Vorlesung Kindes- und Erwachsenenschutz Herbstsemester 2014
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- Astrid Bösch
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1 Kindesschutz II Vorlesung Kindes- und Erwachsenenschutz Herbstsemester 2014 Lehrstuhl für Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht unter besonderer Berücksichtigung des Familienrechts und der verfahrensrechtlichen Bezüge Prof. Dr. Margot Michel Seite 1
2 Überblick Kindesschutzverfahren Örtliche und sachliche Zuständigkeit Verfahrensbestimmungen / Anwendbares Recht Kind im Verfahren - Anhörung Kind im Verfahren - Vertretung Pflegekinderaufsicht Revision der elterlichen Sorge Ausgewählte Fragen Seite 2
3 Kindesschutzverfahren
4 Örtliche Zuständigkeit Grundsatz: Zuständigkeit am Wohnsitz des Kindes (Art. 315 Abs. 1 ZGB) Art. 25 ZGB, 41 EG KESR ZGB Alternative: Bei Kindern, die nicht bei den Eltern leben (z.b. Pflegeeltern, Heim) oder bei Gefahr im Verzug: KESB am Aufenthaltsort (Art. 315 Abs. 2 ZGB). Informationspflicht der Wohnsitzbehörde (Art. 315 Abs. 3 ZGB) Seite 4
5 Sachliche Zuständigkeit Grundsatz: KESB ist sachlich zuständig zum Erlass von Kindesschutzmassnahmen (Art. 315 Abs. 1 ZGB) Kompetenzattraktion beim Gericht bei eherechtlichen Verfahren (Eheschutz, Scheidung, Abänderungsverfahren) (Art. 31a und b ZGB) Zuständigkeit des Gerichts, das die Kinderbelange regelt; Übertragung des Vollzugs der angeordneten Kindesschutzmassnahmen auf die KESB (Art. 315a Abs. 1 und 2 ZGB) Zuständigkeit der KESB zum Abschluss eines vorher eingeleiteten Kindesschutzverfahrens und zum Erlass von sofort notwendigen Kindesschutzmassnahmen (Dringlichkeitszuständigkeit) (Art. 315a Abs. 3 ZGB) Seite 5
6 Verfahren Art. 314 ZGB 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. 2 Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern. 3 Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest. Seite 6
7 Allgemeines zum Verfahren Verweis auf die sinngemässe Anwendung der Bestimmungen zum Verfahren im Erwachsenenschutzrecht (Art. 314 Abs. 1 ZGB) Vorbehalt: spezielle Regelungen in Art. 314 ff. ZGB Gilt für alle Verfahren vor der Kindesschutzbehörde, auch solche ausserhalb des Kindesschutzes i.e.s., z.b. Adoptionsverfahren (Art. 265 ff. ZGB), Entscheidungen über gemeinsame elterliche Sorge, Obhut, Betreuungsanteile oder Besuchsrecht (Art. 298b ZGB) Verweis umfasst auch Rechtsmittel- und Vollstreckungsbestimmungen sowie subsidiäre Anwendung der ZPO Im Kindesschutzverfahren gilt damit folgende Kaskade: Art. 314 ff. ZGB Art. 443 ff. ZGB Kantonales Recht ZPO Seite 7
8 Aufforderung zur Mediation Analogie zum familienrechtlichen Verfahren der ZPO (Art. 297 Abs. 2 ZPO) Art. 314 Abs. 2 ZGB: «in geeigneten Fällen» Auffordern: mit Nachdruck empfehlen Kann nicht erzwungen werden, Aufforderung ist nicht verbindlich Während der Mediation wird das Kindesschutzverfahren sistiert Unterscheide: Mediation, die aufgrund von Art. 307 Abs. 3 ZGB angeordnet werden kann (sog. «Pflichtmediation»). Kindesschutzmassnahme, kein verfahrensrechtliches Instrument Seite 8
9 Kind im Verfahren Anhörung Art. 314a ZGB 1 Das Kind wird durch die Kindesschutzbehörde oder durch eine beauftragte Drittperson in geeigneter Weise persönlich angehört, soweit nicht sein Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen. 2 Im Protokoll der Anhörung werden nur die für den Entscheid wesentlichen Ergebnisse festgehalten. Die Eltern werden über diese Ergebnisse informiert. 3 Das urteilsfähige Kind kann die Verweigerung der Anhörung mit Beschwerde anfechten. BGer: Anhörung grundsätzlich ab 6 Jahren möglich und geboten. Anhörung dient der Sachverhaltsabklärung und ist persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht Recht auf Partizipation im Verfahren (Art. 12 UN-KRK) geht über blosse Anhörung hinaus. Seite 9
10 Kind im Verfahren - Vertretung Art. 314 a bis ZGB 1 Die Kindesschutzbehörde ordnet wenn nötig die Vertretung des Kindes an und bezeichnet als Beistand eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person. 2 Die Kindesschutzbehörde prüft die Anordnung der Vertretung insbesondere, wenn: 1.die Unterbringung des Kindes Gegenstand des Verfahrens ist; 2.die Beteiligten bezüglich der Regelung der elterlichen Sorge oder bezüglich wichtiger Fragen des persönlichen Verkehrs unterschiedliche Anträge stellen. 3 Der Beistand des Kindes kann Anträge stellen und Rechtsmittel einlegen. Seite 10
11 Stellung des Kindes im Verfahren - Vertretung hängt wesentlich von der Urteilsfähigkeit ab Urteilsfähige Minderjährige können Verfahrensrechte als höchstpersönliche Rechte selbständig wahrnehmen und auch selbst einen Vertreter bestellen (Art. 19c Abs. 1 ZGB); sonst allenfalls Ernennung einer Kindesvertretung (Art. 314a bis ZGB) im Einverständnis des Kindes die Rechte von urteilsunfähigen Kindern werden von den Eltern wahrgenommen (Art. 304 Abs. 1 ZGB); aber: häufig Interessenkollision im Kindesschutzverfahren und Wegfall der Vertretungsmacht von Gesetzes wegen (Art. 306 Abs. 2 ZGB): Notwendigkeit der Bestellung einer Kindesvertretung nach Art. Art. 314a bis ZGB Verfahrensvertretung des Kindes hat alle Verfahrensrechte Verfahrensvertretung bringt Perspektive des Kindes ins Verfahren ein; objektives Kindeswohl wird von der KESB geprüft Verfahrensvertretung muss unabhängig sein! Seite 11
12 Pflegekinderaufsicht
13 Pflegekinderaufsicht ZGB 316 ZGB (Pflegekinderaufsicht) 1 Wer Pflegekinder aufnimmt, bedarf einer Bewilligung der Kindesschutzbehörde oder einer andern vom kantonalen Recht bezeichneten Stelle seines Wohnsitzes und steht unter deren Aufsicht. 1bis Wird ein Pflegekind zum Zweck der späteren Adoption aufgenommen, so ist eine einzige kantonale Behörde zuständig. 2 Der Bundesrat erlässt Ausführungsvorschriften. Seite 13
14 Pflegekinder Pflegeverhältnis: Kind lebt nicht bei Vater oder Mutter Platzierung erfolgt durch KESB oder Eltern selbst KESB / «zuständige Behörde» - Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB): Aufenthaltsbestimmungsrecht geht auf KESB über - Spezialfall: Untersagung der Rücknahme (Art. 310 Abs. 3 ZGB) - Entziehung der elterlichen Sorge (Art. 311 ZGB) - Platzierung zum Zweck der Adoption (Art. 264 ZGB) Pflegeverhältnis steht unter der Aufsicht der «zuständigen Behörde» Art. 2 PAVO Art. 2 AdoV kantonales Recht Seite 14
15 Stellung der Pflegeeltern Recht zur Vertretung in der Ausübung der elterlichen Sorge, soweit es zur gehörigen Erfüllung ihrer Aufgaben angezeigt ist (Art. 300 Abs. 1 ZGB) Vorbehalt: andere Anordnungen (Eltern oder KESB) Anhörungsrecht der Pflegeeltern vor wichtigen Entscheidungen (Art. 300 Abs. 2 ZGB) Inhaber der faktischen Obhut Aufenthaltsbestimmungsrecht bleibt bei KESB (bei Aufhebung des elterlichen Aufenthaltsbestimmungsrechts durch die KESB nach Art. 310 ZGB), beim anderen sorgeberechtigten Elternteil (wenn Aufhebung nur gegen einen Elternteil erfolgt ist) oder bei den Eltern (bei Selbstplatzierung durch die Eltern) Anspruch auf angemessenes Pflegegeld (Art. 294 Abs. 1 ZGB) vermutete Unentgeltlichkeit bei naher Verwandtschaft oder Adoptionspflege Seite 15
16 Pflegekinderverordnung (PAVO) PAVO enthält die Ausführungsvorschriften zu Art. 316 ZGB (Pflegekinderaufsicht). bundesrechtlicher Minimalstandard Raum und Bedarf nach Konkretisierung und Erhöhung des Schutzstandards im kantonalem Recht PAVO regelt Zuständigkeiten, ergänzend kantonales Recht PAVO unterscheidet: Familienpflege (Art PAVO) Tagespflege (Art. 12 PAVO) Heimpflege (Art PAVO) Dienstleistungsangebote in der Familienpflege (Art. 20a - 20f PAVO) Seite 16
17 PAVO - Grundzüge Aufnahme von Kinder ausserhalb des Elternhauses ist: - bewilligungspflichtig - steht unter Aufsicht Kindeswohl ist vorrangig zu berücksichtigen abstrakt: Eignung der Pflegeeltern / Heim konkret: Begründung eines Pflegeverhältnisses im Einzelfall Stärkung der Stellung des Pflegekindes - altersadäquate Information über Rechte (inkl. Verfahrensrechte) - Zuweisung einer Vertrauensperson - altersadäquate Beteiligung an allen wesentlichen Entscheidungen (Recht auf Partizipation) Seite 17
18 Pflegegeld-Richtlinien ZH Seite 18
19 Revision der elterlichen Sorge - Ausgewählte Fragen -
20 Revision der elterlichen Sorge Ziel: Gleichbehandlung der Kinder unabhängig vom Zivilstand Systemwechsel: von der gemeinsamen elterlichen Sorge unverheirateter oder geschiedener Eltern als Ausnahmeregelung zur Gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall für verheiratete, geschiedene und unverheiratete Eltern Alleinige elterliche Sorge als Ausnahme nur wenn zur Wahrung des Kindeswohls nötig Seite 20
21 Grundsatz ZGB Die elterliche Sorge dient dem Wohl des Kindes. 2 Die Kinder stehen, solange sie minderjährig sind, unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Vater und Mutter. 3 Minderjährigen Eltern sowie Eltern unter umfassender Beistandschaft steht keine elterliche Sorge zu. Werden die Eltern volljährig, so kommt ihnen die elterliche Sorge zu. Wird die umfassende Beistandschaft aufgehoben, so entscheidet die Kindesschutzbehörde entsprechend dem Kindeswohl über die Zuteilung der elterlichen Sorge. Seite 21
22 Verheiratete und geschiedene Eltern Verheiratete Eltern sind beide von Gesetzes wegen Inhaber der elterlichen Sorge Bei Aufhebung des gemeinsamen Haushalts bleibt die gemeinsame elterliche Sorge bestehen das Gericht regelt Obhut, persönlicher Verkehr oder Betreuungsanteile, wenn sich Eltern nicht einigen (Art. 298 Abs. 2 ZGB) Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge, «wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist» (Art. 298 Abs. 1 ZGB) Seite 22
23 Unverheiratete Eltern Unverheiratete Eltern sind beide Inhaber der elterlichen Sorge, sofern die gemeinsame Sorge durch Urteil verfügt oder eine gemeinsame Erklärung abgegeben wurde (Art. 298a Abs. 1 ZGB). Zuständigkeit für Entgegennahme der Erklärung (Art. 298a Abs. 4 ZGB): vor der Geburt: Zivilstandsamt nach der Geburt: KESB Inhalt der Erklärung: Bestätigung über Einigung über gemeinsame Übernahme der Verantwortung, die Obhut, den persönlichen Verkehr oder die Betreuungsanteile sowie den Kindesunterhalt Wenn keine Erklärung vorliegt, steht die elterliche Sorge allein der Mutter zu (Art. 298a Abs. 5 ZGB). Seite 23
24 Entscheid der Kindesschutzbehörde Art. 298b ZGB 1 Weigert sich ein Elternteil, die Erklärung über die gemeinsame elterliche Sorge abzugeben, so kann der andere Elternteil die Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes anrufen. 2 Die Kindesschutzbehörde verfügt die gemeinsame elterliche Sorge, sofern nicht zur Wahrung des Kindeswohls an der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter festzuhalten oder die alleinige elterliche Sorge dem Vater zu übertragen ist. 3 Zusammen mit dem Entscheid über die elterliche Sorge regelt die Kindesschutzbehörde die übrigen strittigen Punkte. Vorbehalten bleibt die Klage auf Leistung des Unterhalts. 4 Ist die Mutter minderjährig oder steht sie unter umfassender Beistandschaft, so weist die Kindesschutzbehörde die elterliche Sorge dem Vater zu oder bestellt dem Kind einen Vormund, je nachdem, was zur Wahrung des Kindeswohls besser geeignet ist. Seite 24
25 Frage Wann ist es nötig, zur Wahrung des Kindeswohls an der alleinigen elterlichen Sorge festzuhalten? wenn ein Entzug der elterlichen Sorge gerechtfertigt wäre (Art. 311 ZGB)? So Botschaft auch aus milderen Gründen? Z.B. eskalierter Dauerkonflikt, offenbarer Rechtsmissbrauch (ges als Kontroll- und Machtinstrument), überhaupt keine Einigung in den wesentlichsten Punkten der Sorgerechtsausübung, weitere? allein massgebend ist das Kindeswohl Seite 25
26 Elterliche Sorge - Inhalt Art. 301 ZGB 1 Die Eltern leiten im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung und treffen unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen. 1bis Der Elternteil, der das Kind betreut, kann allein entscheiden, wenn: 1. die Angelegenheit alltäglich oder dringlich ist; 2 unverändert 3 unverändert 4 unverändert 2. der andere Elternteil nicht mit vernünftigem Aufwand zu erreichen ist. Seite 26
27 Frage Was sind alltägliche Angelegenheiten? Bundesrat will objektiven Massstab anlegen. Kasuistik? Seite 27
28 Bestimmung des Aufenthaltsortes Art. 301a ZGB 1 Die elterliche Sorge schliesst das Recht ein, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. 2 Üben die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam aus und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so bedarf dies der Zustimmung des andern Elternteils oder der Entscheidung des Gerichts oder der Kindesschutzbehörde, wenn: a. der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt; oder b. der Wechsel des Aufenthaltsortes erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den andern Elternteil hat. Übt ein Elternteil die elterliche Sorge allein aus und will er den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so muss er den anderen Elternteil rechtzeitig darüber informieren. 4 Dieselbe Informationspflicht hat ein Elternteil, der seinen eigenen Wohnsitz wechseln will. 5 Soweit dies erforderlich ist, verständigen sich die Eltern unter Wahrung des Kindeswohls über eine Anpassung der Regelung der elterlichen Sorge, der Obhut, des persönlichen Verkehrs und des Unterhaltsbeitrages. Können sie sich nicht einigen, entscheidet das Gericht oder die Kindesschutzbehörde Seite 28
29 Frage Wann hat ein Wechsel des Aufenthaltsortes erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr? Einzelfallbetrachtung? bisheriges Betreuungskonzept nicht mehr lebbar? Kriterien für die Entscheidung der KESB? Massgebend: Kindeswohl Sanktionen bei Nichteinholen der Zustimmung des anderen Elternteils bzw. Zuwiderhandeln gegen Entscheid der KESB? «Rückführung»? Nur bei Umzug ins Ausland keine Umkehr des faktisch geschaffenen Zustandes bei Umzug innerhalb der Schweiz Konflikte mit Niederlassungsfreiheit des betreuenden Elternteils Seite 29
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