1 Ausgaben für Erbkranke Soziale Auswirkung, Anschauungsmaterial für den Schulunterricht, etwa 1937
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- Jacob Rothbauer
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1 1 Ausgaben für Erbkranke Soziale Auswirkung, Anschauungsmaterial für den Schulunterricht, etwa 1937
2 2 Ausstellungsbild des Reichsnährstandes Abgebildet in: Volk und Rasse. Illustrierte Monatsschrift für deutsches Volkstum, 1936
3 3 Auftrag zur Ermordung Adolf Hitler (Briefbogen), Berlin 1. Sept Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Adolf Hitler (handschriftlich) Von Bouhler mir übergeben am (handschriftlich) Dr. Gürtner (handschriftlich)
4 4 Bericht über einen Vortrag des Präsidenten des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen, Dr. Karl Astel vom 14. Januar Heute will kein Mensch mehr wissen, wo das arme Kind steckt Euthanasie in der Landesheilanstalt Stadtroda Die Nationalsozialisten machten daraus [aus dem Wort Euthanasie] für die körperlich Behinderten und Geisteskranken sowie deren Angehörigen ein Wort des Schreckens. Als lebensunwertes Leben wurden diese Kranken durch beauftragte Ärzte in dafür bestimmten Krankenanstalten getötet. Dazu gehörte auch die damalige Thüringische Landesheilanstalt Stadt roda. Als ärztlicher Direktor trug dafür Professor Gerhard Kloos die Verantwortung. In Stadtroda wurde eigens dazu eine Kinderfachabteilung mit zehn Betten eingerichtet. In ihr wurden nach und nach behinderte Kinder aus ganz Thüringen eingewiesen. Nach einem in Berlin festgelegten Verfahren wurden hier mehr als hundertfünfzig Kinder ermordet waren es 38 Kinder, , , und in den ersten Monaten 194 noch 21. Wie sehr die Stadtrodaer Anstalt von den Bewohnern in den umliegenden Orten gefürchtet wurde, zeigt ein Schreiben von Kloos an den Reichskommissar für die Heil- und Pflegeanstalten in Berlin. Darin stellte er den Antrag auf Umbenennung. Aus der Anstalt sollte ein Krankenhaus werden. Kloos begründete seinen Vorschlag damit, dass die Aufnahme in eine Anstalt etwa gleichbedeutend sei mit lebendig begraben sein oder baldigem Ende. Kranke oder deren Angehörige sträubten sich daher oft gegen eine Einlieferung. Manchmal wollten sie nicht einmal in die nicht-psychiatrischen Abteilungen aufgenommen werden. Kloos Antrag wurde stattgegeben: Im Februar 1943 erfolgte die Umbenennung in Thüringer Landeskrankenhaus. [ ] Unter der Verantwortung von Kloos erhielten in Stadtroda insgesamt Menschen den Gnadentod. Auf die Größe der Stadt umgerechnet, wären das etwa ein Viertel aller Einwohner. Dazu gehörte die Stadtrodaer Klinik nicht einmal zu den größeren unter den medizinisch getarnten Todesfabriken. Die beteiligten Ärzte sind später nur in Einzelfällen zur Verantwortung gezogen worden. Gerhard Kloos war 194 nach Westdeutschland geflüchtet, wo er fortan in Göttingen eine große Nervenklinik leiten konnte. Ein gegen ihn 1962 eingeleitetes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Der Versuch der Wiederaufnahme des Verfahrens scheiterte 1988 endgültig, als Kloos verstarb. Gegen eine in Stadtroda verbliebene Ärztin hatte 196 das DDR-Ministerium für Staatssicherheit eine Untersuchung eingeleitet. Unter den herangezogenen Akten fanden sich Briefe von Eltern, die sich nach dem Schicksal ihrer Kinder erkundigten. So klagte ein verzweifelter Vater in einem Schreiben vom 3. November 1940 die Ärzte an: Heute will kein Mensch mehr wissen, wo das arme Kind steckt und man muss hier mit allem rechnen, was man von anderen Anstalten gehört hat, nun ist sie auch dort wieder fort und niemand will wissen, wohin, das ist sonderbar und gibt allerhand zu denken. Nach einem
5 Jahr wurde das Untersuchungsverfahren gegen die Stadtrodaer Ärztin aus Mangel an Beweisen eingestellt. Gerd Fesser/Reinhard Jonscher, Thüringen seit der Reformation. Historische Streiflichter. Quartus-Verlag Buchau 2000, S. 208 ff. 6 Wohltäter der Menschheit Ernst Klee über die braune Vergangenheit der Universität Jena (2000) Thüringen ist das erste Land, dem bereits 1930 ein NSDAP- Innenminister vorsteht: Wilhelm Frick, zugleich Minister für Volksbildung. Er beruft umgehend Hans Günther, genannt Rasse-Günther, auf einen Lehrstuhl in Jena. Bei der Antrittsvorlesung Die Ursachen des Rassenverfalls des deutschen Volkes sind Göring und Hitler anwesend. Thüringen zum NS-Musterstaat aufzurüsten ist Sache des Sportarztes Karl Astel. Er wird 1933 Präsident des Landesamtes für Rassewesen in Weimar, 1934 zudem Professor für Züchtungslehre an der Universität Jena, die von 1934 an Friedrich-Schiller-Universität heißt. Der NS-Züchtungslehrer 193 an Himmler: Die Universität Jena soll SS-Universität werden. Astel, von 1939 an Rektor, 1942 zum Standartenführer befördert, holt unter anderem Sturmbannführer Falk Ruttke, Miturheber des Sterilisationsgesetzes, als Ordinarius für Rasse und Recht nach Jena. Zu Astels Gesinnungsgenossen zählt auch Johann von Leeres, Verfasser des Buches Blut und Rasse in der Gesetzgebung. Leeres flieht 194 über Italien nach Argentinien, lebt später in Kairo. Der Veterinär Görttler, laut Astel ein Mann unserer Front, bleibt dagegen Lehrstuhlinhaber in Jena und bekommt den Nationalpreis der DDR. Im Oktober 194 beginnt die antifaschistisch-demokratische Neugeburt. Anerkannte Wissenschaftler, so die Universitätsgeschichte Alma Mater Jenensis, werden berufen. Zu ihnen gehört der Psychiater Rudolf Lemke, der die Zwangskastration von Homosexuellen gefordert hatte. Der Biologe Otto Schwarz, von 1943 an auf dem Gebiet der Biologischen Kriegsführung tätig, wird 1948 und 198 noch einmal Rektor der Universität und erhält den Vaterländischen Verdienstorden. Der Anatom Hermann Voss bekommt 192 einen Lehrstuhl und wird mit dem Titel Hervorragender Wissenschaftler des Volkes geschmückt. Voss kooperierte mit der Gestapo in Posen, lauerte bei Exekutionen nahe der Guillotine, um die Ermordeten sogleich verarbeiten zu können. Voss betrieb einen schwunghaften Handel mit Skeletten und Judenschädeln. Jenaer Geschichtsbewusstsein: Das Klinikum der Universität stellte im Dezember 1999 im Internet bedeutende Ärzte vor. Unter ihnen den Chirurg Erich Lexer, der zum NS-Sterilisationsgesetz den Beitrag Die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung des Mannes verfasst und 1937 von Hitler die Goethe-Medaille empfangen hatte. [ ] Wie ein Heiliger verehrt wird bis heute der Kinderarzt Jussuf Ibrahim, 1877 in Kairo als Sohn eines ägyptischen Arztes und einer Deutschen geboren. Er war 1917 Ordinarius für Kinderheilkunde und Leiter der Universitätskinderklinik geworden, [ ]. Das Kinderkrankenhaus war zugleich Ausbildungsstätte für Säuglingsschwes tern, die sich heute noch Ibrahim-Schwestern nennen. Ibrahim wird 1947, zum 70. Geburtstag, Ehrenbürger der Stadt. Die Sozialpädagogische Fakultät ernennt ihn zum Ehrendoktor als Retter der Säuglinge, Berater der Mütter und Wohltäter der Menschheit. 190 erhält der Wohltäter den Titel Verdienter Arzt des Volkes und den Nationalpreis der DDR I. Klasse. [ ] Die Jenaer Psychiatrie wird in der NS-Zeit von zwei Männern dominiert: Leiter der Universitätsklinik ist der SA-Sturmbannarzt Berthold Kihn (nach 194 Honorarprofessor in Erlangen). Für die Berliner Euthanasiezentrale selektiert er Geisteskranke zur Vergasung. Die Leitung der nahe gelegenen Landesheilanstalt Stadtroda hat Gerhard Kloss (194 Direktor der Psychiatrie in Göttingen). Kloss, Dozent an der Friedrich-Schiller-Universität, entscheidet als Richter am Erbgesundheitsobergericht über Zwangssterilisation und führt in Stadtroda eine Kindermordabteilung. Der Kindermord ist geheime Reichssache. In Ibrahims Kinderklinik wird jedoch in die Krankenblätter eingetragen: Euthanasie beantragt oder Die beantragte Euthanasie ist noch nicht bewilligt. [ ] Die Krankenakten sind vernichtet. Die Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann fand jedoch einen Brief Ibrahims vom. Januar 1944 an Kloos, Chef der Kindermordstätte Stadtroda. Über einen Jungen steht da: Offenbar aussichtslose Zukunft. Vielleicht könnte er bei Ihnen eine nähere Beobachtung und Beurteilung finden. Euth.? Das Kind, am 29. März 1942 geboren, stirbt am 2. Juni [ ]. Nach Jussuf Ibrahim sind in Jena eine Straße, zwei Kindertagesstätten, seine ehemalige Klinik und eine weißrosa Rose benannt. Ibrahim hat viele Fürsprecher, die toten Kinder haben nur wenige. Die Deutsche Presse-Agentur verbreitete sogar eine Mahnung der Sprecherin der Gedenkstätte Buchenwald (gewiss keine Autorität beim Thema Kindereuthanasie): Von einer Täterschaft könne vor einer seriösen medizinhistorischen Aufarbeitung nicht gesprochen werden. Der Chef der Ibrahim- Klinik, Felix Zintl: Wenn man alte Jenaer spricht, sagen alle, sie seien schon einmal von Ibrahim gerettet worden. Die Universität hat im Januar eine Kommission einberufen. Sie soll nun den Fall Ibrahim wissenschaftlich klären. Ernst Klee, Wohltäter der Menschheit. In: Die Zeit, Nr. 6, , S. 19 f. 7 Merkblatt des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen, ca
6 8 Schreiben des Reichsministeriums des Innern an den Präsidenten des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen und Rektor der Universität Jens, Prof. Karl Astel, bezüglich der Vermeidung des Wortes Euthanasie in den Akten (12. Juli 1943 Streng Vertraulich! Lieber Parteigenosse Professor Dr. Astel! Der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden macht mich darauf aufmerksam, dass die Universitätskinderklinik in Jena in ihren Krankenblättern immer wieder die Einträge Euthanasie beantragt, Die beantragte Euthanasie ist noch nicht bewilligt macht. Wie Sie wissen, soll nach außen hin die Tatsache, dass in Einzelfällen Euthanasie gewährt werden kann, nicht in Erscheinung treten. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie als Rektor der Universität Jena mit dem Leiter der Kinderklinik sprechen würden und ihn ersuchten, von derartigen Eintragungen in der Krankengeschichte Abstand zu nehmen. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar E 74, Bl Zit. nach: Quellen zur Geschichte Thüringens. Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische Kindereuthanasie in Thüringen, hrsg. von Susanne Zimmermann. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 200, S Überweisungsschreiben Professor Ibrahims für Sabine an das Landeskrankenhaus Stadtroda (1. Oktober 1943) Sehr geehrte Herr Kollege! Sabine XXX aus XXX, jetzt 12 1/2 Mon. alt, leidet an Microcephalia vera 1. Erbmoment ist nicht bekannt. Eine normale Entwicklung wird sich nie erreichen lassen. Euthan. wäre durchaus zu rechtfertigen und im Sinne der Mutter. Vielleicht nehmen Sie sich des Falles an? Mit besten Empfehl. u. Heil Hitler! Ergebenst Dr. Ibrahim Archiv des Landesfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Stadtroda (ALFKSt), Krankenakte Sabine. Zit. nach: Quellen zur Geschichte Thüringens. Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische Kindereuthanasie in Thüringen, hrsg. von Susanne Zimmermann. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 200, S abnorme Kleinheit des Schädels Überweisungsschreiben Prof. Ibrahims für Eckehard an das Landeskrankenhaus Stadtroda (. Januar 1944) Sehr verehrter Herr Kollege! Eckehard aus XXX b. XXX, Zwilling, zweieiig, der andere gesund. Offenbar von Geburt an in der Entwickl. d. Centralnervensystems rückständig. Seit dem Alter von 3/4 J. sich häufende Salaam-Serienkrämpfe. Sieht, hört, leichte Rigid. f. oberen Extrem. Keine Pyram.zeichen. Offenbar aussichtslose Zukunft. Vielleicht könnte er bei Ihnen eine nähere Beobachtung und Beurteilung finden. Euth.? Mit besten Empfehlungen u. Heil Hitler! Ergebenst Dr. Ibrahim. Bundesarchiv Berlin, EVZ II, Karton 66, Akte. 4. Zit. nach: Quellen zur Geschichte Thüringens. Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische Kindereuthanasie in Thüringen, hrsg. von Susanne Zimmermann. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 200, S Was heißt Euth.? Katrin Zeiss über den Jeaner Streit um den Kinderarzt Jussuf Ibrahim und die Forschung der Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann 2000 Die Wissenschaftlerin hatte an einem Mythos gekratzt. Er trägt den Namen Professor Jussuf Ibrahim und war der berühmteste Kinderarzt Jenas. [ ] In dieser Woche, am 17. März [2000] wird Susanne Zimmermanns Habilitationsschrift [ ] als Buch erscheinen: Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus. Seit Wochen aber gehen die Emotionen hoch in Jena. [ ] Als Susanne Zimmermann ihre 1993 vorgelegte Habilitationsschrift über die Geschichte der medizinischen Fakultät überarbeitete, stieß sie auf eine Krankenakte aus der nahe Jena gelegenen psychiatrischen Klinik Stadtroda. In der Akte eines zweijährigen Zwillingsjungen fand sie einen Brief Ibrahims an den Direktor des Stadtrodaer Krankenhauses, Gerhard Kloss, einen berüchtigten Euthanasiearzt, wie Ibrahim Dozent an der Jenaer Universität. Sehr verehrter Herr Kollege! E. K. aus G. b. Chemnitz offenbar von Geburt an in der Entwickl. d. Centralnervensystems rückständig. Seit dem Alter von 3/4 J. sich häufende Krämpfe. Sieht, hört Offenbar aussichtslose Zukunft. Vielleicht könnte er bei Ihnen eine nähere Beobachtung und Beurteilung finden. Euth.? Mit besten Empfehlungen und Heil Hitler! Ergebenst Dr. Ibrahim. Der Junge starb in der Kinderfachabteilung Stadtroda, wo zwischen 1942 und 194 über 0 behinderte Kinder ermordet wurden. Was in Susanne Zimmermanns Arbeit von 1993 stand, wusste ein Fachpublikum die Universität Jena, die medizinische Fakultät, die Kinderklinik. Für die breite Öffentlichkeit blieben diese Ibrahim belastenden Fakten lange Zeit verborgen, wie auch frühere Hinweise Ernst Klees und des Berliner Historikers Götz Aly. Vorbei. Was seitdem in der Stadt passiert, hat Susanne Zimmermann, hat die Universität, hat Jena noch nicht erlebt. Der Kampf um Ibrahim tobt. Die Front zwischen eifernden Ibrahim-Verteidigern und jenen, die für eine differenzierte Diskussion der Rolle des Retters der Säuglinge plädieren, verläuft quer durch die Stadt. Eines der beliebtesten Kampfmittel sind Leserbriefe an die lokalen Zeitungen. [ ] Die Lokalredaktionen können sich nicht erinnern, jemals mehr Leserzuschriften zu einem Thema bekommen zu haben. Tenor der Briefe: Jena fürchtet um seine Legende. Kaum ein Tag vergeht, an dem sich nicht Zeitzeugen, melden, die irgendwann einmal von Ibrahim gerettet wurden oder jemanden kennen, der von ihm gerettet wurde, sagt TLZ- Redakteurin Barbara Glasser. Selbst ernannte Experten fühlen sich berufen, der ausgebildeten Chirurgin Susanne Zimmermann zu erklären, wie man Krankenakten liest. Das Kürzel Euth., so meinten sie, könnte ja auch etwas anderes bedeuten. Andere wieder rechnen ein totes Kind gegen angeblich gerettete Kinder auf, wobei der ausdrückliche Dank für die geretteten Kinder nicht fehlt. Hinzu kommt ein gehöriger Schuss Ost-West-Konfrontation. Da wird ausgerechnet dem Geschwister-Scholl-Preisträger Ernst Klee vorgeworfen, im Westen hab sich ja auch niemand um die Aufarbeitung der Nazivergangenheit gekümmert. [ ] Susanne Zimmermann wird von den Ibrahim-Verteidigern nicht nur der Kollaboration mit einem Westjournalisten bezichtigt, ein erzürnter Zeitungsleser forderte sie gar auf, auszuwandern. Die eher zurückhaltende Frau kommt mit solchen Angriffen nur schwer zurecht. Ihre Aufgabe als Wissenschaftlerin sei es, unvoreingenommen Fakten darzustellen. Dass sich die Diskussion nur um Ibrahim und seinen guten Ruf bewegt, stört die Ärztin sehr. Um die toten Kinder schert sich bei der ganzen Diskussion kein Mensch. Perfider Volkszorn traf die Journalistin Barbara Glasser. Am letzten Sonntag im Februar [2000] bekam sie einen anonymen Brief. Auch die Leichen in ihrem Keller werde man schon noch finden, drohte der Schreiber. Ganz oben auf dem A4- Computerausdruck war eine Bombe gemalt. Die Journalistin, die den Ibrahim belastenden Brief im Berliner Bundesarchiv
7 aufgestöbert und abgedruckt hat, berichtet seit Wochen für die TLZ 1 über den Fall Ibrahim und hatte [ ] gewagt, in einem Kommentar von Schuld zu sprechen. Das nimmt man ihr übel. Bei der OTZ 2, in deren redaktionellen Beiträgen sich die Ibrahim-Verteidiger wiederfinden dürfen, weiß man so etwas und verzichtet auf eigene Kommentare. Das Thema eigne sich dafür nicht, sagt Redakteur Michael Groß. Man wolle die Leser nicht verletzen. 1 TLZ: Thüringische Landeszeitung, gehört zur Verlagsgruppe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) 2 OTZ: Ostthüringische Zeitung, gehört zur Ver-lagsgruppe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). Katrin Zeiss, Was heißt Euth.? in: Die Zeit, Nr. 12, , S Streitpunkt Jussuf Ibrahim Die in Stadtroda geborene Ärztin Sandra Liebe setzte sich parallel zur 2000 beginnenden Ibrahim-Debatte in ihrer Promotion mit der Biografie des Kinderarztes Ibrahim auseinander und analysierte kritisch die Reaktionen der Jenaer Bevölkerung und medizinischer Kreise. Als Wortführer der Ibrahimverteidiger positionierte sich vor allem Ibrahims ehemaliger Assistent und späterer Leiter der Erfurter Kinderklinik, Prof. Helmut Patzer. Er schloss aufgrund seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Ibrahim nach 194 zunächst dessen aktive Beteiligung an der Kindereuthanasie aus. Er räumte jedoch ein, dass Ibrahim möglicherweise von staatlicher Seite mit diesem Thema konfrontiert worden sei, da er in seiner Sprechstunde behinderte Kinder betreute. Im August 2000 äußerte er sich in einen Anmerkungen zum Bereicht der Kommission der Friedrich-Schiller-Universität Jena zur Untersuchung der Beteiligung Prof. Ibrahims an der Vernichtung lebensunwerten Lebens während der NS-Zeit. Er zollte zwar der Forschungsarbeit der Kommission Respekt, lastete ihr aber fehlende Äußerungen über mögliche positive Beweggründe Ibrahims an. Patzer folgerte aus seiner persönlichen Bekanntschaft mit Ibrahim dessen mögliche Intention und vermutete, dass es ihm aus ärztlich ethischer Sicht nicht darum ging, ein lebensunwertes kindliches Individuum der gezielten Tötung zu überantworten oder zu opfern im Interesse eines übergeordneten Prinzips, also einer Rasse, einer Nation oder einer Volksgesundheit. Es ging ihm ganz vordergründig um das geschädigte leidende Kind mit ohnehin geringen Lebensaussichten. Dass Ibrahim mit seiner humanistischen Einstellung, Leiden zu verkürzen, in Konformität mit der Ideologie der Nationalsozialisten geriet, bedauerte Patzer. Auch der Präsident der Thüringer Ärztekammer und Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer, Prof. Eggert Beleites, sprach sich gegen eine Umbenennung der Kinderklinik aus. Er verglich Ibrahim mit einem Schiff in Not, der sich auf der einen Seite so verhalten hat, dass er Menschen gerettet hat, versteckt hat, und dass er immer wieder versucht hat, menschlich zu sein, dass er auf der anderen Seite gesagt hat hier ist keine Rettung mehr möglich, hier ist der Gnadentod das Sinnvolle, Richtige. [ ] Doch nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, sondern auch im westlichen Teil Deutschlands fand Ibrahim Fürsprecher. Die Arbeitsgemeinschaft Duisburger Kinderärzte äußerte sich im September 2001 Zur Rehabilitation von Prof. Dr. Jussuf Ibrahim. Nach akribischer Umdeutung aller Ibrahim belastender Beweisstücke kamen sie zu dem Ergebnis: Wenn man aber mit den Nazigräueln wirklich fertig werden will, muss man sich auch mit den Menschen befassen, die mutig dagegen gekämpft haben. Solche Menschen muss man sich zum Vorbild nehmen und ihnen in seinem Tun und Denken nacheifern. Die Duisburger Kinderärzte forderten die schnelle Rehabilitierung Ibrahims als eines unserer hervorragenden Vorbilder, die wir so nötig brauchen und von denen es ohnehin viel zu wenige gibt, ehe man im Ausland beginnt zu fragen, ob das die neue Art in Deutschland sei, mit Menschen umzugehen, die den Nazis und ihren Verbrechen Widerstand geleistet haben. [ ] Abschließend resümiert die Autorin: Die immer wieder geäußerte Forderung nach Würdigung der Gesamtpersönlichkeit Jussuf Ibrahim entsteht vermutlich aus einer falschen Vorstellung von Tätern im Nationalsozialismus. Täter bei nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen konnten auch solche sein, die andere Teilaspekte der NS-Politik ablehnten. Der Nationalsozialismus bedeutete für sie nicht eine Erzwingung, sondern eine Erlaubnis zur Umsetzung lang gewachsener rassenhygienischer Ideen. Dabei spielten sozioökonomische Überlegungen zu einer möglichst effizienten Gestaltung der Gesundheitspolitik eine Rolle. In der Zeit des Nationalsozialismus war für behinderte Kinder ohne Aussicht auf Entwicklungs- und Arbeitsfähigkeit kein Platz. Die Betrachtung der Gesamtpersönlichkeit fordert die Würdigung der Verdienste beim Aufbau der Kinderklinik, bei der Weiter entwicklung der Kinderheilkunde in Thüringen und dem Ausbau der Kinderschwesternausbildung, die Anerkennung seiner Arbeit als Wissenschaftler, Arzt und Universitätsprofessor. Sie fordert aber auch, dass Ibrahims Beteiligung an der NS- Kindereuthanasie nicht verschwiegen, sondern endlich als Teil der Ibrahimschen Persönlichkeit angesehen werden muss. Sandra Liebe, Prof. Dr. med. Jussuf Ibrahim ( ). Leben und Werk. Dissertationsschrift Jena 2006, S
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