UND WIR BEWEGEN UNS NOCH



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Transkript:

Robert Foltin UND WIR BEWEGEN UNS NOCH Zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich mandelbaum kritik & utopie

Inhalt 7 Vorwort 12 Februar 2000: Was ist geblieben? Keine Atempause 22 Von der Bewegung der Bewegungen zur Verschiebung der internationalen Gewichte 32 Das kleine und das große Ganze 37 ÖGB: So wie immer 45 Feminismus, immer wieder notwendig 64 Migration als soziale Bewegung 80 Wem gehört die Stadt? Klimawechsel 97 Auf dem Weg in die Krise 108 Im (sexistischen) Mainstream und dagegen 116 Für eine lebenswerte Stadt 125 Besetzungen 146 Gegen den rechtsextremen Normalzustand 161 Repression Resonanzen 170 Aufstände 182 Es geht voran 186 unibrennt 201 Eine Welt für Alle 2011 213 Zeitenwende 221 Krisenproteste 230 Vom Aufstand zur Revolution? 243 Anarchismus und Kommunismus 247 Chronologie 270 Literaturverzeichnis 284 Abkürzungsverzeichnis

Keine Atempause 37 monstrant_innen ihren Wunsch nach einer Volksabstimmung über den EU-Vertrag zum Ausdruck, darunter auch Vertreter_innen von BZÖ und FPÖ. Die österreichische Neutralität diente als Aufhänger für österreichischen Nationalismus. Auch ein schwarz gekleideter Block von Neonazis beteiligte sich und forderte auf einem Transparent Freiheit für Honsik, einen verurteilten Holocaust-Leugner. Einige tausend hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) linke Demonstrant_innen forderten dann am 5. April 2008 ebenfalls europäische Volksabstimmungen über die EU-Verfassung. Auf dieser Demonstration wurde die hasserfüllte Kampagne der Kronenzeitung kritisiert (akin Nr. 10, 8.4.2008). In der medialen Öffentlichkeit dominierten jedoch, trotz der Aktivität von Attac, die reaktionären EU-Gegner_innen. Nicht nur dadurch ließen sich viele emanzipatorisch denkende Menschen von einer Teilnahme an dieser Bewegung abschrecken ( ein Schmuddelthema, wie Bernhard Redl in der akin Nr. 9, 18.3.2008, über die Rettet Österreich -Demo schreibt). Das Nein im Referendum am 12. Juni 2008 in Irland verzögerte die europäische Ratifizierung. Nach einigen Anpassungen zu Gunsten der irischen Politik und einer neuerlichen Volksabstimmung am 2. Oktober 2009 konnte der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft treten. In Österreich war die Kritik an der EU zu einem größeren Teil nationalistisch und österreichpatriotisch (das kleinere Ganze) geprägt, im Gegensatz zu vielen anderen Staaten in Westeuropa, wo soziale Forderungen im Zentrum standen und stehen. In den Auseinandersetzungen um die EU-Verträge hielten sich die Gewerkschaften im Gegensatz zur Dienstleistungsrichtlinie zurück. Die Entwicklung des ÖGB, der immerhin federführend für das Streikjahr 2003 war, wird im nächsten Abschnitt behandelt. ÖGB: So wie immer Freilich, wenn es ums Eingemachte ginge, wären selbst die oft von den Arbeiter-Gewerkschaftern als wenig kampfbereit geschmähten Privatangestellten für Konfrontationen bereit, schreibt Reinhard Engel (2006, S. 123) aus dem Blickwinkel eines kritischen Gewerkschafters. Er meint mit Arbeiter-Gewerk-

38 Robert Foltin schaftern die (hauptsächlich männlichen) Arbeiter_innen in den Großbetrieben, die gewerkschaftlich organisiert sind, sich von den Funktionär_innen des ÖGB repräsentieren lassen und auch streiken oder auf die Straße gehen, wenn der ÖBG sie dazu auffordert. Tatsächlich haben sich die Verhältnisse geändert, es sind zwar immer noch weniger Angestellte gewerkschaftlich organisiert, gestreikt haben sie in den letzten Jahren in Westeuropa jedoch öfter und meist radikaler als die Industriearbeiter_innen. Engel kritisiert zwar den ÖGB dafür, dass er von mittelalterlichen Männern in grauen Anzügen (S. 8) repräsentiert werde, wenn jedoch der ÖGB seine Zukunftsperspektive in der Ausverhandlung von Kollektivverträgen, in der Erstellung von Sozialplänen bei Massenkündigungen, im Co- Management (Zusammenarbeit mit dem Unternehmen) und in der Mitarbeit in der europäischen Bürokratie sieht, sind Veränderungen im ÖGB, die der heutigen gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprechen, kaum vorstellbar. In Foltin (2004, S. 37 ff.) beschreibe ich das sozialpartnerschaftliche Modell und den großen Anteil an verstaatlichter Industrie als Verstaatlichung der Arbeiter_innenklasse. Ab Mitte der 1980er Jahre wird die verstaatlichte Industrie sukzessive abgebaut, die lukrativen Teile privatisiert. Das korporative Modell der Aushandlung zwischen Vertreter_innen der Unternehmer_innen und der Arbeitenden bleibt aber bestehen, in der Gewerkschaft erweist sich die hierarchische und männliche Struktur als stabiler als in den politischen Parteien, in denen eine Umwälzung in Richtung (Post) Modernisierung und Spektakel stattfindet (vgl. Foltin 2004, S. 191). Die Mitgliedszahlen im ÖGB sinken langsam aber stetig, weniger aus Unzufriedenheit mit der mangelnden Kampfbereitschaft des ÖGB, sondern weil die Kernschicht der männlichen Industriearbeiter_innen zahlenmäßig abnimmt und die Zunahme der Beschäftigung Sektoren mit geringer gewerkschaftlicher Organisierung betrifft, die vom ÖGB vernachlässigt werden. Engel (2006, S. 125 ff.) diskutiert anhand eines Papiers aus Deutschland (Frerichs et al. 2004 S. 78 ff.) die Dilemmata der Gewerkschaft und versucht, diese auf die Perspektiven des ÖGB umzulegen. Differenzierung vs. Kampfkraft (Engel 2006, S. 125 f.; Frerichs et al. 2004, S. 79): Die Kampfkraft drückte sich in der

Keine Atempause 39 Macht und Verhandlungsfähigkeit aus strategisch wichtige Mitgliedergruppen (das heißt gut organisierte hauptsächlich männliche Industriearbeiter_innen) verallgemeinern ihre Forderungen auch für die nicht so wichtigen Gruppen. Aber die Arbeitsverhältnisse haben sich inzwischen ausdifferenziert und eine einheitliche ( mächtige ) Interessensvertretung wird immer schwieriger auch weil die als wichtig erachteten Gruppen zahlenmäßig weniger wichtig werden. Pflege der Kernmitgliedschaft vs. kompensatorisches Gegensteuern (Engel 2006, S. 126 f.; Frerichs et al. 2004, S. 79): Die Vertretung der Interessen der an den Rand gedrängten Gruppen von Beschäftigten (Erwerbsarbeitslose, Frauen, Migrant_innen 19 ) verprellt die Kernmitglieder. Erhöhter Ressourcenbedarf und mangelnde Erfolgssicherheit vs. Marginalisierung (Engel 2006, S. 128 f.; Frerichs et al. 2004, S. 79 f.): Die zunehmende Prekarisierung, die Verlagerung in Klein- und Kleinstbetriebe sowie die teilweise Wiederkehr der Heimarbeit erfordern mehr Organisierungsarbeit, während gleichzeitig die Ressourcen durch abnehmende Mitgliederzahlen abnehmen. Erweiterung des politischen Mandats vs. Konzentration auf Kernkompetenzen (Engel 2006, S. 130; Frerichs et al. 2004, S. 80): Während für Deutschland die Erweiterung auf Themen wie Ökologie und Stadtteilarbeit gefordert wird, ohne die Kernkompetenz der Arbeitsverhältnisse zu vernachlässigen, besteht in Österreich das zusätzliche Problem, dass die politische Erweiterung immer schon Parteipolitik hieß und heißt (meist zu Gunsten der SPÖ, im Bereich der Beamt_innen auch der ÖVP). Wertegemeinschaft vs. Kundenorientierung (Engel 2006, S. 130 f.; Frerichs et al. 2004, S. 80): Wenn die Gewerkschaft als eine Art Mischung aus ÖAMTC [Autofahrer_innen-Organisation] und Hagelversicherung besteht (Engel 2006, S. 130), ist die Möglichkeit, die Basis im Falle von Auseinandersetzungen zu mobilisieren, kaum gegeben. Zumindest kurzfristig schien letzteres zu funktionieren, als zu Streiks und De- 19 Migrant_innen und Erwerbsarbeitslose sind bei Engel (2006) praktisch nicht existent. Frauen werden erwähnt, aber auch mehr im Sinne einer Verpflichtung. In der deutschen Studie von Frerichs et al. (2006) wird die Geschlechterfrage prominenter behandelt.

40 Robert Foltin monstrationen gegen die schwarz-blaue Regierung zwischen 2000 und 2003 mobilisiert wurde. Horaczek (2007) stellt die Frage, ob das Streikjahr 2003 einen Übergang von der Konsens- zur Konfliktdemokratie bedeutete, immerhin wurden die meisten Streikstunden seit den 1960ern verzeichnet. Dazu wurde das meiste eigentlich schon in Foltin (2004, S. 260, S. 275 f.) gesagt, der ÖGB näherte sich kurzfristig den Verhältnissen in anderen (westeuropäischen) Ländern an, in denen rituelle Streiks zu möglichen Verhandlungen führen. Die Aufrufe zu einem Warnstreik am 6. Mai 2003, zu der Großdemonstration am 13. Mai 2003 und zu einem zweiten Streiktag am 3. Juni 2003 gegen die Pensionsreform wurden breit befolgt. Danach sagte ÖGB- Chef Fritz Verzetnitsch weitere Streiks ab und beschränkte sich darauf, Briefe an alle Parlamentarier_innen zu schreiben und sie dazu aufzufordern, gegen die Pensionsreform zu stimmen. Unklar bleibt, wieso der ÖGB entgegen seiner Ankündigungen, weiter gegen die Pensionsreform auf die Straße zu gehen, nach dem Großstreiktag 3. Juni auf weitere Streikmaßnahmen verzichtete. (Horaczek 2007, S. 112) Als einziges positives Ergebnis konstatiert Horaczek, dass sich die Umfragewerte der Sozialpartner_innen äußerst günstig entwickelt haben. Vielleicht hatte der ÖGB tatsächlich Angst, dass sich die Beschäftigten nicht noch einmal von oben angeordnet mobilisieren lassen würden. Der Streik der Eisenbahner_innen Anfang November 2003 hatte die Abwehr von Eingriffen in das ÖBB-Dienstrecht sowie der Zerschlagung der ÖBB in einzelne Betriebe zum Ziel (Horaczek 2007, S. 13 ff.). Beide Ziele wurden nicht erreicht, sehr wohl jedoch das informelle dritte Ziel der Aufrechterhaltung des Einflusses der FSG-dominierten (Fraktion sozialdemokratischer GewerkschafterInnen) Gewerkschaft der Eisenbahner (GdE). Die Sozialpartner_innenschaft wurde aufrechterhalten, die Gewerkschaft durfte die Änderung des Dienstrechts und die Auflösung der ÖBB in unterschiedliche Bestandteile mitverhandeln. Die Linke glaubte, einen massiven Unmut in der Belegschaft über den unvermittelten Streikabbruch am dritten Tag festzustellen, längere Nachwirkungen hatte dieser jedoch nicht. In der offiziellen Streikstatistik gibt es ab diesem

Keine Atempause 41 Zeitpunkt (bis 2010) keinen Streik mehr außer jenen der Fahrradbot_innen bei Veloce im April 2004. Die Gewerkschaften organisierten zwar vereinzelte Proteste, die allerdings als Betriebsversammlungen innerhalb der Arbeitszeit deklariert wurden. In den nächsten Jahren war der ÖGB hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, einerseits wegen der Umstrukturierung und Modernisierung, andererseits wegen des BAWAG-Debakels. Im Oktober 2005 wurde die Insolvenz des US-Groß-Brokers Refco erstmals bekannt und die Unabsehbarkeit der Folgen für die BAWAG als Hauptgläubigerin (Engel 2006, S. 20). Kund_innen fürchteten um ihre Einlagen. Der Umstand, dass sich ausgerechnet eine Arbeiternehmer_innenorganisation mit Investmentfonds (so genannten Heuschrecken ) einließ deren Ziel es ist, durch Käufe und Verkäufe aus Geld mehr Geld zu machen (landläufig Spekulation genannt), löste eine breite Diskussion aus. Den ÖGB-Funktionär_innen und den BAWAG-Manager_innen wurde ihr Glaube an den Kapitalismus zum Verhängnis. Sie befolgten die Propaganda des neoliberalen Kapitalismus der Selbstvermehrung von Geld ( Lassen Sie ihr Geld arbeiten, heißt es in einer Bankenwerbung). Dabei haben allerdings immer manche Pech und bleiben auf der Strecke. In den ersten Monaten des Jahres 2006 wurden laufend neue Details bekannt und es stellte sich heraus, dass schon seit den 1990er Jahren Schulden durch neuerliche fragwürdige Spekulationen gedeckt wurden ( Umschuldungen nennen das die Unternehmen). Das BAWAG-Management [ ] unternahm vielfältige Anstrengungen, die gewaltigen Verlustpositionen einerseits in einem Netzwerk internationaler Stiftungen und Anlagefirmen hin und her zu schieben, andererseits durch riskante Einzelgeschäfte und buchhalterische Aufwertungen zu reduzieren. (Engel 2006, S. 29) Im März 2006 wurde öffentlich, dass der ÖGB insgesamt und außerdem mit seinem geheim gehaltenen Streikfonds für die Schulden der BAWAG haftete, sowie die Mitverantwortung des ÖGB- Chefs Fritz Verzetnitsch für diese Haftung. Er trat am 27. März 2006 freiwillig zurück (Engel 2006, S. 30 f.). Als Demütigungsritual musste sich sein Nachfolger Rudolf Hundstorfer beim dama-

42 Robert Foltin ligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel für die Rettung der BAWAG durch den Staat bedanken (S. 12). Die bereits zuvor begonnenen Umstrukturierungen wurden jetzt auch unter der Prämisse von Einsparungen fortgesetzt. Die gesamte Strukturreform gilt als die Auseinandersetzung um zwei Konzepte: [d]er ÖGB als starke Zentrale mit einer größeren Anzahl Branchen-orientierter Töchter oder der ÖGB [als] nur eine relativ schwache, schlanke Holding [ ] unter der mehrere große Blöcke von fusionierten, eigenständigen Einzelgewerkschaften das Sagen haben (Engel 2006, S. 55). Am Gewerkschaftstag am 24. und 25. Juni 2006 in Wien konnte sich keines der Modelle durchsetzen. Die Fusionen der Gewerkschaften erfolgten daraufhin relativ willkürlich je nachdem welche Funktionär_innen zur Zusammenarbeit bereit waren. Die so entstandenen Strukturen können nicht als Branchen- oder Fachgewerkschaften gelten, sondern höchstens als Teilgewerkschaften des ÖGB. 20 Einen echten Schritt in Richtung Umstrukturierung, der auch das Aufgreifen von Problemen von prekären oder atypischen Arbeitsverhältnissen mit einschloss, stellte die Gründung von Interessengemeinschaften in der GPA (Gewerkschaft der Privatangestellten) dar: work@flex für Werkvertragsnehmer_innen und freie Dienstnehmer_ innen, work@professional für Fach- und Führungskräfte, work@it für Beschäftigte in Informationstechnik und Telekommunika tion, work@ social für Angestellte in sozialen Berufen, work@education für Erwachsenenbildner_innen und Berater_innen, work@external für Frauen 20 Fusionen: Mai 2006 die Gewerkschaften Metall-Textil und Agrar-Nahrung-Genuss werden zur Gewerkschaft Metall-Textil-Nahrung (GMTN). Dezember 2006 die Gewerkschaft der Eisenbahner (GdE), die Gewerkschaft Handel, Transport, Verkehr (HTV) und die Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe, Persönlicher Dienst (HGPD) werden zur vida. Jänner 2007 die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) und die Gewerkschaft Druck, Journalismus, Papier (DJP) werden zur GPA-DJP. Juni 2009 die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten (GdG) und die Gewerkschaft Kunst, Medien, Sport, freie Berufe (KMSfB) werden zur GdG-KMSfB. November 2009 die Gewerkschaft der Chemiearbeiter (GdC) und die GMTN werden zur Produktionsgewerkschaft (PRO-GE).

Keine Atempause 43 und Männer im Außendienst, sowie work@migration für Migrant_ innen (Engel 2006, S. 50). Nicht zufällig organisiert ein großer Teil der Interessengemeinschaften Bereiche, die an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen also solche Bereiche, in denen Normalarbeitsverhältnisse eine immer geringere Rolle spielen. Die Interessengemeinschaften stellen die einzigen Strukturen im ÖGB dar, die mit den Betroffenen selbst etwas machen wollen und nicht nur für sie (Engel 2006, S. 51). Von Selbstorganisation kann nicht gesprochen werden, die Strukturen sind jedoch näher an der differenzierten Lebensrealität ausgerichtet, wie sie sich in prekären Lebensweisen ausdrückt. Als eine der wenigen gewerkschaftlichen Strukturen suchen die GPA und insbesondere die IGs den Anschluss an soziale Bewegungen. So arbeitete work@flex zeitweise mit Mayday zusammen: Beispielsweise wurde am 29. und 30. März 2007 gemeinsam ein Seminar unter dem Titel Let s Organize veranstaltet. Viele Beschäftigungsverhältnisse in der Erwachsenenbildung oder der Sozialarbeit werden von Frauen dominiert. Darum setzen sich gerade Feministinnen oftmals mit prekären oder atypischen Arbeitsverhältnissen auseinander (vgl. regelmäßige Artikel in den an.schlägen). 21 Als hervorstechendes Beispiel für den Versuch der Organisierung rund um atypische Beschäftigungsverhältnisse wie auch für die zunehmende Bedeutung von Bildung und Wissen kann der Aktivismus der Externen Lektor_innen an den österreichischen Universitäten gelten. Mit steigenden Studierendenzahlen nimmt auch die Notwendigkeit der Betreuung von Studierenden zu, außerdem sind viele junge Akademiker_innen auf der Suche nach dem ersten Schritt in eine eventuelle zukünftige Karriere, wozu die Beschäftigung als externe Lektor_in eine der wenigen Möglichkeiten darstellt. Externe Lektor_innen betreuen Studierende und unterrichten (oft Einführungsveranstaltungen) dies jedoch unter 21 Eine Anekdote zur Bedeutung der prekären Arbeit: In fast allen politischen und politisch-theoretischen Kontexten dominieren Männer (als Mitglied der Redaktion der grundrisse kann ich davon ein Lied singen), wohingegen die Papers zum Kongress Entsicherungsgesellschaft. Aktuelle Debatten zu Prekarisierung im Mai 2007 hauptsächlich von Frauen geschrieben wurden.

44 Robert Foltin äußerst unsicheren Arbeitsbedingungen: Werkverträge oder Verträge für freie Dienstnehmer_innen; von Semester zu Semester völlige Unsicherheit über eine Verlängerung der Verträge (seit Jänner 2004 sind sie dazu verpflichtet schlecht bezahlte Angestelltenverhältnisse einzugehen). Ab 2000, vielleicht auch motiviert durch die Bewegung gegen Schwarz-Blau, gründete sich die IG Externe LektorInnen und freie WissenschaftlerInnen, um als erste Aktivität eine Resolution anlässlich der Regierungsbildung zu verfassen. Im Jahr 2002 wurde Anne Rambach, die ein Buch über die Prekarität des akademischen Lebens (Anne und Marine Rambach 2003: Les intellos précaires) verfasst hatte, das in Frankreich zum Bestseller avanciert war, von der IG eingeladen. 2003 beschreibt Andrea Ellmeier in einem Artikel (2003) die Situation der Wissenschaftler_innen und versucht eine weitergehende Organisierung der Prekären anzuregen (zu den Nachfolger_innen, den Squatting Teachers, vgl. unten). Aufgegriffen wird die Initiative zur Organisierung von Prekären in der Folge durch den Euro-Mayday (vgl. Griesser 2005). Die Euro-Mayday-Bewegung nahm ihren Anfang mit einer Aktion des Kollektivs Chainworkers (benannt nach internationalen Ketten wie McDonalds, deren Arbeiter_innen nicht mehr zur typischen Arbeiter_innenklasse gehören) in Mailand als Vorbereitung für die Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua. Am Nachmittag des 1. Mai wurde eine karnevaleske Parade auf die Beine gestellt (das Folgende nach Raunig 2008, S. 73 ff.). 2002 und 2003 erhöhte sich die Zahl der Teilnehmer_innen von einigen hundert auf einige tausend. Der Mayday wurde mittlerweile als europäisches Projekt gesehen und 2004 auch in Barcelona eine Parade als Gegenpol zu einem offiziellen kulturellen Forum abgehalten. In diesen beiden Städten demonstrierten Zehntausende und ab 2005 breitete sich diese Idee in Europa aus. Durch unterschiedliche Formen von kleinen Kundgebungen bis hin zu riesigen Demonstrationen gelang es, prekär Arbeitende und Lebende sichtbar zu machen. Ab 2005 wurden auch in Wien Mayday-Paraden organisiert, die auf langen und verschlungenen Wegen durch die Bezirke wanderten und an denen zwischen 2005 und 2008 einige tausend Teilnehmer_ innen auf der Straße demonstrierten und tanzten. Die Beteiligung reichte von Anarchist_innen über Techno-Fans bis hin zu (wenigen)

Keine Atempause 45 Gewerkschaftler_innen. 2005 bewegte sich ein langer Marsch zwischen dem Mexikoplatz im 2. Bezirk und dem Karlsplatz. An verschiedenen Stationen wurden prekäre Arbeits- und Lebensweisen thematisiert. 2006 begann die Demonstration am Yppen platz in Otta kring und endete im einige Monate zuvor besetzten Bacherpark im 5. Bezirk. Auf dem Weg provozierte die Polizei Auseinandersetzungen, indem sie versuchte, Menschen festzunehmen, die ein Transparent an das AMS (Arbeitsmarktservice) Redergasse hängten. Auch in Linz, Innsbruck und Salzburg wurde demonstriert und interveniert. 2007 begann die Parade am Viktor-Adler-Markt im 10. Bezirk und endete wieder am Karlsplatz. 2008 nahm die Mayday-Parade beim Marcus-Omofuma-Denkmal 22 beim Museumsquartier ihren Anfang und führte bis zur Pankahyttn im 15. Bezirk. Die Scheiben des Containers der Sozialarbeiter_innen dort wurden eingeschlagen, zwei Personen in Auseinandersetzungen mit der Polizei festgenommen. Der Euro-Mayday thematisierte Probleme, an denen soziale Konflikte aufbrachen und aufbrechen, wie Rassismus und Antirassismus (Omofuma-Denkmal), Stadtentwicklung (Bacherpark) oder Hausbesetzungen und Ausgrenzung (Pankahyttn). Die Mayday- Parade wurde in Wien zwar angenommen und als Demonstration konsumiert, sie führte allerdings nicht zu einer stärkeren Vernetzung der Prekären, was eines der ursprünglichen Ziele des Mayday war. Da sich zu wenige Aktivist_innen in der Vorbereitungsgruppe engagierten, wurde die Parade 2009 aufgegeben und stattdessen das so genannte PrekärCafé als kontinuierliche Veranstaltungsreihe gegründet. Erst 2011 sollte es wieder eine Mayday-Parade geben. Feminismus, immer wieder notwendig In der Zusammensetzung der rechten Regierung nach 2000 zeigte sich ein vermeintlich paradoxes Phänomen. Obwohl gerade in ÖVP und FPÖ in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und Fami- 22 Marcus Omofuma erstickte am 1. Mai 1999 während seiner Deportation nach Nigeria, weil ihm Beamt_innen den Mund verklebten (Foltin 2004, S. 239). Der Gedenkstein der Bildhauerin Ulrike Truger wurde am 10. Oktober 2003 illegal vor der Staatsoper aufgestellt, am 17. November dann offiziell an der Mariahilfer Straße beim Museumsquartier.