Gefährdungsmeldung ja oder nein? Von der Schwierigkeit des richtigen Zeitpunkts Minimax-Veranstaltung der Fachstelle Kinderschutz Kanton Solothurn, 18.9.2013 Andrea Hauri, M.A. in Soziologie, Sozialarbeiterin FH, Dozentin BFH Soziale Arbeit Berner Soziale Fachhochschule Arbeit Haute école spécialisée bernoise Bern University of Applied Sciences Übersicht 1. Grundbegriffe und System des Kindesschutzes 2. Gefährdungsmeldung ja oder nein? Eine Einschätzungshilfe 3. Der richtige Zeitpunkt für eine Gefährdungsmeldung 1
1. Grundbegriffe und System des Kindesschutzes Definition Kindeswohl Das Kindeswohl ist gewährt, wenn ein für die gesunde Entwicklung günstiges Verhältnis besteht zwischen den Rechten des Kindes, dem nach fachlicher Einschätzung wohlverstandenen Bedarf und den subjektiven Bedü rfnissen des Kindes einerseits und seinen tatsä chlichen Lebensbedingungen andererseits. (In Anlehnung an Dettenborn (2010) 2
Grundbedarfe des Kindes beständige liebevolle Beziehungen körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Regulation (z.b. Schreien, Schlafen, Füttern, Selbstberuhigung) Erfahrungen, die die individuelle Persönlichkeit des Kindes berücksichtigen Erfahrungen, die dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angemessen sind Grenzen und Strukturen stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität (Vgl. Brazelton et al. (2008) 2 zeitliche Dimensionen von Kindeswohlgefährdung Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, sobald die ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen, geistigen oder psychischen Wohls des Kindes vorauszusehen ist. Nicht erforderlich ist, dass diese Möglichkeit sich schon verwirklicht hat. Hegnauer (1999, Grundriss N27.14) Kindeswohlgefährdung im Hier und Jetzt ernstliche Möglichkeit der Beein-trächtigung in Zukunft 3
Formen von Kindeswohlgefährdungen Vernachlässigung körperliche Gewalt psychische Gewalt Gefährdung als Folge von Erwachsenenkonflikten um das Kind sexuelle Gewalt Auftrag Kindesschutzbehörde Art. 307 ZGB 1 Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes. 4
Mögliche Massnahmen der Kindesschutzbehörde Ermahnung/ Weisung 307 ZGB Beistandschaft 308 ZGB Obhutsentzug Entzug der 310 ZGB elterlichen Sorge 311/312 ZGB Die vier Bereiche des institutionalisierten Kindesschutzes Zivilrechtlicher Kindesschutz Kindesschutzbehörden, SD Freiwilliger Kindesschutz Beratungsstellen, Sozialdienste, EB, KJPD, Mütter-& Väterberatung etc. Vertrauensperson Schule Familie Kind Freizeitorganisationen Kindergarten Spezialisierte Kindesschutzorgane Interdisziplinäre Kindesschutzgruppen, Kindesschutzgruppen in Spitälern, Elternnotruf, Fachstellen Kinderschutz Polizei, Jugendgerichte etc. Strafrechtlicher Kindesschutz (Leicht verändert nach Häfeli, 2005) 5
2. Gefährdungsmeldung ja oder nein? Eine Einschätzungshilfe 1. Notwendigkeit von Soforthilfe prüfen 2. Anhaltspunkte für eine bestehende Gefährdung des Kindes identifizieren 3. Schutzfaktoren erkennen 4. Risikofaktoren erkennen 5. Risikoeinschätzung vornehmen 6. Weiteres Vorgehen planen als PDF gratis unter www.soziale-arbeit.bfh.ch Für CHF 13.-gedrucktes Exemplar zu beziehen bei der Stiftung Kinderschutz Schweiz (ab 15.10.2013) 6
Allgemeine Hinweise zum Vorgehen eigene Rolle klären: klare Abgrenzung von einer Abklärung Fall im Team und mit Ihren Vorgesetzten besprechen. Beratungsangebote für Fachpersonen der Fachstelle Kinderschutz Kt. SO nutzen. Entscheidungen nach dem Vier-Augen-Prinzip fällen, d. h. nicht allein. Einschätzung der möglichen Kindeswohlgefährdung nach einer gewissen Zeitspanne wiederholen. interne Abläufe und Zuständigkeiten innerhalb der Institution klären. 1. Braucht das Kind Soforthilfe? Inwiefern ist das Kind in der jetzigen Umgebung mindestens bis zum nächsten Kontakt vor einer erheblichen Gefährdung geschü tzt? 7
2. Welche Anhaltspunkte bestehen fü r eine vorhandene Gefährdung des Kindes? Anhaltspunkte schriftlich festhalten Dabei Fakten, Erklärungen und Interpretationen auseinander halten. Aussagen des Kindes z.b. betreffend sexuelle Gewalt im Originalton festzuhalten, z.b. auf Schweizerdeutsch. Anhaltspunkte für eine bestehende Gefährdung eines Kindes I (Hauri & Zingaro, 2013) 8
Anhaltspunkte für eine bestehende Gefährdung eines Kindes II (Hauri, Zingaro, 2013) Weitere Anhaltspunkte für eine bestehende Gefährdung eines Kindes III (Hauri, Zingaro, 2013) 9
3 Schutzfaktoren erkennen Was sind Schutzfaktoren? Schutzfaktoren haben schützende Effekte im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern unter ansonsten eher ungünstigen Lebensumständen (Kindler, 2011, S. 23) Welche Schutzfaktoren sind vorhanden? Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern I (Hauri & Zingaro, 2013) 10
Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern II (Hauri & Zingaro, 2013) 4. Risikofaktoren erkennen Begriffsdefinition Ein Risikofaktor ist ein Merkmal, das unter bestimmten Rahmenbedingungen mit einer statistisch erhö hten Wahrscheinlichkeit verbunden ist, dass ein negativ bewertetes Ereignis eintreten wird. (Kindler, 2011) Risikoeinschä tzung Bewertung der Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Auftretens von Kindeswohlgefährdung/-misshandlung 11
Wechselwirkungen zwischen Risiko-und Schutzfaktoren (leicht vereinfachte Darstellung aus Deegener et al. 2006 S. 23) Vorhersagekraft von Risikofaktoren Kumulative Wirkung von einzelnen Risikofaktoren! Es sind mindestens 3 bedeutsame Risikofaktoren nötig um von einem hohen Misshandlungs-bzw. Vernachlässigungsrisiko ausgehen zu können (Kindler, 2006, 70.3;70.7). Risikofaktoren sind nicht so vorhersagestark, dass sie zukü nftige Misshandlungen/ Vernachlässigungen mit Sicherheit vorhersagen kö nnen. 12
Besonders gewichtige Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdungen sind Partnerschaftsgewalt, Drogenkonsum, Alkoholproblem oder andere psychische Erkrankung oder psychiatrische Vorbehandlung der Eltern. (vgl. Kindler, 2010: 173). Überblick Risikofaktoren I (Hauri & Zingaro, 2013) 13
Überblick Risikofaktoren II (Hauri & Zingaro, 2013) (Hauri & Zingaro, 2013) 5. Risikoeinschätzung vornehmen 14
6. Weiteres Vorgehen Planen -Entscheidungsbaum 15
6. Weiteres Vorgehen Planen -Entscheidungsbaum Meldepflicht an Kindesschutzbehörde Fachpersonen sind verpflichtet im Falle einer (vermuteten) Kindeswohlgefährdung eine Meldung an Kindesschutzbehörde zu machen. (Art. 443 Abs. 2 ZGB & Art. 314 Abs. 1 ZGB; EG ZGB SO 142) Einfü hrungsgesetz Kanton Solothurn (EG ZGB SO) 142 A. Meldepflichten 1 Wer eine ö ffentliche Aufgabe wahrnimmt und im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit von einer hilfsbedürftigen Person erfährt, ist verpflichtet, der Kindes-und Erwachsenenschutzbehörde Meldung zu erstatten. Keine absolute Meldepflicht Ermessensspielraum (vgl. Rosch, 2012) 16
Inhalt mündliche oder schriftliche Gefährdungsmeldung an KESB Personalien des Kindes Wenn bekannt: Angaben zu Geschwistern Namen, Kontaktdaten der Eltern/ Sorgeberechtigten Kontaktadressen der Melderin/ des Melders Sind das Kind und d. Sorgeberechtigten über Meldung informiert? Möglichst sachliche Beschreibung der Ereignisse und Beobachtungen mit Zeit und Ort Adresse von allfälligen Zeugen und weiteren Personen, die informiert sind Angaben über bisherige Bemühungen, die Situation des Kindes zu verbessern Erscheint e. sofortige Kontaktaufnahme nötig? Information der Eltern über Gefährdungsmeldung Grundsatz: Gefährdungsmeldung falls nötig gegen den Willen der Eltern aber nicht ohne deren Wissen Ausnahme bei Gefahr von Gewalt gegen Melder/in respektvolle Haltung gegenüber den Erziehungsberechtigten Fokus im Gespräch auf gemeinsames Ziel: das Wohlergehen des Kindes. 17
3. Der richtige Zeitpunkt für eine Gefährdungsmeldung Von der Schwierigkeit des richtigen Zeitpunkts oder nach Anna Freud: vom Dilemma stets zu früh zu viel oder zu spät zu wenig zu tun I Im Zweifelsfall lieber zu früh als zu spät Gefährdungsmeldung machen Aber: unbegründete, zu frühe Meldung kann Kind schutzlos lassen bei Säuglingen und Kleinkindern: Schutzbedürftigkeit besonders hoch, eine Gefährdung kann innert Stunden lebensgefährlich sein Verschleppen von Gefährdungen als Gefahr Achtung: Problemtoleranz steigt schleichend! 18
Was hilft um möglichst angemessene Entscheide zu treffen? Fallbesprechungen (Team, Vorgesetzte spezialisierte Fachstellen) Entscheidungen gemeinsam mit Vorgesetzten Verbindliche Ziel-und Handlungsplanung (mit zeitlichen Fristen für Überprüfung!) Verbindliche Überprüfung der Ziel-und Handlungsplanung Periodische Neueinschätzung des Falls Supervision und Intervision zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Fall nutzen Netz spannen: Gute Zusammenarbeit mit anderen Institutionen Gute Arbeitsbedingungen! Weiterbildung mit Spezialisierung in Kindesschutz Verhalten gegenüber dem Kind Kind in der Selbstwirksamkeitserwartung stärken durch Beteiligung und Information des Kindes: Was will das Kind? Den Willen berücksichtigen aber nicht dem Kind die Entscheidung überlassen. Kind über allfällige Schritte informieren und Vorgehen mit Kind absprechen Information, dass Intervention auch gegen den Willen des Kindes bei akuter Gefährdung (inkl. Selbstgefährdung) Sekundärtraumatisierung des Kindes durch das Vorgehen als Fachperson verhindern Beobachten, Äusserungen des Kindes möglichst wortgetreu schriftlich festhalten (unterscheiden zwischen Fakten, Erklärungen und Interpretation) Kind zuhören, nicht ausfragen (v.a. bei Verdacht auf sexuelle Gewalt) Keine Konfrontation mit Täter/in (bei Verdacht auf sexuelle Gewalt) 19
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