Doktor Elise Meitner, die zu dieser Zeit in Stockholm in Schweden lebt, hört an diesem Tag kein Radio und liest keine Zeitung.

Transkript

1 Manus: Roman Schatz Regie: Anette Jainski Inspelat vid NDR, Hamburg, under ledning av Tilman Hartenstein Sändningsdatum: P2 den kl Programlängd: Producent: Kristina Blidberg Stimmen: Lise Meitner (als alte Frau) Erzähler Erzählerin Erzähler 2 (Zitate) (viermotoriges Flugzeug (Bomber)) Am frühen Morgen des 6. August 1945 kreist ein amerikanisches Flugzeug über der japanischen Großstadt Hiroshima. Kurz nach 8.00 Uhr wirft es die erste im Krieg eingesetzte Atombombe ab. Die Bombe fällt, von einem Fallschirm gebremst, und explodiert um 8 Uhr 15 in 550 Metern Höhe. (Langgezogene Explosion, die unter dem folgenden in einen tiefen, andauernden Ton übergeht, der bis zum Teleonfklingeln liegen bleibt) Die Menschen, die den Blitz gesehen und überlebt haben, nennen ihn heller als tausend Sonnen. Zehntausende Menschen sterben innerhalb einer einzigen Sekunde. Ein Rauchpilz steigt auf, 15 Kilometer hoch, 5 Kilometer breit. In einem Umkreis von einem Kilometer schmelzen die Häuser zu Glas. Die Temperatur beträgt bis zu 10 Millionen Grad Celsius. Das einzige, was von den Menschen dort übrig bleibt, sind ihre Schatten, eingebrannt in die Mauerreste. Doktor Elise Meitner, die zu dieser Zeit in Stockholm in Schweden lebt, hört an diesem Tag kein Radio und liest keine Zeitung. (Ein altmodisches Telefon klingelt.) Lise Meitner: An diesem Tag rief mich ein Reporter an und fragte, was ich zur Bombe zu sagen hätte. Ich fragte: Über was in der Welt reden Sie denn? Ich bin wohl die falsche Gesprächspartnerin. Aber als er sagte Atombombe, kamen meine Befürchtungen, die ich in all den Jahren 1

2 verdrängt hatte, wieder zurück. Ich wusste und ich hätte es eigentlich die ganze Zeit wissen müssen: Die Energie, bei deren Freilassung wir geholfen hatten, wird zum Bau einer Bombe eingesetzt werden. Am 8. August 1945, zwei Tage nach der Explosion, schreibt die amerikanische Zeitung New York Herald Tribune: Erzähler 2: Die mathematischen Berechnungen von Dr. Lise Meitner, der 67- jährigen österreichischen Wissenschaftlerin, haben eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Atombombe gespielt. Die Presse nennt Lise Meitner die Mutter der Atombombe. Ihr Freund und Kollege Albert Einstein hat einen schöneren Spitznamen für sie. Er nennt sie die deutsche Madame Curie. Lise Meitner: Ich habe nichts, überhaupt nichts mit der Entwicklung der Atombombe zu tun! (österreichische Walzermusik) Elise Meitner wird 1878 in Wien geboren. Die Geburt wird in den Büchern der jüdischen Gemeinde in Wien registriert, denn sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter haben einen jüdischen Elternteil. Aber die Kinder der Meitners werden nicht im jüdischen Glauben erzogen. Sie besuchen den gewöhnlichen Religionsunterricht. Das ist im Wien der Jahrhundertwende ganz normal. Lise Meitner: Obwohl mich Mathematik und Physik schon in frühen Jahren sehr stark faszinierten, konnte ich nicht gleich studieren. So verlor ich einige Jahre. (Ein Kind übt stockend ein österreichisches Klavierstück.) Im Klartext heißt das: Die 14-jährige Lise darf nicht aufs Gymnasium gehen, weil sie ein Mädchen ist. Und die verlorenen Jahre, von denen sie spricht, sind die Jahre, in denen sie zuerst einmal ein Examen als Französischlehrerin macht. 2

3 Lise hat zwei ältere und fünf jüngere Geschwister. Sie ist ein typisches Mädchen ihrer Zeit, fleißig, bescheiden, arbeitet gern. Seit 1899 dürfen in Österreich Frauen an Hochschulen studieren. Lise lernt in zwei Jahren den ganzen Gymnasiumsstoff von acht Jahren und macht das Abitur. Jetzt, mit fast 23 Jahren, kann sie endlich an der Universität studieren. Lise ist sehr beeindruckt von Marie Curie und ihrem Mann Pierre, die in Frankreich 1898 ein neues chemisches Element entdecken, das unsichtbare Strahlen aussendet. Aus einer Tonne Uranerz gewinnen die Curies 0,1 Gramm einer unbekannten Substanz. Diese Substanz nennen sie Radium. (Ein Geigerzähler knistert.) Erzähler 2: Drei Jahre vorher hatte ein Deutscher unbekannte Strahlen entdeckt, die er X-Strahlen nannte. Es waren Strahlen, mit denen man Menschen durchsichtig machen konnte! Der Mann hieß Conrad Wilhelm Röntgen. Lise Meitner schreibt sich an der Universität in Wien ein. Sie studiert Mathematik und Physik. Sie lernt, dass das Atom, das ja auf Griechisch unteilbar heißt, plötzlich nicht mehr als unteilbar gilt. Wenn Atome Strahlen aussenden und sich verändern können, sind sie mehr als nur kleine Kugeln, wie man bisher glaubte. Lise schreibt eine Doktorarbeit. Den mündlichen Teil der Doktorprüfung besteht sie einstimmig und mit Auszeichung im Jahr Nun ist Dr. Lise Meitner eine von vier weiblichen Doktoren an der Universität Wien. (dasselbe Stückchen auf dem Klavier wie vorher, aber souverän gespielt.) 3

4 Erzähler 2: Wissenschaftler hatten festgestellt, dass beim Zerfall eines Atoms drei verschiedene Arten von radioaktiven Strahlen freiwerden. Man nannte sie einfach Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Lise Meitner will bei dem berühmten Forscher Max Planck theoretische Physik studieren. Im Herbst des Jahres 1907 zieht Lise nach Berlin, für einige Semester, wie sie sagt. Sie bleibt 31 Jahre dort. Als Lise sich bei Max Planck einschreiben will, ist dieser sehr erstaunt. Lise weiß gar nicht, dass in Berlin Frauen an Hochschulen nicht zugelassen sind. Max Planck, der Begründer der Quantentheorie, ist von Doktor Meitner beeindruckt. Wenn eine Frau für die Aufgaben der theoretischen Physik besondere Begabung besitzt, so halte ich es für falsch, ihr das Studium zu verbieten. Ich werde gerne den Zutritt zu meinen Vorlesungen und Übungen gestatten. In Berlin lernt Lise Meitner den gleichaltrigen Chemiker Otto Hahn kennen. Zusammen bekommen sie ein Labor. Lise Meitner: Der Direktor des Chemieinstituts sagte: Wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt, soll es mir recht sein. Es gab natürlich keine Damentoilette. Ich musste immer zu einem Restaurant in der Nähe gehen. Das Labor war eine alte Holzwerkstatt. Wir hatten nur eine Hobelbank. Otto Hahn und Lise Meitner sind extrem fleißig. Sie machen Experimente mit zerfallenden Atomen und radioaktiver Strahlung. Vor allem die Beta-Strahlen wollen sie erforschen. In den ersten zwei Jahren ihrer Zusammenarbeit veröffentlichen sie neun Studien. (Schlachtfeldgeräusche, pfeifende Granaten.) Der erste Weltkrieg beginnt. Otto Hahn wird sofort zum Militär geschickt. Er gehört zu einer Spezialeinheit für Gaskampf. Fast das 4

5 gesamte Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin beschäftigt sich mit der Entwicklung von Kampfgas. Lise hat zwar nichts mit Gas zu tun, aber sie bekommt erste Zweifel an der moralischen Richtigkeit ihrer Forschungen. Sie meldet sich freiwillig als Röntgenschwester in ein Hospital an der Front. Trotz des Krieges forschen Meitner und Hahn weiter entdecken sie das Element Nummer 91, das Protaktinium. Die Arbeit über dieses Element macht die beiden Forscher berühmt. Nach dem Krieg beginnt die Weimarer Republik. Diese Zeit ist für Lise Meitner ein mühsamer, aber steter Weg bergauf. Sie forscht, sie lernt berühmte Kollegen kennen wie etwa den Dänen Niels Bohr, der das neue revolutionäre Atommodell entwickelt hat. Ein anderer Freund, den Lise zu dieser Zeit kennen lernt, ist Albert Einstein, der Vater der Relativitätstheorie. Am 1. März 1926 wird Doktor Lise Meitner endlich Professorin. Jetzt gehört sie zum inneren Kreis der Atomforscher, zu den Besten ihrer Branche. Zusammen mit Otto Hahn wird sie für den Chemie- Nobelpreis vorgeschlagen, für ihre Arbeit über das Element Protaktinium. Lise hat eine schöne, große Wohnung direkt neben dem Institut. Sie ist eine international anerkannte Wissenschaftlerin. Sie hat es geschafft, ihr Kindheitstraum ist in Erfüllung gegangen. Doch der Traum dauert nur ein paar Jahre. (Instrumental-Variation der deutschen Nationalhymne) Im Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt. Am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin weht die Hakenkreuzfahne. Bisher war Lise Meitners Problem immer dasselbe: Sie ist eine Frau auf einem von Männern dominierten Gebiet. Jetzt hat sie ein neues Problem: Sie ist nicht nur Frau, sondern auch Jüdin. Alle nichtarischen Beamten im Deutschen Reich werden entlassen. Im gleichen Jahr, 1933, verliert Professor Lise Meitner die Erlaubnis zu unterrichten. 5

6 Trotzdem verlässt sie Deutschland noch nicht. Sie bleibt, weil sie Österreicherin ist und sich dadurch sicher fühlt. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, schreibt sie an Otto Hahn: Lise Meitner: Heute weiß ich, dass es nicht nur dumm, sondern ein großes Unrecht war, dass ich nicht sofort weggegangen bin. Denn letzten Endes habe ich durch mein Bleiben den Hitlerismus unterstützt. Erzähler 2: Die Arbeit am Kaiser-Wilhelm-Institut wird immer schwieriger. Lise darf nicht mehr öffentlich auftreten. Ihre jüdischen Kollegen wandern aus, einer nach dem anderen geht ins Exil. Nur Lise bleibt. Die Arbeiten, die Otto Hahn und sie zu Beginn der Nazizeit schreiben, tragen allerdings nur noch Otto Hahns Namen. Lises Vorgesetze bitten die Nazis, Lise Meitner ins Ausland ausreisen zu lassen. Die Antwort auf diese Bitte im Sommer 1938 kommt prompt: Es wird für unerwünscht gehalten, dass bekannte Juden aus Deutschland ins Ausland reisen, um dort mit ihrer Erfahrung gegen Deutschland zu arbeiten. Professor Meitner versteht: Wenn sie jetzt nicht flieht, wird sie niemals lebend aus Deutschland herauskommen. Es gelingt der inzwischen 55-jährigen Lise Meitner, mit der Eisenbahn nach Holland zu fahren, ohne Visum, ohne ihren Besitz, mit einem österreichischen Pass und einem einzigen Handkoffer. Lise Meitner: Ich habe genau eineinhalb Stunden Zeit gehabt, um zu packen, um nach 31 Jahren aus Deutschland wegzugehen. Lise bleibt nicht in Holland. Sie tritt im Herbst 1938 eine Stelle in Stockholm an, am Nobel-Institut. Hier in Schweden macht sie die Entdeckung, für die ihr Kollege Otto Hahn berühmt wird. Lise Meitner: Wenn ein Uran-Atomkern zerplatzt, bleiben zwei andere Kerne übrig. Diese beiden Kerne sind aber zusammen leichter als der ursprüngliche Urankern. Der fehlende Rest muss nach der Formel von Einstein, E=mc², Energie sein. 6

7 Am 11. Februar 1939 erscheint Lise Meitners erste Arbeit über die atomare Kernspaltung. Fast gleichzeitig erscheint auch Otto Hahns Arbeit zum gleichen Thema. Hahn und Meitner haben, unabhängig voneinander, aber auf Grund ihrer langjährigen gemeinsamen Arbeiten, die Kernspaltung nachgewiesen. Atome sind spaltbar, und bei ihrer Spaltung wird Energie frei. Unvorstellbar große Mengen von Energie. Für diese Entdeckung bekommt Lise später den inoffiziellen Titel Mutter der Atombombe. Otto Hahn dagegen bekommt den Nobelpreis. Allein, ohne Lise Meitner. Der Grund: Sie hat während der Nazijahre in Berlin zu wenig veröffentlicht. Am 8. Mai 1945 kapituliert Nazi-Deutschland. Plötzlich erfährt die ganze Welt vom Holocaust, von den Verbrechen in deutschen Konzentrationslagern. Lise Meitner schreibt einen Brief aus Schweden an Otto Hahn: Lise Meitner: Dass die übrige Welt Deutschland bedauert, könnt ihr wirklich nicht erwarten. Was man in diesen Tagen von den unfassbaren Gräueln in den Konzentrationslagern gehört hat, übersteigt alles, wovor man sich gefürchtet hatte. Solange nur wir die schlaflosen Nächte haben und nicht ihr, solange wird es in Deutschland nicht besser werden. Aber ihr hattet keine schlaflosen Nächte, ihr habt nicht sehen wollen, es war zu unbequem. Im Sommer 1945 arbeiten viele von Lise Meitners ehemaligen Kollegen in einem streng geheimen Labor in Los Alamos in den USA fieberhaft an einer Wunderbombe. Kurz danach, am 6. August 1945, wird Lise Meitner durch die Explosion der ersten Atombombe über Nacht weltberühmt. 7

8 Sie bekommt sofort eine Gastprofessur in Amerika. Sie soll ein Semester lang an der katholischen Universität in Washington unterrichten. Als Lise in Amerika ankommt, stürzt sich die Presse auf die Mutter der Atombombe. Der Women s National Press Club wählt Lise zur Frau des Jahres. Sie lernt die Crème der amerikanischen Gesellschaft kennen, bis hin zu Präsident Truman. Die Amerikaner wollen einen Film über Frau Professor Lise Meitner drehen, mit viel Dramatik Lise aber will nicht. Sie ist, wie sie selbst sagt, eben... Lise Meitner:... ein sehr privater Mensch. Als Lise im Sommer 1946 mit der Queen Mary nach Europa zurückkehrt, hat sie vier Ehrendoktortitel und ist eine der berühmtesten Frauen der Welt. Große Entdeckungen macht sie nicht mehr. Sie forscht und schreibt am Nobel-Institut, sie reist, hält Vorträge, sie erhält viele Ehrungen. Als erste Frau bekommt sie den höchsten Physik-Preis nach dem Nobelpreis: den Enrico-Fermi-Preis der Vereinigten Staaten von Amerika. Sogar ein chemisches Element wird nach ihr benannt: das Meitnerium. Im Sommer 1968 stirbt Otto Hahn. Lise Meitner stirbt drei Monate später, im Alter von 89 Jahren. Die Entdecker der Kernspaltung sind tot. Das Atomzeitalter ist in vollem Gange. Und Lise Meitner ist ohne Zweifel eine der großen Frauen des Jahrhunderts. Lise Meitner: Ich glaube, dass sich alle jungen Leute versuchen vorzustellen, wie ihr Leben einmal aussehen soll. Wenn ich das in meiner Jugendzeit tat, kam 8

9 ich immer zu dem Schluss: Das Leben muss nicht leicht sein, wenn es nur inhaltsreich ist. Und dieser Wunsch ging in Erfüllung. 9