9 Vorwort Clara ist noch nicht ganz drei Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Tanzstudio betritt. An der Türschwelle hält sie inne, vor ihr liegen zw

Transkript

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2 9 Vorwort Clara ist noch nicht ganz drei Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Tanzstudio betritt. An der Türschwelle hält sie inne, vor ihr liegen zweihundert Quadratmeter heller, freier Raum. Noch einen Augenblick bleibt sie stehen, dann stürzt sie mit einem Juchzen los und läuft in den Raum hinein. Durchquert ihn von einer Seite zur anderen, läuft schnell und sicher kreuz und quer. Clara strahlt über das ganze Gesicht. Schnell hat sie herausgefunden, dass sie im Kreis laufen und so ihre lustvollen Bewegungen scheinbar endlos fortsetzen kann, ohne an Grenzen zu stoßen. Das Kind läuft und läuft und läuft. Irgendwann lässt Clara sich auf den Boden fallen und bleibt entspannt auf dem Rücken liegen. Ihr Atem wird wieder ruhiger. Vielleicht spürt sie die Energie, die durch ihre Bewegung im Raum entstanden ist. Spürt ihrem Körper nach, merkt, dass ihr Herz schneller schlägt als sonst, das Blut heftiger durch ihre Adern pulsiert. Als sie aufsteht, fühlt sie sich frisch und voller Tatendrang. Immer wieder bin ich fasziniert, wenn ich Kindern zusehe, die sich völlig im Einklang mit sich selbst bewegen, voll Freude loshüpfen, vor Glück springen. Kinder strahlen eine Bewegungslust aus, die mitreißend ist. Nie mehr in unserem weiteren Leben verspüren wir eine solch spontane, unwiderstehliche und überaus lustvoll empfundene Freude am Rennen, Laufen, Klettern, Schaukeln, Balancieren, Hüpfen, Springen, Auf-dem-Boden-Rollen, Kriechen, Krabbeln, Drehen, Tanzen. Kurz: Nie haben wir mehr Freude an jeder Art von Bewegung. Tanzen ist eine Form, diesen kindlichen Bewegungsdrang auszuleben. Tanzen macht Spaß, denn es ermöglicht den Kindern, selbstbestimmt und eigenständig neue Bewegungsformen zu erforschen mal auszuprobieren, wie es ist, auf einem Bein zu

3 10 Vorwort stehen und das Gleichgewicht zu halten oder sich wie ein Kreisel zu drehen und in der Abwärtsbewegung die Schwerkraft zu spüren, oder alles verkehrt herum zu sehen, wenn der Kopf nach unten hängt. Lisa (3) steht selbstversunken da und betrachtet ihre Hände, die sie vor der Brust hält. Während andere Kinder zur Musik durch den Raum toben, dreht sie sich um ihre eigene Achse und sieht dabei unverwandt auf ihre Hände, die ihre Position nicht verändern. Lisa erlebt und erkennt, dass sich ihre Arme mit ihr mitbewegen, zu ihr gehören, keine Fremdkörper sind, die zufällig an ihr herunterhängen, sondern kontrolliert geführt werden können. Noch einige Male dreht sie sich so, dann variiert sie ihr Experiment, öffnet beim Drehen einen Arm zur Seite und führt ihn wieder zurück zur anderen Hand. Lisa erforscht mit und in der Bewegung ihren Körper und seine Position im Raum. Sie tut es spielerisch, völlig eigenständig, zweckfrei und voll Freude und arbeitet zugleich am lebenswichtigen Fundament ihrer weiteren Entwicklung. Tanzen macht mit dem eigenen Körper bekannt, mit seinen Funktionen und Möglichkeiten, seinen Fähigkeiten und auch seinen Begrenzungen. Aber, so mögen diejenigen vielleicht einwenden, die Tanzen mit der strengen Disziplin einer Ballettklasse verbinden, kann man angesichts eines losstürmenden oder dieses selbstversunkenen Kindes wirklich von Tanzen sprechen? Gehört das, was sie tun, in den Bereich des künstlerischen Tanzes, der hohe Disziplin und Körperbeherrschung verlangt? Ich meine ja. Unbedingt. Die Sensibilität für den eigenen Körper und seine Bewegungsmöglichkeiten zu wecken und zu fördern, bereitet ebenso auf den künstlerischen zeitgenössischen Tanz vor wie die Erfahrung verschiedener Dynamiken, unterschiedlicher Energien und Spannungslevel im Körper. Das kindliche In-Sich-Hineinspüren und das Experimentieren tauchen zudem in einigen Formen des modernen Tanzes

4 Vorwort 11 wieder auf, in der sensitiven Körperarbeit etwa, die viele zeitgenössische Tänzer und Tänzerinnen praktizieren, in der flüssigen und schwerelosen Release-Technik, im Body-Mind-Centering, in der Kontaktimprovisation. Zeitgenössischer Tanz umfasst viel mehr als nur die Stärkung der Muskulatur, das Dehnen der Bänder. Christine Hasting, Leiterin des Hasting Studios für modernen Tanz in München, prägte den Satz:»Vom Toben zum Tanzen ist es nur ein kleiner Schritt.«Ich habe mit wenigen Unterbrechungen mein Leben lang getanzt. Für meine Eltern war es selbstverständlich, dass ich Tanzunterricht erhielt. Fotos zeigen mich vielleicht nicht als jüngstes, sicherlich aber als kleinstes Kind beim Kindertanz: barfuß, in einem dunklen kurzärmligen Trikot, recht unscharf aufgenommen. Mitte der Sechzigerjahre fuhr mich meine Mutter eine Stunde lang von dem Vorort, in dem wir wohnten, nach München-Schwabing. Im Studio von Margarete Hasting, bei der Jahre zuvor mein Vater als Schauspieler Unterricht im Tanzen genommen hatte, lernte ich es nun. Wenn wir zu Hause Musik machten oder hörten, tanzte ich dazu im Wohnzimmer. Ob jemand zusah oder nicht, war mir egal. Ich tanzte sogar allein zu den Märchenplatten, auf denen hauptsächlich gesprochen wurde. Tänzerische Bewegung war ein wichtiger und selbstverständlicher Teil meines Kinderalltags, und sie blieb es auch, als ich in die Grundschule kam und die langen Fahrten nach München nicht mehr möglich waren. Später traten andere Bewegungsformen in den Vordergrund, ohne dass ich die Lust am Tanzen und mein Bedürfnis danach verloren hätte. Schnell von jeder Art von Bewegung begeistert, lernte ich Schwimmen, Eislaufen, Rollschuhlaufen, Reiten, Kunstturnen und Trampolinspringen. Erst als eine Ballettschule an unserem Ort eröffnete, fing ich erneut Feuer. Bis heute ist Tanz für mich existenziell wichtig obwohl ich nie ernsthaft erwogen habe, professionelle Tänzerin zu werden, habe ich mein Leben lang getanzt und tanze weiterhin. Ich habe

5 12 Vorwort verschiedene Richtungen und Stile gelernt (dabei auch begriffen, dass Tanzen nicht auf die jungen Jahre beschränkt ist, sondern sich mitentwickelt, verändert, den eigenen körperlichen Möglichkeiten anpasst). Ich habe Prüfungen absolviert, mich zur Pädagogin ausgebildet, unterrichte Tanz und Tanzgeschichte, schreibe über Tanz. Tanzen ist für mich ein Grundbedürfnis. Gleichzeitig halte ich den künstlerischen Tanz für eine der interessantesten Kunstformen unserer Zeit. Tanzen braucht für mich also keine besondere Begründung. Schön, dass es trotzdem so viele gute Gründe dafür gibt! Wie wichtig Bewegung für die menschliche Entwicklung ist, wird immer offensichtlicher. Ein bedeutender Teil aller Aktivitäten von Kindern ist motorisch, und mittlerweile ist auch unter Fachleuten die zentrale Bedeutung unumstritten, die Bewegung für nahezu die gesamte intellektuelle, emotionale, physische und soziale Entwicklung des Menschen hat. Ohne aktive Bewegung würden wir verkümmern! Aktive und eigenständige Bewegung stärkt die Kompetenz und die Koordination des Kindes, macht es selbstbewusster, kreativer und intelligenter. Es fördert seine Selbstorganisation und seine Fähigkeiten zum sozialen Miteinander. Gerade das Tanzen vereint diese Pluspunkte. Inzwischen ziehen auch die Schulen mehr und mehr nach und integrieren das Tanzen in ihre Lehrpläne. Ein tanzendes Kind steht auf einem Bein so sicher wie auf zwei Beinen, es kann sich in die Höhe schwingen und hat beide Füße fest auf den Boden bekommen.»jedes Kind ist ein Tänzer«, möchte ich das bekannte Zitat des Tanztheoretikers, Pädagogen und Choreographen Rudolf von Laban abwandeln, der 1920 in jedem Künstler den Tänzer sah. Tänzer war für ihn»in seinem unerkannten Grundwesen jeder Mensch«. Wie entdeckt man den Tänzer oder die Tänzerin im Kind? Was braucht es, um sich zu entfalten? Wie kann man es fördern?

6 Vorwort 13 Dieses Buch gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen, die Eltern zur tänzerischen Erziehung ihres Kindes stellen: Warum sollte mein Kind überhaupt tanzen? Braucht man zum Tanzen nicht eine ganz spezielle Begabung? Was unterscheidet das Tanzen vom Sport? Gibt es noch etwas anderes als Ballett? Ist Tanzen nicht nur etwas für Mädchen? Ist Tanzen eigentlich gesund? Wann sollte man mit dem Tanzen beginnen? Welche Kosten kommen auf die Eltern zu? Wie findet man eine gute Tanzschule? Warum, wann und auf welche Weise jedes Kind zum Tanzen ermuntert werden sollte darum geht es in diesem Buch. Es gibt Anregungen, wie man Tanz in den Familienalltag integrieren kann, und es bietet einen Leitfaden durch die verschiedenen Arten von künstlerischen Tanzstilen, die man hier zu Lande an Ballettschulen, in Tanzstudios, Sportvereinen und Akademien lernen kann. Freilich ist es auch ein Plädoyer für den Kreativen Kindertanz, den ich heute unterrichte. Die Hinweise und Ratschläge beruhen auf meinen langjährigen Erfahrungen als Lehrerin für klassischen Tanz, denen sich parallel zu meiner Tätigkeit als Redakteurin der Zeitschrift tanzjournal eine Fortbildung für Kreativen Kindertanz und Tanz für Jugendliche bei Leanore Ickstatt an der Tanz Tangente in Berlin angeschlossen hat. Eingeflossen sind auch meine praktischen Erfahrungen mit der Tanzausbildung, wie ich sie selbst»am eigenen Körper«erlebt habe und sowohl mit dem Tanzunterricht meiner Tochter als auch mit meinen Schülerinnen und Schülern mache. Jedes Kind ist ein Tänzer Ihnen und Ihrem Kind dieses Erlebnis zu ermöglichen, dazu soll dieses Buch ermuntern. Katja Schneider