ist von 4,8 auf 6,3 Prozent im vergangenen Wintersemester gestiegen. Münster. Hier glauben viele Studenten schon lange nicht mehr an das Dialogorientierte Serviceverfahren. Sie umgehen das System - so wie Laura und Marius: Sie hatten sich an mehreren Unis gleichzeitig beworben. Sie sind überzeugt, nur so eine Chance auf einen Studienplatz zu haben.
O-Ton Laura Bothorn, Studentin aus Münster An welche Uni, an welche FH möchte ich überhaupt gehen, welche Unis sind renommiert, dann, wo kann ich das Leben überhaupt bezahlen als Student, wo ist der Wohnraum bezahlbar. Dann möchte ich natürlich in der Nähe von meiner Familie bleiben, aber auch von meinen Freunden bleiben und das heißt: Man schickt erst mal so viele Bewerbungen wie möglich raus. Dann habe ich persönlich die erste Zusage, die ich erhalten hab, erst mal angenommen, weil ich überhaupt nicht wusste, was kommt noch danach. Ich hatte keine andere Wahl. O-Ton Marius Schulte, Student aus Münster: Ich hab erst im Semester meine Zusage bekommen, weil das Vergabeverfahren der Unis so langsam ist. Da müssen die Universitäten sich nicht wundern, wenn man alles annimmt, was man bekommt. Solche Mehrfachzulassungen haben absurde Folgen: Obwohl es in Deutschland eigentlich viel zu wenig Studienplätze gibt, bleiben gleichzeitig Tausende unbesetzt. Das belegt eine Umfrage von Frontal 21. Das Ergebnis: Im vergangenen Wintersemester gab es trotz Studienplatzmangels in allen Bundesländern unbesetzte Plätze. Bundesweit insgesamt 21.036 freie Bachelor- und Master- Studienplätze. Das deutsche Hochschulchaos hat Laura Battaglia selbst erlebt. Weil sie ein Abi von 2,3 hat, wurde sie im vergangenen Jahr an keiner staatlichen Uni angenommen. Einziger Ausweg, eine Düsseldorfer Privathochschule. Die kostet 750 Euro Studiengebühr pro Monat. Da hätte Laura lieber an der Kölner Fachhochschule studiert. Doch von dort kam ein Ablehnungsbescheid. O-Ton, rechts, Laura Battaglia, Studentin aus Düsseldorf: Hier steht ja jetzt, dass ich den Platz im Nachrückverfahren gehabt hätte, also die Chance gehabt hätte, da kam dann aber leider nichts mehr. Merkwürdig, denn laut Wissenschaftsministerium blieb an der Kölner FH in Lauras Wunsch-Studiengang Mehrsprachige Kommunikation ein Platz unbesetzt - und das obwohl es 1867 Bewerber auf 240 Plätze gab. Wir fragen nach bei der Kölner Hochschule. Die Antwort, Zitat:... nachrückende Bewerber [haben] aus uns unbekannten Gründen diesen Studienplatz nicht im vorgeschriebenen Zeitraum bis 30. Oktober angenommen.
O-Ton Laura Battaglia, Studienbewerberin: Ich finde das komplett unverständlich. Ich hätte den Platz sehr gerne gehabt und das zeigt für mich persönlich, wie ungerecht das ganze Verfahren ist. Ein ungerechtes Verfahren, nur die Hälfte der Hochschulen machen mit und Tausende Studienplätze bleiben unbesetzt. Rund 40 Millionen Euro hat die wenig brauchbare Datenbank bisher gekostet, rechnet der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks, Achim Meyer auf der Heyde, vor. O-Ton Achim Meyer auf der Heyde, Generalsekretär Deutsches Studentenwerk: Bisher ist es natürlich noch kein Mehrwert, wenn nur eine geringe Zahl von Hochschulen sich beteiligt und wenn auch nur eine geringe Zahl von Studiengängen erfasst wird. Wenn die Studierenden sich trotzdem an einer Vielzahl von Hochschulen individuell bewerben müssen, ja, dann fragt man sich natürlich, warum man ein solches System hat. Eine Frage, die sich auch Annik Strauch stellt. Trotz allgemeiner Hochschulreife - Abi mit 2,1 - hat sie keine Chance, in Deutschland Psychologie zu studieren. Das Dialogorientierte Serviceverfahren war keine Hilfe. So geht sie jetzt ins Ausland. Am Ende unserer Dreharbeiten, eine überraschende Zusage: Sie kann diese Woche mit dem Studium beginnen in Wien. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.