Was sind Texte? [Work in progress] Alois Pichler Innsbruck,

Transkript

1 Was sind Texte? [Work in progress] Alois Pichler Innsbruck,

2 Was ich hier versuchen möchte 1. Dinge, Eigenschaften, Zustände, Ereignisse...: Texte sind (mentale) Ereignisse 2. Texte sind Handlungen 3. Texte sind Handlungen, die von mehr als einem Handelnden hervorgebracht und getragen werden Texte sind gemeinsame (von wenigstens zwei Handelnden hervorgebrachte) Handlungen (vgl. den Fall des Heiratens) 4. Ein Text hat folgende Träger: Dokument + Autor + Leser Oft sagt man: «Texte sind Mittel zur Durchführung von kommunikativen Handlungen». Ich möchte sagen: «Dokumente sind Mittel zur Durchführung von kommunikativen Handlungen Texte sind die kommunikativen Handlungen selbst.»

3 Der Plan 1. Dokumentträger Dokument Text 2. Schreiben "Texten" 3. Zeichen Symbol 1.Dinge, Eigenschaften, Ereignisse 2.Texte als Dinge Texte als Typen Die FRBR-Ontologie Texte als immaterielle Dinge 3.Texte als Eigenschaften 4.Bestandsaufnahme Warum Texte eher nicht Dinge sind Warum Texte eher nicht Eigenschaften sind 5.Texte als Ereignisse 5.1 Texte als Handlungen Texte als gemeinsame Handlungen I. Definitionen und Unterscheidungen II. Ontologie 3

4 I. Ein paar Definitionen und Unterscheidungen

5 1. Dokumentträger Dokument Text 5

6 Dokument Dokumentträger Dokumentträger: Pergament, Papier, Holz, Steine, Computer, Tablet, Handy,... Sowohl Artefakte (z.b. Papier) als auch natürliche Dinge (z.b. Bäume) können Dokumentträger sein. Dokumente: Das Zeicheninventar auf einem Dokumentträger. Dokumente sind Artefakte. Kann der Wind ein Dokument im Kornfeld produzieren? Nein. 6

7 Dokument Text Der Ausdruck Text wird oft für materielle Dinge wie Dokumente oder sogar Dokumentträger verwendet (= Text im Sinne (1)) - Text wird aber auch für abstrakte / immaterielle Entitäten verwendet (= Text im Sinne (2)) Text (2) Dokument / Dokumentträger 7

8 Text (2) Das Gedicht gibt es in einer handgeschriebenen und einer getippten Überlieferung. Warte nicht erschiessen! Synonymie, Rechtschreibungsvarianten (unterschiedliche Dokumente derselbe Text) Homonymie / Polysemie (dasselbe Dokument verschiedene Texte) 8

9 Text Dokument Dokumentträger Eine Veränderung im Dokument impliziert auch eine Veränderung im Dokumentträger. Eine Veränderung im Dokumentträger kann, muss aber nicht auch eine Veränderung im Dokument implizieren. Eine Veränderung im Dokument braucht nicht unbedingt eine Veränderung im Text zu implizieren. Eine Veränderung im Text braucht nicht eine Entsprechung im Dokument oder Dokumentträger zu haben. Vgl. «Warte nicht erschiessen!»

10 In dieser Veranstaltung geht es um Text (2). Dokument Intuition: Dokumente sind konkrete (raum-zeitliche) und materielle Dinge. Dokumentträger Intuition: Dokumentträger sind konkrete (raumzeitliche) und materielle Dinge. Was ist Text (2)? 10

11 2. Schreiben vs. «Texten» 11

12 Schreiben = Die Produktion von Ist eine Handlung. Dokumenten Ist eine Basishandlung, zumindest was seine physischen Bewegungsteile angeht. (Schreiben wird nicht durch eine andere Handlung vollzogen.) Produziert ein endliches und konkretes und materielles Resultat: das Geschriebene (= «Dokument»). Braucht nicht mehr als einen agent (= Verfasser). Braucht nicht verstehendes Schreiben zu sein (so wie Lesen nicht verstehendes Lesen zu sein braucht) Können Dokumente von AI produziert werden? Computer können nicht handeln also können sie nicht schreiben = Dokumente produzieren? 12

13 Dokumente Dokumente sind das Resultat von Schreiben und abgeschlossene und konkrete und materielle Dinge. Einwand / Frage: Können wir nicht auch von gesprochenen Dokumenten reden? Und die sind doch nicht Dinge??? 13

14 «Texten» = Die Produktion von Texten Ist keine Basishandlung, sondern setzt die Basishandlungen Schreiben und Lesen voraus. NB: Ich klammere hier Texten beim Sprechen / Hören aus. Ist wesentlcih mental. Hat ein mentales, konkretes (raum-zeitliches), aber immaterielles Resultat. Hat ein Resultat, das typischerweise «instabil» und nicht-abgeschlossen ist. Der Text kann sich mit jeder Lesehandlung ändern. Hat ein Resultat, das sowohl räumlich als auch zeitlich diskontinuierlich sein kann. Der Text kann seine Existenz unterbrechen (kann aufhören zu existieren und später wieder zu existieren beginnen der selbe Text!). Hat eine Mehrzahl von agents (die natürlich in ein und derselben Person zusammenfallen können): Verfasser und Leser. Ist eine gemeinsame, unter mehreren agents verteilte Handlung. -> Texten Schreiben!!! 14

15 Texte Texte sind instabile, potentiell sich kontinuierlich entwickelnde / verändernde, z.t. auch pausierende mentale Entitäten, welche aus Handlungen resultieren, die von Verfassern und Lesern (also mehr als nur einem agent) auf der Basis von Dokumenten vorgenommen werden. Sind Texte Dinge? 15

16 3. Zeichen Symbol

17 Bedeutung Das Symbol ist das Zeichen mit Bedeutung.* Wie kommt das Zeichen zur Bedeutung? Durch Zeichen verarbeitende / verstehende Menschen. Dokumente sind Zeichen Texte sind Symbole. *L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus #3.32 a.o.; Big Typescript Ch. I a.o.; Philosophical Investigations 1, 81, 432 a.o.

18 II. Ontologie So, welche Art von Entitäten sind Texte (2)? 18

19 1. Dinge, Eigenschaften und Ereignisse 19

20 Ding vs. Ereignis Ding: 3-, nicht 4-dimensionale Entität Deswegen persistieren Dinge sie bleiben das selbe Ding, auch wenn die Zeit vergeht. Zeit ist nicht eine ihrer Dimensionen. Dinge (räumliche Entitäten) vs. Ereignisse (raum-zeitliche Entitäten) 20

21 Ding vs. Eigenschaft Ein Ding kann mehrere und sogar miteinander kontrastierende Eigenschaften annehmen, ohne notwendigerweise ein anderes / eine andere Art von Ding zu werden. Der Ofen bleibt der selbe Ofen, auch wenn er warm wird und dann wieder kalt wird. Aristoteles: Substanz Akzidenz Substantielle Veränderung Akzidentelle Veränderung Eigenschaften werden oft als Universalien aufgefasst. 21

22 2. Sind Texte Dinge? 22

23 Wiederholung: Wir haben es hier mit wenigstens drei Entitäten zu tun Dokumentträger: Sind konkrete und materielle Dinge (z..b. ein Blatt Papier); sind particulars raum-zeitliche Individuen. Sind umgangsprachlich «Textträger» - Träger von Texten im Sinne von Dokumenten, aber auch im Sinne von von Texten (2) (vgl. «Textzeugen» bezeugen nicht nur Dokumente, sondern auch Texte im Sinne von (2)). Dokumente: Sind konkrete und materielle Dinge (z..b. Zeichen auf dem Blatt Papier); sind particulars raum-zeitliche Individuen. Sind einer der «Textträger» im Sinne von (2). Texte: Sind Texte (im Sinne von (2)) Dinge? 23

24 Text als abstrakter Gegenstand im Sinne von type 24

25 Die OHCO These: Text als (abstrakter) Gegenstand i.s. von type The authors argue that text is best represented as an ordered hierarchy of content object (OHCO), because that is what text really is. (DeRose, Durand, Mylonas, Renear 1990) 25

26 Renear 1999: Texte sind Dinge (Objekte) S. Hockey, A. Renear, J.J. McGann 1999: Panel: What is text? A debate on the philosophical and epistemological nature of text in the light of humanities computing research 1. Position statement from Renear I will present and defend a particular view of textuality. this view is not only a rather good account of textuality, it is the best account we have. I will advocate this theory by defending five theses; I will argue that texts are: real: they have properties independent of our interests in them and our theories about them. abstract: the objects which constitute texts are abstract, not material, objects. intentional: texts are, necessarily, the product of mental acts hierarchical: the structure of texts is fundamentally hierarchical linguistic: texts are linguistic objects; renditional features are not parts of texts, and therefore not proper locations for textual meaning. 26

27 Die FRBR (Functional Requirements for Bibliographic Records) Ontologie Work (type) the intellectual / artistic object as such; the text as abstract object prior to expression. Wittgensteins Tractatus vs. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen Expression (type) the intellectual / artistic object as soon as it takes on a form; the text as abstract object, but expressed. Wittgensteins Tractatus vs. Wittgensteins Proto-Tractatus. Manifestation (type) an expression as it manifests itself in the object type of a physical embodiment; the document as abstract object. The difference between the 1922 and the 1966 edition of the Tractatus is on the level of manifestation. Item (token; a concrete object, particular) a manifestation as it is embodied in a specific object token; the document as concrete object. The difference between my own copy of the 1966 Tractatus edition and Rune s copy (same edition, same impression) is on the level of physical item. 27

28 A. Renear: 28

29 Text als abstrakter Gegenstand i.s. von immaterieller Gegenstand 29

30 3. Texte als Eigenschaften 30

31 Wenn Text eine Eigenschaft ist ist es eine Eigenschaft des Dokuments oder eine Eigenschaft des Dokumentträgers?* Veränderungen im Dokumentträger führen zu Veränderungen im Text nur dann, wenn sie auch Veränderungen im Dokument mit sich bringen. Wenn Text eine Eigenschaft von entweder dem Dokumentträger oder dem Dokument ist, dann ist Text also eher eine Eigenschaft des Dokuments. *Wir sehen einmal davon ab, dass Text auch die Eigenschaft von etwas anderem sein kann. 31

32 Wenn Texte Eigenschaften von Dokumenten sind, dann kann ein und dasselbe Dokument verschiedene Text- Eigenschaften annehmen (Homonymie): Diachronisch: Ein und dasselbe Dokument kann im Verlaufe der Zeit verschiedene Interpretationen bekommen. Synchronisch: Ein und dasselbe Dokument kann zum gleichen Zeitpunkt verschiedene Interpretationen bekommen. kann dieselbe Text -Eigenschaft in verschiedenen Dokumenten instantiiert sein (Synonymie): Das Gedicht gibt es in einer handgeschriebenen und einer getippten Überlieferung. Hört sich nicht schlecht an! 32

33 NB: Dokumente als Eigenschaften von Text wäre auch eine Möglichkeit! Wenn Dokumente Eigenschaften von Texten sein können sollen, dann muss es möglich sein, dass ein und derselbe Text verschiedene Dokumente als seine Eigenschaften annehmen kann. Das Gedicht gibt es in einer handgeschriebenen und einer getippten Überlieferung. Synonymie Vgl. FRBR-Ontologie 33

34 4. Bestandsaufnahme 34

35 Warum Texte eher nicht abstrakte (inkl. immaterielle) Gegenstände sind 35

36 Texte können ihre Existenz unterbrechen Gegenstände sind im Gegensatz zu Texten eher durch Stabilität, Kontinuität und synchrone und diachrone Identität gekennzeichnet. Gegenstände pausieren eher nicht in ihrem Existieren. Christian Kanzian: Aber siehe Artefakte! Die können pausieren und später wieder als derselbe Gegenstand fortsetzen!

37 Falls Texte Gegenstände sind, sind sie entweder abstrakte oder immaterielle Gegenstände Abstrakte Gegenstände verändern sich nicht und existieren nicht in Zeit und Raum Texte aber schon. Abstrakte Gegenstände haben auch nicht «kausale Wirksamkeit» («causal powers»). Texte haben Veränderung und kausale Wirksamkeit als wesentliche Ingredienzen.

38 Falls Texte Gegenstände sind, sind sie entweder abstrakte oder immaterielle Gegenstände Wenn Texte immaterielle Objekte sind, dann bekommen wir zwei Objekte: Erstes Objekt: Das materielle Dokument-Objekt (ein particular). Zweites Objekt: Das immaterielle Text-Objekt (ein particular). Wie sollen wir uns die Verbindung zwischen den beiden denken? Nicht wie die Beziehung zwischen Objekt und Eigenschaft (ob Eigenschaften nun universals oder particulars sind). 38

39 Dimension der Veränderung Christian Kanzian: «Dinge sind zu jedem Zeitpunkt voll da.» Sind Texte zu einem bestimmten Zeitpunkt voll da? Nein, sie entwickeln / verändern sich beständig. Texte sind eher nicht Dinge.

40 Warum Texte eher nicht Eigenschaften sind 40

41 Eigenschaften, verstanden als universals / particulars Texte existieren in Raum und Zeit. Eigenschaften als universals auch? Texte unterlaufen Änderung. Eigenschaften als universals auch? Texte können ihre Existenz pausieren (can have temporal gaps). Eigenschaften als universals auch? Texte können selber Eigenschaften haben. Können Eigenschaften Eigenschaften haben? Wenn Texte Eigenschaften sind, dann wären sie Eigenschaften, die in keinem einzelnen Objekt vollends existieren, sondern zwischen mehreren Objekten (dem Verfasser, Dokument und Leser) (molekülartig?) verteilt sind. Trifft so etwas auch auf Eigenschaften zu?

42 Was wir brauchen ist 42

43 eine Art von Entität die Veränderung als wesentliche Ingredienz hat. Texte sind instabile und veränderliche Entitäten. In Zeit existiert. Texte haben einen Anfang in Zeit. In Raum existiert. Texte (Schreib- und Lese-Verstehensakte) geschehen in Raum, z.b. im Büro. Sowohl räumlich als auch zeitlich diskontinuierlich sein kann. Texte können nicht nur räumlich «verteilt» sein, sondern auch ihre Existenz in Zeit pausieren (und sie nachher wieder aufnehmen). Von materiellen Dingen als ihren Substraten abhängig ist. Texte brauchen Dokumente und Autoren / Leser als ihre Träger. Das Resultat von menschlichem Handeln sein kann. Texte resultieren aus «Texten», welches von Menschen getan wird. Selber «kausale Wirksamkeit» hat. Texte haben «kausale Wirksamkeit». Mental sein kann. Texte sind mental. Von menschlichem Verstehen co-konstituiert ist. Texte sind co-konstituiert von menschlichen Verstehensakten. Eigenschaften haben kann. Texte haben Eigenschaften. (NB: Layout ist keine Eigenschaft von Texten.) Selber eher nicht eine Eigenschaft ist. Selber eher nicht ein Gegenstand / Ding / object ist.

44 Räumlich und zeitlich diskontinuierlich Es hat gestern nachmittag in Innsbruck geregnet. Räumlich diskontinuierlich: Es regnete in Sieglanger, aber nicht in Amras. Zeitlich diskontinuierlich: Es hat 13:00-14:00, 15:30-16:00, 16:15-17:00 geregnet. Auf welche Art von Entität bezieht sich «Es hat gestern nachmittag in Innsbruck geregnet.»?

45 5. Texte als Ereignisse 45

46 Ereignisse sind nie als ganze da Christian Kanzian: «Das Ereignis ist nie als ganzes da, immer nur in Teilen, in Phasen.» Texte sind zu keinem bestimmten Zeitpunkt als ganze da sie sind immer nur in Teilen, Phasen da. Siehe Hermeneutik!

47 Warum passt vielleicht die «Ereignis»- Kategorie auf Texte? Ereignisse Haben Veränderung als wesentliche Ingredienz. Laufen in Raum und Zeit ab (haben räumliche und zeitliche Koordinaten). Können zeitlich und räumlich diskontinuierlich sein: können zeitliche Lücken (gaps) haben, zeitlich suspendiert sein (temporarily suspendable) und ihre Existenz nach der Pause wieder aufnehmen (resume their existence, be reassembled as the same entity after the pause). Sind abhängig und verlaufen auf materiellen Dingen als ihren Trägern. Können das Resultat von menschlicher Handlung sein. Können selber kausale Wirksamkeit haben. Können mental sein. Können von menschlichem Verstehen co-konstituiert werden.

48 Texte als Ereignisse: ein paar Schritte weiter

49 Ein paar Schlussfolgerungen Was ist es, was in einem Text-Ereignis passiert / abläuft? Verstehensakte. Welches sind die Träger des Text-Ereignisses? Texte haben drei Arten von Trägern: den Verfasser + das Dokument + den (verstehenden) Leser. Texte werden in Entstehung gerufen vom Verfasser, aber in einem wesentlichen Sinne vom Leser «ausgeführt» (performed). Der Lokus eines Text-Ereignisses (so wie der Lokus eines jeden Ereignisses) ist der Lokus seiner Träger und also verteilt auf Verfasser, Dokument und Leser und ist deswegen typischerweise in Zeit und Raum verteilt. Wie kann es passieren, dass Text-Ereignisse «pausieren» oder sogar aufhören, zu existieren? Der Text beginnt mit einem Dokument, das in einem verstehenden Leseakt mit Bedeutung ausgestattet (equipped) wird, und er hört auf zu existieren / pausiert seine Existenz, wenn kein verstehender Leseakt mehr da ist. (Er hört auf zu existieren, weil einer der Textträger fehlt.) Haben Text-Ereignisse Phasen? Wie Ereignisse im Allgemeinen, so haben auch Text-Ereignisse Phasen: Nämlich die einzelnen Phasen des Verstehens des Dokuments. Die Veränderungen, welche im Text-Ereignis geschehen, sind die Übergänge von einer Verstehens-Phase zur nächsten. Mit jedem neuen Leseakt kann der Text sich ändern.* *Es gibt akzidentelle und substantielle Veränderung. 49

50 Ereignisse sind eher particulars als universals (Kanzian 2001*) Particulars, obwohl in Raum und Zeit, können mental sein. Texte sind konkrete (raum-zeitliche), aber immaterielle mentale Entitäten in Raum und Zeit. Particulars sind unik und nicht-wiederholbar. Texte sind unik und nicht-wiederholbar als ganze Text-Ereignisse, nicht «in terms of» der einzelnen Phasen, aus denen das Text-Ereignis zusammengesetzt ist. Das hat ein paar Konsequenzen für die Identitätsbedingungen von Texten. *Chr. Kanzian (2001): Ereignisse und andere Partikularien. Paderborn.

51 Identitätsbedingungen für Ereignisse, auf Texte angewandt It looks as though there are some challenges here!

52 Texte als Handlungen, für die es wenigstens zwei braucht (shared actions) 52

53 Handlungen

54 Handlung als spezieller Typ von Ereignis Handlungen sind Ereignisse, die sowohl von Menschen verursacht sind als auch in ihrer Existenz von Menschen abhängig sind. Eine Lawine ist von Menschen verursacht, aber in ihrer Existenz nicht von Menschen abhängig. Eine Lawine ist keine menschliche Handlung. 54

55 Vom Text-Ereignis zur Text- Handlung Wenn Texte Ereignisse sind wie und wo beginnen sie? Sie beginnen mit einem Verfasser, welcher ein Dokument produziert, und einem verstehenden Leser. Gewöhnlich ist der Verfasser auch der erste Leser! Wenn Texte Ereignisse sind, wie «persistieren» sie? Sie persistieren als Handlungen, die von Lesern an Dokumenten ausgeführt werden. Sie persistieren als mentale Handlungen, die von Lesern an Dokumenten ausgeführt werden. Warum lasse ich den Verfasser einfach nicht zurück und rede nur noch vom verstehenden Leser? Wenn Texte Ereignisse sind, brauchen wir Träger für das Text-Ereignis; der Verfasser ist ganz klar ein Text-Träger. Wenn dastext-ereignis als Handlung konzipiert wird, ist der Verfasser ganz klar einer der zwei Handelnden. Texte sind Handlungen, die von Verfassern und Lesern gemeinsam / zusammen (zwischen ihnen verteilt) an Dokumenten ausgeführt werden. In dem Moment, in dem ich Texte als Handlungen konzipiere, spielt Intentionalität eine Rolle also spielt auch der Verfasser eine Rolle. NB: Intentionalität ist nicht für jedes Handeln gleich wichtig; nicht jedes menschliche Verhalten ist Handeln; nicht jeder mentale Akt ist ein Handeln, etc. etc. 55

56 Reminder Wichtige Unterscheidung zwischen Handlungen, die zusammen ausgeführt werden können (z.b. spazierengehen) und Handlungen, die gemeinsam ausgeführt werden müssen, damit es zur Handlung kommt. (co-agency is constitutive for the action) Z.B. Heiraten. 56

57 Texte als (idealerweise) gemeinsame Handlungen Gemeinsame Handlungen sind am erfolgreichsten, wenn sie gemeinsam ausgeführt, co-produziert sind. Wenn Texte gemeinsame Handlungen sind, dann sind sie am erfolgreichsten dann, wenn der Leser gewillt ist, mit dem Verfasser zusammenzu-handeln (in Übereinstimmung mit der Verfasser-Intention)?* *No longer «The author is dead»? 57

58 Identitätsbedingungen? Wenn Texte Handlungen sind gemeinsame, geteilte (shared) Handlungen dann scheint es sinnvoll, die Frage nach den Identitätsbedingungen von Texten als einen Fall der Identitätsbedingungen von gemeinsamen, geteilten (shared) Handlungen zu studieren zu versuchen. 58

59 Ein Beispiel Augustinus schreibt die Confessiones. Er produziert ein Dokument, aber gleichzeitig auch schon einen Text da er ja selber verstehend schreibt. Dieser Text beginnt mit Augustinus Schreiben seine Existenz und setzt diese Existenz (in einer unabgeschlossenen Weise) so lange fort, bis es kein Bewusstseinszentrum mehr gibt, das den Text versteht. Auf diesem langen Ereignis- und Handlungsweg bewegt sich der Text dank einer grossen Anzahl von «Confessiones»-Dokumenten und Lesern voran. Zwischendrin kann er auch pausieren, weil es vielleicht für 5 Minuten gerade kein Bewusstseinszentrum gibt, das ein «Confessiones»-Dokument textuell aktualisiert. 59