Also so ein kleines bisschen ist Otto

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1 derfahrgast Aktuell Debatte Vom Für und Wider der 1. Klasse im Nahverkehr Fotos: Deutsche Bahn AG (3) Nur selten, wie etwa hier auf der Schwarzwaldbahn, bietet die 1. Klasse im Nahverkehr wirklich mehr Komfort. Oftmals voll bepackt: der NRW-Express. Also so ein kleines bisschen ist Otto Kalinowski schon verärgert, wenn er wie jeden Werktag frühmorgens den RE 1 NRW-Express im Abschnitt zwischen Düsseldorf und Dortmund betritt. Denn an den Tag, an dem er auf An - hieb einen Sitzplatz gefunden hat, an den kann er sich schon gar nicht mehr erinnern. Zwar wird er meistens irgendwo nach langem Suchen dann doch fündig, aber angenehm ist die alltägliche Jagd nach den harten Sitzen nicht wirklich. Richtig frustrierend wird es allerdings immer dann, wenn der Weg durch die Doppelstockwagen an jenem Oberdeck endet, an dem unmissverständlich die Eins auf der Türe klebt. Wie schön es nun wäre, wenn man sich hier auch mit den ganz normalen Monatskarten hinsetzen könnte. Zumal so wirkt es zumindest auf Kalinowski die meiste Zeit eh die Hälfte der Sitzplätze ungenutzt bleibt. Natürlich könnte er die Monatskarten jeden Tag mit Zusatztickets aufwerten und die 1. Klasse dann nutzen, aber neben dem großen Aufwand (als Monatskarten sind die Zusatztickets nicht erhältlich) geht das auch ganz schön ins Geld. Mehr Komfort? Würde man bei ihm nachfragen, wo eigentlich der Komfortunterschied zwischen der 1. und der 2. Klasse liegt, käme keine Antwort. Denn der wahrnehmbare Unterschied zwischen hier und dort erstreckt sich ausschließlich auf die Farbe der Sitze. An der einen Stelle dunkelblaue Sitze mit hellblauen Quadraten, an der anderen Stelle hellblaue Sitze mit dunkelblauen Quadraten. Gerade im Nahverkehr fehlt all das, was im Fernverkehr die 1. Klasse ausmacht. Zugegebenermaßen macht die persönliche Betreuung am Platz im Nahverkehr keinen Sinn, aber vielleicht wären ja bequemere Sitze, ein kleines Tischchen und etwas mehr Beinfreiheit trotzdem möglich. Einige Privatbahnen zeigen es durchaus auch im Nahverkehr auf, dass kundenfreundlichere Ausstattungen möglich sind. Am Ende doch ein Freund der 1. Klasse Vielleicht liegt der Luxus darin, dass hier nicht jeder sitzen darf, lacht Kalinowski und meint es trotzdem ernst. König Fußball wird von der Deutschen Bahn AG gesponsert, ist für viele Fahrgäste aber ein guter Grund zur Flucht in die 1. Klasse. Denn neulich, es war ausnahmsweise nicht an einem Werktag, sondern an einem Wochenende, fanden an Rhein und Ruhr mal wieder zahlreiche Fußballspiele statt. Man spielte in Dortmund und auf Schalke, in Wattenscheid, in Mönchengladbach und sogar in Düsseldorf. Trotzdem wollte Kalinowski seine Tochter in Gelsenkirchen besuchen. Da war es dann mehr als angenehm, in der 1. Klasse zu sitzen, und das Zusatzticket war es mehr als nur wert. Denn was ist größerer Luxus, als nicht mit Fußballfans in einem Wagen reisen zu müssen? Deshalb klagt er unterm Strich auch nicht. Er akzeptiert, dass es selbst im übervollen NRW-Express einen Bereich gibt, in den nicht jeder einfach so rein kann. Stattdessen freut sich Kalinowski nicht nur auf seine nächste Reise an die Nordsee, die er zwar im RE, aber angesichts der langen Strecke erstklassig zurücklegen wird, sondern auch auf den 12. Januar An diesem Tag wird Otto Kalinowski 60 Jahre alt. Und ab diesem Tag darf er mit dem Bärenticket fahren. So heißt nämlich das Seniorenticket des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr. Und es erlaubt die Bären haben es sich schließlich verdient die Nutzung der 1. Klasse im Nahverkehr. Sind Sie für oder gegen eine Abschaffung der 1. Klasse im Nahverkehr? Schreiben Sie uns Ihre Meinung als Leserbrief an: leserbriefe@der-fahrgast.de 6 derfahrgast 3/2012

2 Aktuell derfahrgast Soll die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden? Pro Contra Um die Frage, ob die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden muss, wirklich seriös beantworten zu können, muss man sich zunächst mit der Frage beschäftigen, welche Aufgaben die Bahn im Wesentlichen und Allgemeinen hat. Wenn man sich dem neoliberalen Zeitgeist und den damit verbundenen Verirrungen vom Wettbewerb mit Fluglinien oder Luxusautos entzieht und sich der Tatsache widmet, dass die Bahn vorrangig und ausschließlich eine soziale Aufgabe hat, dann kann man nur zur Erkenntnis kommen: Eine Bahn, die für alle Menschen eine Mobilitätsversorgung sicherstellt, verzichtet zugunsten von preiswerten Strukturen auf jeglichen Schnickschnack. Und die 1. Klasse ist Schnickschnack! Oftmals gar nur mit Luft gefüllt oder mit Menschen besetzt, die durch ihre finanzielle Situation ohnehin nicht auf die soziale Bahn angewiesen sind, reduziert sie eine möglichst effiziente Auslastung, insbesondere dann, wenn die Werktätigen viele sehr berechtigte Ansprüche auf einen Sitzplatz im Vorfeld der Arbeitsschicht stellen. Und wie kann es eigentlich sein, dass hart arbeitende Menschen morgens vor der Arbeit und abends nach der Arbeit in Zügen stehen müssen, während in der 1. Klasse guter Platz zur Verfügung steht? Auch für Familien ist es besser, wenn möglichst viel Raum für preiswerte Beförderung vorhanden ist. Und niemand kann wohl etwas dagegen haben, wenn es darum geht, Familien als soziale Keimzelle der Gesellschaft auch im öffentlichen Verkehr wirklich zu fördern. Es wäre besser, die 1. Klasse-Wagen konsequent durch 2. Klasse-Wagen zu ersetzen. Denn die 1. Klasse-Wagen können, beispielsweise durch mangelnde Länge von Bahnsteigen, nicht zusätzlich mitgefahren werden, sondern nehmen den normalen Wagen immer Platz weg. Die Bahn hat eine soziale Aufgabe. Niemand kann sich dieser Tatsache entziehen. In dieser sozialen Aufgabe steht die preiswerte Beförderung der normalen Bevölkerung über allem anderen. Doch diese preiswerte Beförderung für alle braucht ihren Raum. Die 1. Klasse steht diesem Prinzip im Wege. Deshalb: Weg mit der 1. Klasse! Soll die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden? Von mir ein klares Nein! Zunächst müsste erst geklärt werden: Was ist Nahverkehr? Ist es das, was der Gesetzgeber beschreibt? Ist es all das, was die Aufgabenträger bestellen? Oder wird Nahverkehr von den Produkten der Unternehmen definiert? Alles in allem eine schwierige Unterscheidung. Die S-Bahn zwischen München Hbf und Freising ist sicher ohne Zweifel Nahverkehr, aber eine Regionalbahn zwischen München und Passau, die für fast 200 Kilometer immerhin 2:15 Stunden unterwegs ist? Oder ist die Nordwestbahn zwischen Wilhelmshaven und Osnabrück, die für die 165 Kilometer ebenfalls 2:15 Stunden braucht, Nahverkehr? Oder um ein anderes Beispiel aus dem Norden zu nehmen: Der RE zwischen Hannover und Norddeich Mole, der im Takt alle zwei Stunden über eine Entfernung von 283 Kilometern bei einer Fahrzeit von vier (!) Stunden fährt. Ganz schwierig wird die Einordnung zum Nahverkehr, wenn dieser RE ab Ende 2013 im konsequenten stündlichen Wechsel zu einem IC (bauartähnlich mit dem RE!) verkehrt und ab Bremen dieser IC quasi als Nahverkehrszug verkehrt. Dann würde es bei Abschaffung der 1. Klasse im Nahverkehr in der einen Stunde ein 1. Klasse-Angebot geben und in der nächsten Stunde nicht. Aus Fahrgastsicht völlig inakzeptabel. Auch wer in einem Nahverkehrszug unterwegs ist, möchte unter Umständen die Vorteile der 1. Klasse genießen, aus welchen Gründen auch immer. Wenn heute so mancher Nahverkehrszug mit einem leeren 1. Klasse-Abteil durch die Gegend fährt, dann nicht zuletzt deswegen, weil der Komfortunterschied einfach zu gering ist. Kein größerer Sitzabstand, keine bequemeren Sitze oder fehlende Steckdosen sind aus meiner Sicht Gründe, die viele Fahrgäste auf die 1. Klasse verzichten lassen. Ein über 50 Prozent höherer Fahrpreis für kaum mehr Komfort, wer ist dazu schon bereit? Deshalb bin ich dafür, die 1. Klasse in Nahverkehrszügen nicht abzuschaffen. Im Gegenteil, ich bin dafür, den Komfort zu erhöhen und damit die Nachfrage, die meiner Ansicht nach durchaus vorhanden ist, anzukurbeln. Manfred Müller Manfred Terhardt derfahrgast 3/2012 7

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4 Aktuell derfahrgast Soll die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden? Pro Contra Um die Frage, ob die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden muss, wirklich seriös beantworten zu können, muss man sich zunächst mit der Frage beschäftigen, welche Aufgaben die Bahn im Wesentlichen und Allgemeinen hat. Wenn man sich dem neoliberalen Zeitgeist und den damit verbundenen Verirrungen vom Wettbewerb mit Fluglinien oder Luxusautos entzieht und sich der Tatsache widmet, dass die Bahn vorrangig und ausschließlich eine soziale Aufgabe hat, dann kann man nur zur Erkenntnis kommen: Eine Bahn, die für alle Menschen eine Mobilitätsversorgung sicherstellt, verzichtet zugunsten von preiswerten Strukturen auf jeglichen Schnickschnack. Und die 1. Klasse ist Schnickschnack! Oftmals gar nur mit Luft gefüllt oder mit Menschen besetzt, die durch ihre finanzielle Situation ohnehin nicht auf die soziale Bahn angewiesen sind, reduziert sie eine möglichst effiziente Auslastung, insbesondere dann, wenn die Werktätigen viele sehr berechtigte Ansprüche auf einen Sitzplatz im Vorfeld der Arbeitsschicht stellen. Und wie kann es eigentlich sein, dass hart arbeitende Menschen morgens vor der Arbeit und abends nach der Arbeit in Zügen stehen müssen, während in der 1. Klasse guter Platz zur Verfügung steht? Auch für Familien ist es besser, wenn möglichst viel Raum für preiswerte Beförderung vorhanden ist. Und niemand kann wohl etwas dagegen haben, wenn es darum geht, Familien als soziale Keimzelle der Gesellschaft auch im öffentlichen Verkehr wirklich zu fördern. Es wäre besser, die 1. Klasse-Wagen konsequent durch 2. Klasse-Wagen zu ersetzen. Denn die 1. Klasse-Wagen können, beispielsweise durch mangelnde Länge von Bahnsteigen, nicht zusätzlich mitgefahren werden, sondern nehmen den normalen Wagen immer Platz weg. Die Bahn hat eine soziale Aufgabe. Niemand kann sich dieser Tatsache entziehen. In dieser sozialen Aufgabe steht die preiswerte Beförderung der normalen Bevölkerung über allem anderen. Doch diese preiswerte Beförderung für alle braucht ihren Raum. Die 1. Klasse steht diesem Prinzip im Wege. Deshalb: Weg mit der 1. Klasse! Soll die 1. Klasse im Nahverkehr abgeschafft werden? Von mir ein klares Nein! Zunächst müsste erst geklärt werden: Was ist Nahverkehr? Ist es das, was der Gesetzgeber beschreibt? Ist es all das, was die Aufgabenträger bestellen? Oder wird Nahverkehr von den Produkten der Unternehmen definiert? Alles in allem eine schwierige Unterscheidung. Die S-Bahn zwischen München Hbf und Freising ist sicher ohne Zweifel Nahverkehr, aber eine Regionalbahn zwischen München und Passau, die für fast 200 Kilometer immerhin 2:15 Stunden unterwegs ist? Oder ist die Nordwestbahn zwischen Wilhelmshaven und Osnabrück, die für die 165 Kilometer ebenfalls 2:15 Stunden braucht, Nahverkehr? Oder um ein anderes Beispiel aus dem Norden zu nehmen: Der RE zwischen Hannover und Norddeich Mole, der im Takt alle zwei Stunden über eine Entfernung von 283 Kilometern bei einer Fahrzeit von vier (!) Stunden fährt. Ganz schwierig wird die Einordnung zum Nahverkehr, wenn dieser RE ab Ende 2013 im konsequenten stündlichen Wechsel zu einem IC (bauartähnlich mit dem RE!) verkehrt und ab Bremen dieser IC quasi als Nahverkehrszug verkehrt. Dann würde es bei Abschaffung der 1. Klasse im Nahverkehr in der einen Stunde ein 1. Klasse-Angebot geben und in der nächsten Stunde nicht. Aus Fahrgastsicht völlig inakzeptabel. Auch wer in einem Nahverkehrszug unterwegs ist, möchte unter Umständen die Vorteile der 1. Klasse genießen, aus welchen Gründen auch immer. Wenn heute so mancher Nahverkehrszug mit einem leeren 1. Klasse-Abteil durch die Gegend fährt, dann nicht zuletzt deswegen, weil der Komfortunterschied einfach zu gering ist. Kein größerer Sitzabstand, keine bequemeren Sitze oder fehlende Steckdosen sind aus meiner Sicht Gründe, die viele Fahrgäste auf die 1. Klasse verzichten lassen. Ein über 50 Prozent höherer Fahrpreis für kaum mehr Komfort, wer ist dazu schon bereit? Deshalb bin ich dafür, die 1. Klasse in Nahverkehrszügen nicht abzuschaffen. Im Gegenteil, ich bin dafür, den Komfort zu erhöhen und damit die Nachfrage, die meiner Ansicht nach durchaus vorhanden ist, anzukurbeln. Manfred Müller Manfred Terhardt derfahrgast 3/2012 7

5 Korrekturen 1. Klasse in der S-Bahn In der Hamburger Gleichstrom/Zweisystem-S-Bahn wurde die 1. Klasse schon vor etlichen Jahren abgeschafft. Henning Piecker, Berlin Anm. d. Red.: In der Tat wurde die 1. Klasse bei der Hamburger S-Bahn schon im Jahre 2000 abgeschafft. In anderen S-Bahn-Netzen ist die 1. Klasse aber weiterhin präsent, wie ein aktuelles Foto zeigt.