Predigt zu Psalm 42/43 Sehnsucht nach dem Göttlichen

Transkript

1 Sonntag, 17. Juli 2011, Nydeggkirche Markus Niederhäuser Predigt zu Psalm 42/43 Sehnsucht nach dem Göttlichen Vor kurzem bin ich einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry begegnet, das mir nicht mehr aus dem Sinn geht. Ich möchte es an den Anfang der heutigen Predigt stellen. St. Exupéry macht darin die luzide Feststellung: Es gibt nur ein Problem, ein einziges in der Welt: Wie kann man den Menschen einen geistigen Sinn, eine geistige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie herabrieseln lassen, was einem Gregorianischen Gesang gleicht? Man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Mich berührt diese Aussage zutiefst. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass der französische Pilot und Schriftsteller diese Diagnose anfangs der 40er Jahren des letzten Jahrhunderts gestellt hat. Das war so hellsichtig damals. Und ich habe den Eindruck, heute stimmt es immer mehr: Man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Mich bewegt das Dringliche an diesen Worten, die Not, die dahinter zu spüren ist. Und ich kenne diese Not selber, begegne Menschen, älteren und gerade auch Jungen, die unter einer allgemeinen geistigen Öde leiden. Der Leistungsdruck im Arbeitsprozess hat enorm zugenommen, alles muss sich sofort rechnen, sonst wird gespart. Arbeit haben, bedeutet nicht selten Stress. Aber das, was Menschen ausbrennen lässt, ist nicht die Menge an Arbeit, sondern der fehlende Sinn darin. Viele sehen keine Perspektive mehr im Beruf, oft auch in ihren Beziehungen. Auf der anderen Seite die Fülle an Angeboten der Freizeitindustrie zur Entspannung, zum Verdrängen. Beim Rumzappen am Fernsehen staune ich, mit was für Schwachsinn wir uns freiwillig berieseln lassen. Das pure Gegenteil vom Herabrieseln gleich einem gregorianischen Gesang. Wie geht es Ihnen dabei, liebe Gemeinde? Sind wir nicht insgeheim alle auf der Suche nach mehr? Tragen wir nicht einen Hunger in uns über das Materielle hinaus? Diese Sehnsucht nach einem geistigen Zusammenhang, nach dem Göttlichen ist etwas Kostbares. In ihr liegt die Quelle zur Erneuerung. Dieser Sehnsucht möchte ich mit Ihnen in der Predigt nachgehen. Dabei kann uns ein Text aus dem Schatz der Bibel inspirieren, welcher ganz von dieser Sehnsucht erfüllt ist. Ich lese Ihnen Psalm in einer gekürzten Version. 42, 2 Wie der Hirsch lechzt an versiegten Bächen, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Angesicht schauen? 4 Meine Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht, denn allezeit sagen sie zu mir: Wo ist (nun) dein Gott? ( )

2 9 Bei Tag seufze ich: Dass doch der Herr seine Gnade sende! Und des Nachts singe ich ihm und flehe zu dem Gott meines Lebens. 10 Ich spreche zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd umhergehen bedrängt vom Feind? 11 Wie Mord ist es in meinen Gebeinen, wenn meine Bedränger mich verhöhnen, da sie allezeit zu mir sagen: Wo ist (nun) dein Gott? ( ) 43 1 Schaffe mir Recht, Gott, und führe meine Sache gegen treuloses Volk, errette mich vor falschen und bösen Menschen. 2 Du bist der Gott meiner Zuflucht. Warum hast du mich verstossen? Warum muss ich trauernd umhergehen bedrängt vom Feind? 3 Sende dein Licht und deine Treue, sie sollen mich leiten, mich bringen zu deinem heiligen Berg, zu deinen Wohnungen. 4 So will ich hineingehen zum Altar Gottes, zum Gott meiner Freude. Jauchzend will ich dich mit der Leier preisen, Gott, mein Gott! Ein Sehnsuchtspsalm. Was für ein Spannungsbogen liegt darin! Hier die verzehrende Sehnsucht nach dem Lebendigen dort die höhnische Frage: Wo bleibt nun dein Gott? Genau in diesem Spannungsfeld leben doch auch wir, liebe Gemeinde! Wir spüren, dass uns das Vordergründige bei allem Überfluss nicht satt macht, sehnen uns nach mehr! Der Psalmdichter kleidet das Sehnen in starke Bilder. Das Lechzen der Seele nach Gott vergleicht er mit dem Bild des Hirschs, der am ausgetrockneten Bach steht und nach frischem Wasser schreit. Diese Sehnsucht ist ein brennender Durst nach dem Lebendigen, weit entfernt von einem sog. religiösen Bedürfnis. Hier schreit ein Mensch nach Gott, weil er ohne IHN nicht leben kann, sondern vor Durst verschmachtet. Auf der anderen Seite begegnen wir denen, die scheinbar ganz gut ohne Gott leben können. Mit ihrem Kinderglauben haben sie gleich die Sache selbst über Bord geworfen. Sie haben Gott abgeschrieben, suchen nichts weiter. Haben sie einfach keine Begabung für das Göttliche? Fehlt ihnen gar ein Gottes-Gen? Oder wurden sie von der Kirche enttäuscht? Vielleicht fühlen wir uns selber hin und her gerissen. Unsere Welt macht es uns ja wirklich nicht leicht, an Gott zu glauben. Darum quält uns die Frage auch: Wo ist denn nun dein Gott? Vieles steht in der Zeitung, welches diese Frage stellt. Diese Woche etwa die Terroranschläge in Mumbai. Die widerlichen Machenschaften im Medienimperium von Rupert Murdoch, die gegenwärtig aufgedeckt werden. Die drohende Hungerkatastrophe am Horn von Afrika. Dazu eigene Erfahrungen von Krankheit, von Unfällen und erlebtem Unrecht. Wo bleibt denn da Gott? 11 Wie Mord ist es in meinen Gebeinen, wenn meine Bedränger mich verhöhnen, da sie allezeit zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?

3 Es ist so: Wenn wir an der Wirklichkeit des lebendigen Gottes festhalten, tauschen wir dadurch kein bequemeres Leben ein. Der Glaube an Gott ist kein Ruhekissen, welches das Leben gegen alle Stösse abfedert. Zweifel sind inbegriffen, Anfechtungen gehören dazu. Manchmal kennen wir Gottes Willen, manchmal kennen wir nichts Manchmal sehen wir Gottes Zukunft, manchmal sehen wir nichts Manchmal spüren wir Gottes Liebe, manchmal spüren wir nichts Und dennoch bleiben wir auf der Suche. Dazu ein Gedicht von Günter Kunert 1. Ich bin ein Sucher eines Weges. Zu allem was mehr ist als Stoffwechsel Blutkreislauf Nahrungsaufnahme Zellenzerfall. Ich bin ein Sucher eines Weges der breiter ist als ich. Nicht zu schmal. Kein Ein-Mann-Weg. Aber auch keine staubige, tausendmal überlaufene Bahn. Ich bin ein Sucher eines Weges. Sucher eines Weges für mehr als mich. Wir bleiben Sucherinnen und Sucher nach dem Mehr. Wir leben eben nicht vom Brot allein (Matthäus 4,4). Hilfreich für uns sind da Erfahrungen anderer Gottsucherinnen und sucher. Auch von unserem Psalmdichter können wir lernen. Es lohnt sich, ihm noch näher zuzuhören! Seinen Worten ist zu entnehmen, dass sein Gottesglaube schwer angefochten ist. Vereinsamt und ins Elend gestossen hält er Zwiesprache mit seiner kummervollen Seele: 3 Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott. 1 Günter Kunert: Unruhiger Schlaf. Gedichte, 1979, S. 20, Dtv, vgl. Pr. Stud. I,2 1996/97 S. 230, einer der vielseitigsten und bedeutendsten Gegenwartsschriftsteller in Deutschland, geb

4 Wann darf ich kommen und Gottes Angesicht schauen? ( ) 9 Bei Tag seufze ich: Dass doch der Herr seine Gnade sende! Und des Nachts singe ich ihm und flehe zu dem Gott meines Lebens. 10 Warum muss ich trauernd umhergehen bedrängt vom Feind? Martin Buber übersetzt treffend: warum muss ich düsterfarb gehn Ja, düsterfarbig so wird es in ihm ausgesehen haben. Es tut ihm gut, all dies auszusprechen. Und dann geht sein Selbstgespräch in die direkte Anrede an Gott über. Liebe Gemeinde, unser Sehnsuchtspsalm ist zugleich ein Trostpsalm. Wissen Sie warum? Das, was den Sucher so bedrückt und bedrängt, hat ein Gegenüber! Lechzen, dürsten, seufzen, flehen und Tränen all dies geschieht nicht im leeren Raum der Unendlichkeit, sondern vor dem verborgenen Antlitz des Ewigen. Dieses Gegenüber, dieses DU ist das grosse Geschenk, das uns die biblischen Texte (und ganz besonders die Psalmen) erschliessen. Das, was unsere Sehnsucht echt stillen kann ist ein ansprechbares DU. IHM, diesem geheimnisvollen, oftmals verborgenen Gegenüber kann ich alles sagen. Klage, Bitte, Dank und Jubel, auch Zweifel, Verzweiflung, Auflehnung Gott hält das aus. Gott hält uns aus. 42, 2 Wie der Hirsch lechzt an versiegten Bächen, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. ( ) 10 Ich spreche zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? ( ) 43 1 Schaffe mir Recht, Gott, und führe meine Sache gegen treuloses Volk, errette mich vor falschen und bösen Menschen. 2 Du bist der Gott meiner Zuflucht. Warum hast du mich verstossen? Warum muss ich trauernd umhergehen, bedrängt vom Feind? 3 Sende dein Licht und deine Treue, sie sollen mich leiten, mich bringen zu deinem heiligen Berg, zu deinen Wohnungen. 4 So will ich hineingehen zum Altar Gottes, zum Gott meiner Freude. Jauchzend will ich dich mit der Leier preisen, Gott, mein Gott! Und zwischendurch das Erlebnis: Unser Suchen und Fragen nach dem Lebendigen wird erhört! Es kommt eine Antwort von diesem Gegenüber her, überraschend vielleicht, möglicherweise anders als erwartet, aber die Erfahrung: unser Sehnen ging nicht ins Leere! Die endgültige Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott kann uns zwar hier und jetzt nie ganz erfüllt werden. Diese erwartet uns später, wie Paulus in seinem Hohelied der Liebe bezeugt, wenn er sagt: Jetzt sehen wir alles in einem (undeutlichen) Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin. (1. Korinther 13,12) Wenn unser Psalmbeter nach Gemeinschaft mit dem Lebendigen fragt, hofft er wohl zunächst, dass er wieder am Tempelgottesdienst teilnehmen kann.wann darf ich kommen und Gottes Angesicht schauen?

5 Doch darüber hinaus höre ich in seiner Frage die Sehnsucht nach einer endgültigen, unmittelbaren Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Erstaunlich: der Psalmist fragt nicht, ob er jemals zu einer solchen Gottesschau gelange. Nein, er fragt bloss nach dem Zeitpunkt, an dem sich seine Sehnsucht erfüllen wird. Wann darf ich kommen und Gottes Angesicht schauen? Daran sehen wir, wie tief die Sehnsucht in ihm verankert ist, aber auch, dass ihm das göttliche Gegenüber gewiss ist, selbst in seiner düsterfarbenen Situation, in der er sich befindet. Mein Fels, so spricht der Beter von ihm. Ein fester Haltegriff im Strom der Ereignisse. 10 Ich spreche zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd umhergehen, bedrängt vom Feind? Wenn unser Gottsucher das göttliche DU als Fels anspricht, zeigt er uns: auch wenn er momentan nichts merkt von seinem Gegenüber, ist er dennoch von der Existenz des Lebendigen überzeugt. Solches können wir von unserem unbekannten Psalmdichter lernen, liebe Gemeinde. Ich wünsche Ihnen, dass Sie das göttliche DU für sich selbst neu entdecken können. Denn St. Exupéry behält recht: Es gibt nur ein Problem, ein einziges in der Welt: Wie kann man den Menschen einen geistigen Sinn, eine geistige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie herabrieseln lassen, was einem Gregorianischen Gesang gleicht? Man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Auch wir können es nicht. Wir brauchen mehr. Halten wir darum unsere Sehnsucht nach dem Göttlichen lebendig. Schenken wir ihr Beachtung und lassen wir uns von ihr leiten. Sie ist ein kostbares Instrument. In ihr liegt die Quelle zur Erneuerung. Mit dieser Sehnsucht ist das Eingeständnis verbunden: Wir allein, nur auf uns gestellt, gehen in die Irre. Darum am Schluss die Bitte an den Lebendigen: 3 Sende dein Licht und deine Treue, sie sollen uns leiten, uns bringen zu deinem heiligen Berg, zu deinen Wohnungen. Amen Zwischenspiel Predigtlied 661,1-4 Allgenugsam Wesen Wir singen das Predigtlied: Lied 661. Allgenugsam Wesen Gerhard Tersteegen, ein christlicher Mystiker, hat es geschrieben. Unsere Namen für Gott greifen immer zu kurz. Tersteegen nennt das göttliche Geheimnis: All-genugsam-Wesen.

6 Fürbitten mit tönen dazwischen + Unser Vater Wir beten: Gott, Dein Geheimnis ist gross, wir können es nicht fassen. Du bist grösser als unsere Vorstellungen von Dir, gehst über all unsere Worte und Begriffe, Gott: unendlich, ewig, Vater, Mutter, selbst in einem Kind erschienen Wir bitten Dich für die Kinder, hier in unserer Gemeinde, für die Kinder, die jetzt im Sommerlager auf dem Hartlisberg sind, für alle Kinder in unserem Land und in jedem Land der Welt, dass sie Dich kennen lernen, dass sie im Vertrauen aufwachsen können, dass Du, Lebendiger, auf all ihren Wegen bei ihnen bist. Wir bitten für uns Erwachsene, hier und überall. Gott, wir haben ja noch grössere Hindernisse zu überwinden als die Kinder, damit wir unser Leben aus dem Vertrauen zu Dir gestalten können. Rufe uns aus unseren eingeengten Sichtweisen heraus, heraus aus unserem kurzfristigen Nützlichkeits-Denken, das baut auf das, was man vor der Nase hat, schenke uns einen weiten Horizont, ein freies Herz und einen langen Atem. Wir bitten Dich für alle, welche es in diesen Tagen schwer haben, hier bei uns und überall, weil sie in Trauer sind oder krank, weil sie in ihrer Beziehung oder im Beruf keine Zukunft sehen. Gib ihnen Mitmenschen an die Seite, die ihnen gut tun, lass sie das Wunder eines neuen Anfangs erleben. Wir bitten für den Frieden auf der Welt, dass die Spirale von Hass und Gewalt unterbrochen wird, dass Völker lieber zusammen Fussball spielen als sich zu bekriegen, dass Gerechtigkeit wächst und die Rücksichtnahme aufeinander zunimmt. Zusammen beten wir: Unser Vater im Himmel...