Projekt Früh e Förderung Qualitätsentwicklung Frühe Förderung Dokumentation für Sinnesgeschädigte und Kinder mit komplexer Behinderung (KmE, Gg)



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Teil I - Standortbestimmung 1 Das Projekt Früh e Förderung Das Projekt Früh e Förderung ist aus einer Zusammenarbeit der Oberen Schulaufsicht sonderpädagogische Förderung der Bezirksregierungen Köln und Detmold mit dem Lehrstuhl für Bewegungserziehung und therapie der Universität zu Köln entstanden. Der Auftrag umfasst die Qualitätsentwicklung Früher Förderung an den Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Hören und Kommunikation, Sehen, Körperliche und motorische Entwicklung sowie Geistige Entwicklung. Diese Aufgabe wurde übertragen an ein Projekt- Team, bestehend aus einer Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Bewegungserziehung und therapie, einer Sonderschullehrerin aus der Frühförderung der Förderschule, Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, Köln, sowie einer Sonderschullehrerin der Primarstufe der Förderschule, Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung, Paderborn. Der Projektname Früh e Förderung stellt eine inhaltliche Verbindung der schulischen Frühförderung Sinnesgeschädigter mit der Frühen Förderung von Kindern mit komplexer Behinderung dar, unter Einbeziehung der Übergangsgestaltung vom Elementarbereich in die Primarstufe. Abb. 1: Projektauftrag 2

e Projekt Früh Förderung Qualitätsentwicklung Frühe Förderung 1.1 Projektverlauf Überblick Die Durchführung des Projektes erfolgte in der Zeit vom 1. Februar 2009 bis Juli 2011. e Abb. 2: Projektphasen (Projekt Früh Förderung) 1.2 Projektbeschreibung Kurzvorstellung Im Rahmen der schulischen Frühförderung und der sich verändernden Lehrerausbildung stellt sich die Frage, inwieweit der Stellenwert des Themas Frühförderung in der ersten und zweiten Ausbildungsphase sowie im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten ausreicht, den Anforderungen der vielfältigen schulischen Aufgaben gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang werden im Projekt FrüheFörderung die vorhandenen Strukturen und Inhalte für die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte im Bereich sonderpädagogischer Früher Förderung analysiert. Ziel ist die Ergänzung bzw. Veränderung der Aus- und Weiterbildung zur Professionalisierung der Lehrkräfte und Qualitätsentwicklung Früher Förderung. 3

Abb. 3: Darstellung der Projektidee (Projekt Früh e Förderung) Qualitätsentwicklung in der Frühen Förderung bedarf einer koordinierten, verlässlichen Zusammenarbeit von Vertretern der Universität zu Köln, Studienseminaren und Förderschulen der Bezirksregierungen Köln und Detmold, um über eine stärkere Verzahnung von Theorie und Praxis ein hohes Maß an Professionalität in der Frühen Förderung zu gewährleisten. Die derzeitige Situation in der Ausbildung und der Frühförderung erfordert, die vorhandenen Strukturen in Frage zu stellen und bedarfsorientiert anzupassen. Inhaltlich müssen Kernkompetenzen für den schulischen Aufgabenbereich Frühe Förderung neu akzentuiert und festgelegt werden. Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen: 1. Welche Kernkompetenzen sind es, die uns auf die Arbeit in der Frühförderung vorbereiten und langfristig in unserer Professionalität unterstützen? 2. Wie sind Inhalte Früher Förderung in der ersten und zweiten Ausbildungsphase präsentiert? Welchen Stellenwert hat Frühförderung in diesem Zusammenhang? 3. Welche Fortbildungsangebote zu Inhalten Früher Förderung können über die Bezirksregierungen und den Kompetenzteams der Schulämter abgerufen werden? 4

4. Wie kann die Gestaltung des Übergangs vom Elementar- in den Primarbereich als Auftrag der Förderschulen, Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung sowie Geistige Entwicklung bewusst gemacht und installiert werden? 5. Wer schafft die notwendigen Rahmenbedingungen und Verbindlichkeiten, damit die Qualität Früher Förderung entwickelt und nachhaltig gesichert wird? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen führt zu Erwartungen an die Universität, Anregungen für die Studienseminare, Empfehlungen für die Förderschulen und Anforderungen an die zuständigen Ministerien und Bezirksregierungen. 2 Frühförderung in NRW Frühförderung wendet sich an behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder von der Geburt bis zum Übergang in eine andere dem Kind angemessene Form der Förderung. Der Familie bietet sie Stützung und Stabilisierung, Beratung und Anleitung (Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherheit 2005, 2). Ziele und Inhalte von Frühförderung sind sowohl auf das Kind als auch die Eltern und andere Erziehungsberechtigte bezogen. Im Gegensatz zu therapeutischen Angeboten, deren Ziel die Behandlung von Erkrankungen (...) ist, zielt die pädagogische Frühförderung auf die Begleitung (...) und die Förderung von Kompetenzen des Kindes und der Eltern (Pretis 2005, 16). Als Arbeitsprinzipien sind die vier Maxime Ganzheitlichkeit, Familienorientierung, Interdisziplinarität, Vernetzung tragend (vgl. hierzu u.a. Thurmair, Naggl 2007, 22ff.) Abb. 4: Arbeitsfeld Frühförderung (Projekt Früh e Förderung) 5

Abhängig vom individuellen Förderbedarf des Kindes können sich Eltern an eine Einrichtung der allgemeinen und/oder speziellen Frühförderung wenden. Wie unten noch ausgeführt wird, sind die verschiedenen Organisationsformen der Frühförderung, trotz bestehender inhaltlicher Gemeinsamkeiten, kein Einheitsmodell (Sarimski 2009, 10). Verschiedene Institutionen mit differenziert ausgeprägtem Profil nehmen sich dieser Aufgabe z. T. parallel an (siehe hierzu u.a. Behindertenbeauftragter der Bundesregierung 2009; Weiß et al. 2004). Dies führt häufig zu Missverständnissen bei der Frage nach institutioneller Zuständigkeit, strukturellen Rahmenbedingungen und inhaltlicher Schwerpunktsetzung. 2.1 Begriffsbestimmung und Einordnung Um allen Kindern möglichst optimale Entwicklungschancen zu bieten (LVR 2005) finden sich neben der allgemeinen Frühförderung und den Einrichtungen zur medizinischen Behandlung und Versorgung behinderter Kinder pädagogische Angebote durch die vom Landschaftsverband eingerichteten Frühförderstellen an den Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation sowie Sehen. Zum besseren Verständnis der konzeptionellen Überlegungen des Projektes Früh e Förderung sollen die institutionellen Unterschiede von allgemeiner Frühförderung und spezieller Frühförderung, der Frühförderung für Sinnesgeschädigte Kinder, im Folgenden kurz dargestellt werden. Die allgemeine Frühförderung, entstanden Mitte der 70er Jahre, richtet sich an entwicklungsgefährdete oder entwicklungsverzögerte Kinder kognitiver, motorischer und/oder sozial-emotionaler Beeinträchtigungen. Sie erfolgt auf Verordnung eines niedergelassenen Kinderarztes nach Genehmigung der Kostenträger auf der Grundlage eines Förder- und Behandlungsplans. Die Finanzierung teilen sich die zuständigen Krankenversicherungen und Sozialhilfeträger. Gesetzlich festgelegt als Komplexleistung (SGB IX) versteht sie sich als ein interdisziplinäres Angebot, medizinisch-therapeutische und heilpädagogische Leistungen umfassend. Die Förderung über ärztlich geleitete Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) findet ausschließlich ambulant statt. Regionale Frühförderstellen, in privater oder öffentlicher Trägerschaft unter pädagogischer Leitung, arbeiten ambulant oder mobil-aufsuchend. In den Teams der Frühförderstellen sind unterschiedliche berufliche Disziplinen vertreten, bestehend u.a. aus Heil-, Diplom oder Sozialpädagogen, Therapeuten (wie z.b. Logopäden, Ergotherapeuten, Krankengymnasten), Kinderärzten, Psychologen. Zum klassischen Bestandteil der 6

allgemeinen Frühförderung gehören Angebote der Förderung und Behandlung (Thurmair, Naggl 2007, 83). Die Frühförderung endet mit dem Eintritt des Kindes in einen Sonderkindergarten, eine integrative oder heilpädagogische Kindertagesstätte, oder kann bei Besuch eines regulären Kindergartens bis zum Ende der Kindergartenzeit fortgeführt werden. Die Frühförderung von Kindern mit einer Sinnesschädigung ist eine spezialisierte Form. Sie existiert bereits seit Ende der 50er Jahre. Anspruchsberechtigt sind Familien mit einem hör- oder sehgeschädigten Kind und hörende Kinder gehörloser Eltern. In NRW ist die Frühförderung Sinnesgeschädigter ein Aufgabenbereich der Förderschulen Hören und Kommunikation bzw. Sehen. Die Durchführung der Frühförderung obliegt den mit dieser Aufgabe betrauten Sonderpädagoginnen. Über die den Förderschulen angegliederten Beratungsstellen wird von den Eltern die Frühförderung beantragt. Die Genehmigung erteilt die Schulaufsicht anhand eines sonderpädagogischen Gutachtens unter Einbeziehung der fachärztlichen Diagnose und amtsärztlichen Bestätigung. Die sonderpädagogische Frühförderung findet überregional, entsprechend des Schuleinzugsgebietes, in Absprache mit den Beteiligten als Hausfrühförderung oder in der Beratungsstelle bzw. in einem allgemeinen, integrativen oder heilpädagogischen Kindergarten statt. Die Frühförderung Sinnesgeschädigter erfolgt rezeptfrei, bei Bedarf kontinuierlich von der Diagnosestellung bis zur Einschulung in die Primarstufe der Regel- oder Förderschule. 7

Der strukturelle Verlauf der beiden Frühfördersysteme, von der Erkennung bis zum Abschluss, stellt sich wie folgt dar: Allgemeine Frühförderung in NRW für Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten und Behinderungen (0-3 bzw. 6 Jahre) Frühförderung für Sinnesgeschädigte Kinder in NRW (0-6 Jahre) Abb. 5: Das allgemeine und spezielle Frühfördersystem in NRW (Projekt Früh e Förderung) Allgemeine und spezielle Frühförderung sind als voneinander unabhängige Institutionen zu verstehen, die sich im Bedarfsfall ergänzen. Kooperation findet einzelfallbezogen und mit Vertretern im Rahmen von Arbeitskreistreffen statt. Überlegungen im Rahmen des Projektes beziehen sich ausschließlich auf die spezielle Form der Frühförderung, die Frühförderung für Sinnesgeschädigte, da nur diese in den Zuständigkeitsbereich der Bezirksregierungen fällt. Für die (Weiter-) Entwicklung der Frühen Förderung von Kindern mit komplexer Behinderung in den Bereichen Körperlich-motorische und Geistige Entwicklung müssen im Sinne der Qualitätsentwicklung und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen neue Wege gesucht werden. In den folgenden Kapiteln wird dieser Überlegung weiter nachgegangen sowie Empfehlungen zur Umsetzung ausgesprochen. 8

2.2 Gesetzliche Ausgangslage im Bereich der Frühen Förderung: (Un-)Verbindlichkeiten und offene Fragen Grundlegende Modifikationen in den Bereichen der Frühen Förderung von Sinnesgeschädigten sowie Kindern mit komplexer Behinderung der Förderschwerpunkte Körperlichmotorische und Geistige Entwicklung unterliegen der bestehenden gesetzlichen Ausgangslage. Diese berücksichtigend ist zu klären, inwieweit relevante Aspekte Früher Förderung unter qualitativen Gesichtspunkten einbezogen wurden. Zwei Fragestellungen sind zu diesem Zweck in der weiteren Auseinandersetzung bestimmend: a) Welche gesetzlichen Vorgaben sind in diesem Zusammenhang bindend? b) Welche Fragen bleiben im Hinblick auf die Qualitätsentwicklung Früher Förderung unbeantwortet? Frühförderung Sinnesgeschädigter Im Rahmen der Neuordnung der sonderpädagogischen Förderung ist die Frühförderung für Sinnesgeschädigte in NRW seit 2005 schulgesetzlich verankert (Schulgesetz NRW, 19 Abs. 5 SchulG). Sie war, ist und bleibt somit ein wichtiger Aufgabenbereich der Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation und Sehen. Wie werden Studierende, Lehramtsanwärter und Sonderschullehrkräfte auf diesen Aufgabenbereich vorbereitet? In welchem Umfang sind Inhalte zur Frühen Förderung im Studium und der Zweiten Ausbildungsphase verankert? Wodurch werden für die in der Frühförderung tätigen Sonderschullehrkräfte qualitative Fortbildungsmaßnahmen gewährleistet? Allgemeine Frühförderung Im Jahr 2005 ist in Nordrhein-Westfalen die Landesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförderungsverordnung des Bundes (FrühV) in Kraft getreten. Eine Betreuung von Kindern in integrativen oder heilpädagogischen Kindergärten und damit eine kontinuierliche Begleitung der Familien durch die Frühförderung bis zum Eintritt in die Schule ist, wie aus Abb. 5 ersichtlich, weiterhin nicht vorgesehen. Eine Fortführung der Frühförderung im Regelkindergarten ist möglich. Die Begleitung in die Schule findet systembedingt nicht statt. Der Kontakt zur aufnehmenden Schule beginnt frühestens im Rahmen der Durchführung des AO-SF. 9

Wie kann eine sonderpädagogische Begleitung bei Bedarf auch für Familien mit Kindern mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische oder Geistige Entwicklung bereits im vorschulischen Bereich, insbesondere im Hinblick auf den Übergang vom Kindergarten in die Schule, ermöglicht werden? Wer stellt die erforderlichen zeitlichen und personellen Ressourcen zur Verfügung? UN-Konvention Im Zuge der gesetzlich vorgeschriebenen Umsetzung der UN-Konvention vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bekommt der Präventionsauftrag neue Gewichtung. Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderung betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist (UN-Konvention 2008, Artikel 7 Abs. 2). Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung zieht die Forderung eines inklusiven Bildungssystems vom Elementar- bis in den Hochschulbereich nach sich. ALLE Kinder sollen für ihre bestmögliche Entwicklung und erfolgreiche Bildung die hierzu erforderliche individuelle Unterstützung erhalten (vgl. UN- Konvention 2008, Artikel 24 Abs. 2). Inklusive Bildungsangebote erfordern hochqualifizierte sonderpädagogische Kompetenz (vgl. Verband Sonderpädagogik e.v. 2010, 2). Das Übereinkommen ist gesetzlich verankert, die Rahmenbedingungen gilt es noch festzulegen. Der von der Menschenrechtskonvention ausgehende Impuls wird für die Frühpädagogik hoch eingeschätzt (vgl. Prengel 2010, 18.) Auch Fachverbände sehen Frühförderung in diesem Zusammenhang als Inklusion von Anfang an (Verbände der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten Selbsthilfe und Fachverbände e.v. 2010, S. 80). Wodurch kann die sonderpädagogische Frühförderung den Prozess der Inklusion stützen? Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung Seit dem Schuljahr 2008/2009 ist auf der Grundlage einer Schulgesetzänderung die Bildung von Kompetenzzentren ermöglicht worden. Der Schulträger kann Förderschulen zu Kompetenzzentren für die sonderpädagogische Förderung ausbauen. Sie dienen (...) Angeboten zur Diagnose, Beratung und ortsnahen präventiven Förderung (SchulG 20 Abs5). Die gegründeten Kompetenzzentren befinden sich noch bis zum Jahr 2013 in der Pilotphase. Welche neuen Verbindlichkeiten dadurch entstehen, ist noch nicht 10

vollständig festgelegt. Wird Frühe Förderung als ein neuer wichtiger Aufgabenbereich der Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Körperlich-motorische oder Geistige Entwicklung gesehen? Welche Konsequenzen ziehen die für die Aus- und Weiterbildung Verantwortlichen aus dieser Entwicklung? Bildungsplan NRW Der Entwurf des Bildungsplans 0-10 Jahren betont die Bedeutung von Kontinuität im Bildungsprozess und erwartet deren individuelle Gestaltung (vgl. hierzu Ministerium für Schule und Weiterbildung 2010). Dies ist im Hinblick auf den Übergang vom Kindergarten in die Schule von besonderer Bedeutung und impliziert einen Ausgleich bei beeinträchtigenden Unterschieden. Die verbindliche Einführung der Grundsätze, die für alle an Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern Beteiligten eine fachliche Grundlage bieten sollen, ist ab dem Jahr 2012 geplant. Wodurch kann dieser Anspruch auch für Kinder mit Förderbedarf im Bereich Körperlich-motorische oder Geistige Entwicklung gewährleistet werden? Wer übernimmt die Schaffung und Organisation der hierzu erforderlichen Strukturen? 2.3 Abgeleitete Konsequenzen Sonderpädagogisches Handeln ist nicht ausschließlich durch die Gestaltung von Fördersituationen und Unterricht gekennzeichnet, sondern vielfältig, von der Frühförderung bis zu Prozessen lebenslangen Lernens (Schumann et al 2009, 109f.). Diese Weiterentwicklung der Sonderpädagogik und der gesetzlichen Grundlagen lässt Überlegungen zur Qualitätsentwicklung in der Frühförderung Sinnesgeschädigter und Frühen Förderung von Kindern mit komplexer Behinderung der Förderschwerpunkte KmE und Gg dringlicher denn je erscheinen. Für die praktische Umsetzung fehlt es an Vorschlägen. Im Sinne qualitativen Handelns in der Sonderpädagogik müssen deshalb gesetzlich legitimierte Aufträge mit Anforderungen der Praxis verglichen und bei Bedarf im Rahmen der Qualitätsentwicklung ergänzt werden. Sollten daraus Neugestaltungen resultieren, ist es der Sache dienlich, wenn alle Beteiligten diese mittragen. Für eine Professionalisierung ist 11

eine enge Zusammenarbeit von Verantwortlichen und Interessenvertretern unumgänglich, auch um entsprechende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen vorzusehen. Gegenwärtig fehlt neben den rechtlichen Vorgaben noch die Verbindlichkeit in der Lehrerbildung. Eine gute Verzahnung von Aus-, Fort- und Weiterbildung in allen Lehrämtern und anderen beteiligten pädagogischen und therapeutischen Berufen ist daher unabdingbar (Verband Sonderpädagogik e.v. 2010). 12