Rechtsgutachten. erstattet für den AStA der Universität Bochum
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1 Rechtsgutachten zur Frage der Anwesenheitspflicht bei Lehrveranstaltungen erstattet für den AStA der Universität Bochum durch Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler, Fachanwalt für Verwaltungsrecht Münster, Oktober 2010
2 A Sachverhalt und Fragestellung Eines der zentralen Themen der Studierendenproteste war die Verpflichtung zur regelmäßigen Teilnahme an Lehrveranstaltungen, vor allem die Pflicht zur Teilnahme an Vorlesungen und Übungen. Der AStA der Universität Bochum bittet um die Beantwortung der Frage, welche Grenze für eine solche Verpflichtung zur regelmäßigen Anwesenheit von Studierenden in Lehrveranstaltungen besteht und inwieweit eine solche Anwesenheitspflicht mit dem Recht auf Studierfreiheit vereinbar ist. B Gutachten Im Folgenden soll zunächst erstellt werden, ob und in welchem Umfang Studierenden ein grundrechtlicher Schutz auf Gewährleistung einer Studierfreiheit zukommt (I.), ferner soll zur Frage der Einschränkbarkeit eines solchen Rechtes Stellung genommen werden (II.) und schließlich im Hinblick auf den speziellen Fall der Teilnahmepflicht nachgegangen werden (III.). I. Studierfreiheit Die Möglichkeit besteht, dass die Studierenden Anspruch auf Beachtung des ihnen zukommenden Rechtes auf Freiheit des Studiums haben. Dieses Recht ist in 4 Abs. 4 HRG verbürgt. Darin heißt es: Die Freiheit des Studiums umfaßt, unbeschadet der Studien- und Prüfungsordnungen, insbesondere die freie Wahl von Lehrveranstaltungen, das Recht, innerhalb eines Studiengangs Schwerpunkte nach eigener Wahl zu bestimmen, sowie die Erarbeitung und Äußerung wissenschaftlicher und künstlerischer Meinungen. Ebenso 4 Abs. 2 S. 3 Hochschulgesetz NRW. Weshalb diese Studierfreiheit darüber hinaus durch Grundrechte verbürgt ist, ist umstritten. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seinem Beschluss vom , Az.: 6 B 32/98, DVBl 1999, 795, offen gelassen. So wird zum einen die Auffassung vertreten, dieses Grundrecht der Freiheit des Studiums sei aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG abzuleiten, in diesem Sinne OVG NW, Urteil vom , Az.: VI A 1957/77, DÖV 1979, 418, Kempen in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 2004, S. 1, 7 und 31, und andererseits die Auffassung vertreten wird, die Studierfreiheit sei aus dem Grundrecht der Studien- und Ausbildungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG abzuleiten. Geck, VVDStRL 27, 140 (156 f.), Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 5 Abs. 3 Rn. RN 179, Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2, 4. Auflage, Rn. 3. Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, die Freiheit des Studiums beruhe sowohl auf der durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleisteten wissenschaftlichen Lernfreiheit als auch auf der durch Art. 12 Abs. 1 GG verbürgten Ausbildungsfreiheit. Die Studierfreiheit wäre damit in doppelter Weise grundrechtlich verankert, was der sowohl wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Zielsetzung des Studiums einerseits und der berufsausbildenden Zielsetzung des Studiums andererseits entspricht. In diesem Sinne: Lüthje in: Denninger, Hochschulrahmengesetz, 184, 3 Rn. 45.
3 Zu den Elementen der Studierfreiheit gehört dabei etwa das Recht auf die freie Wahl von Lehrveranstaltungen. Sie umfasst damit grundsätzlich das Recht auf Zugang zu allen Lehrveranstaltungen, für die nicht wegen ihrer besonderen Zweckbestimmung, zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit oder zum Schutz anderer Rechtsgüter besondere Zugangsvoraussetzungen bestehen. Der Anspruch ist zwar auf das Lehrangebot der Hochschule beschränkt, deren Mitglied der Studierende ist, keineswegs aber auf das Lehrangebot des Studiengangs oder des Fachbereichs, so dass der Studierende das Recht hat, grundsätzlich an allen Lehrveranstaltungen aller Studiengänge und Fachbereiche teilzunehmen. Zur Studierfreiheit gehört ferner das Recht innerhalb eines Studiengangs Schwerpunkte nach eigener Wahl zu bestimmen, wobei dies durch Prüfungs-/ Studienordnungen begrenzt und zugleich gewährleistet wird. Schließlich ist zur Studierfreiheit auch das Recht auf Erarbeitung und Äußerung wissenschaftlicher und künstlerischer Meinungen zu rechnen. II. Einschränkungen der Studierfreiheit Die Studierfreiheit wird durch Prüfungs- und früher auch Studienordnungen begrenzt. Alle Prüfungen, die den Nachweis erworbener Fähigkeiten für die Aufnahme eines Berufes erbringen sollen, greifen in die Freiheit der Berufswahl ein und beschränken mithin die Ausbildungsfreiheit. Sie müssen den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügen. Daraus folgt, dass die maßgeblichen Leistungsanforderungen und Bewertungskriterien gesetzlich zu regeln sind. Insoweit sieht das Hochschulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen in 64 Hochschulgesetz eine Ermächtigung zum Erlass von Prüfungsordnungen vor, wobei den Hochschulen umfangreiche gesetzliche Vorgaben gemacht werden. Aus der grundrechtlichen Fundierung der Studierfreiheit folgt, dass die Beschränkungen des beruflichen Fortkommens durch Prüfungen nach Art und Umfang nicht ungeeignet, unnötig oder unzumutbar sein dürfen, Niehues Schul- und Prüfungsrecht, Band 2, 4. Auflage. Diese Beschränkungen für Prüfungsordnungen sind damit Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieser folgt je nach Sichtweise entweder aus den Grundrechten selbst oder aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 2 und 3 GG. Die Regelungen sind nur dann verhältnismäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sind. Eine Einschränkung ist mithin nur dann geeignet, wenn die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der mit der Regelung erstrebte Erfolg eintritt, der Erfolg also gefördert wird. Da die Beurteilung, ob eine Regelung in dieser Weise geeignet ist, mit prognostischen Elementen verbunden ist, räumt die Rechtsprechung dem Normgeber einen Gestaltungs- oder Einschätzungsspielraum ein. Eine Regelung wird deshalb nur dann als ungeeignet angesehen, wenn sie evident ungeeignet ist, BVerwGE 39, 210 (230), und sich die Prognose des Gesetzgebers nicht als vertretbar ansehen lässt. Der Gesetzgeber darf dabei sogar Konzepte erproben, muss aber umgekehrt bei Fehlprognosen nachbessern. Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört ferner, dass die Regelung erforderlich sein muss. Erforderlichkeit bedeutet, dass das zur Erreichung des Erfolgs mildeste Mittel gleicher Wirksamkeit eingesetzt werden muss. Eine solche Wirksamkeit erfordert entsprechend dem Begriff der Eignung dieselbe Steigerung der Erfolgswahrscheinlichkeit. Schließlich muss die Regelung auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein: Die Beeinträchtigungen dürfen nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen. Sie müssen bei einer Gesamtbewertung angemessen und für den Betroffenen zumutbar sein.
4 III. Verhältnismäßigkeit der Pflicht zur regelmäßigen Anwesenheit in Lehrveranstaltungen Anwesenheitspflichten beschränken nach alledem die Freiheit des Studiums. Je umfassender Pflichten zur Anwesenheit bestimmter Veranstaltungen normiert sind, desto geringer sind die Möglichkeiten eines Studierenden Veranstaltungen anderer Fachbereiche, anderer Studiengänge oder auch anderer Schwerpunktbereiche des eigenen Faches zu besuchen. Sie schränken damit automatisch die Studierfreiheit ein und sind deshalb rechtfertigungsbedürftig. Diese Rechtfertigungsbedürftigkeit von Anwesenheitspflichten stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Modularisierung der Studiengänge, 60 Abs. 3 Hochschulgesetz. In modularisierten Bachelorund Masterstudiengänge wird das Erreichen der Kompetenzziele eines Moduls durch einen oder mehrere Leistungsnachweise dokumentiert, die einem landeseinheitlichen Leistungspunktsystem entsprechen. Damit treten diese studienbegleitenden Prüfungen an die Stelle des früheren Systems von Nachweisen von Studienleistungen einerseits und Prüfungsleistungen andererseits. Ein Teilnahmenachweis ist in diesem Sinne gerade kein Leistungsnachweis und entspricht insoweit nicht dem System studienbezogener Prüfungen. Etwas anderes mag dort gelten, wo gerade die Teilnahme an einer Veranstaltung der einzige Nachweis für eine Auseinandersetzung des Studierenden mit der Thematik der Lehrveranstaltungen bedeuten kann. Das ist etwa bei Laborpraktika, Exkursionen, Kolloquien und ähnlichen Projekten der Fall. In solchen Bereichen kann auch im Rahmen einer Modularisierung weiterhin ein Teilnahmenachweis erforderlich sein. Anders hingegen bei Vorlesungen und Übungen, die der Vermittlung von Kenntnissen und Methoden durch den Dozenten dienen. Hier ist eine Verpflichtung zur regelmäßigen Anwesenheit der Studierenden zur Erreichung des Lernziels regelmäßig nicht erforderlich. Das Selbststudium ist gerade für ein universitäres Studium kennzeichnend. Es ist gerade Zweck der universitären Studienorganisation, den Studierenden die Möglichkeiten des Selbststudiums zu geben. 58 Abs. 2 S. 2 Hochschulgesetz erlegt den Hochschulen sogar die Verpflichtung auf, Maßnahmen zur Förderung des Selbststudiums zu treffen. In diesem Sinne sei darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung einzelner Module oder Lehrveranstaltungen als Pflichtveranstaltung nicht zur Folge hat, dass die Studierenden die Verpflichtung zur regelmäßigen Anwesenheit haben. Der Begriff der Pflichtveranstaltung bedeutet allein, dass die Studierenden sich die Kompetenzen eines solchen Moduls für einen erfolgreichen Abschluss aneignen müssen und diese Aneignung der Kompetenzen durch eine Prüfung nachzuweisen haben. IV. Zusammenfassung Die Verpflichtung zur regelmäßigen Anwesenheit bei Lehrveranstaltungen stellt sich als Eingriff in die grundrechtlich geschützte und einfach gesetzlich gewährleistete Studierfreiheit dar. Anwesenheitspflichten sind deshalb rechtfertigungsbedürftig. Sie müssen einem gesetzlichen Zweck dienen und gleichzeitig verhältnismäßig sein. Sie müssen mithin geeignet sein, einen gesetzlichen Zweck zu fördern, sie müssen erforderlich sein und dürfen nicht außer Verhältnis zu dem erstrebten Zweck stehen. Im Ansatz ist bereits zweifelhaft, ob Leistungsnachweise bei Lehrveranstaltungen von Ausnahmen wie Praktika und Exkursionen einmal abgesehen überhaupt mit dem gesetzlichen Zweck der Modularisierung von Lehrveranstaltungen und dem Nachweis von Prüfungsleistungen im Rahmen eines vereinheitlichten Leistungspunktsystems vereinbar sind. Anwesenheitspflichten sind typische Studienleistungen, wie sie für Diplom- und Magisterstudiengänge kennzeichnend waren und im Rahmen von Staatsexamensstudiengängen nach wie vor kennzeichnend sind. Im Bereich der Bachelor- und Masterstudiengänge ist an die Stelle derartiger Studienleistungen jedoch ein studienbegleitendes Prüfungssystem getreten. In diesem Sinne haben Anwesenheitspflichten keinen
5 Prüfungscharakter mehr. Jedenfalls sind Anwesenheitspflichten bei Lehrveranstaltungen grundsätzlich nicht erforderlich, da die Studierenden ohnehin im Rahmen der Modulprüfung das erworbene Wissen nachzuweisen haben. Achelpöhler Rechtsanwalt
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